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Zwanzigstes Kapitel
Spätes Glück

Leg deine Hand auf meine Locken
Und nimm mich an dein Herz ganz stille,
Bis ich mein Glück erfassen lerne
Mit seinem Glanz und seiner Fülle!
Wenn dann mein Auge nichts mehr blendet,
Laß mich ins Angesicht dir schauen
Und meinen heilgen Eid dir leisten:
Ich will dich lieben, dir vertrauen.

 

Es war um die Zeit der Veilchenblüte. Vor der Tür des Waldhauses saß die greise Edelfrau in der Sonne, ihr zu Füßen auf einem Bänkchen die junge Marie Antoinette, frisch gepflückte Frühlingsblumen zum Strauße ordnend. Ab und zu schweiften die goldbraunen Augen sehnsüchtig in die Weite, als müsse einer den grünen Waldweg heraufkommen, den sie so oft zu zweien gewandert. Aber es kam keiner, nur die Vögel zwitscherten ihr Lied in den Tannen, und ein Häher strich durch den knospenden Forst, sonst war alles still. Sinnend weilte das Auge der alten Frau auf den lieblichen Zügen des jungen Mädchens, und in ihrer Seele erwachte die Erinnerung an die eigene erste Liebe. Die Veilchen blühten, die Welt stand in Duft und Wonnen wie heute – ein Lächeln ging über das stille Frauenantlitz, das in seinem ehrwürdigen Alter so schön geblieben, aber sie sagte nichts; in ihrem langen Leben hatte sie die Erfahrung gemacht, daß es besser ist, über dergleichen zarte Affären zu schweigen.

Da knarrte die Gartenpforte, das Mädchen sah empor. Céciles schlanke Gestalt kam langsam den schmalen Pfad zwischen den Kokosrabatten entlang, in die Lektüre eines Briefes vertieft; an ihrem Arme hing ein reizendes Geschöpf von kaum vierzehn Jahren, eine zarte, halberschlossene Mädchenknospe von seltener, südlicher Schönheit, das war Adrienne, Aimées Jüngste, deren liebliches Gesicht Adalbert de Saint Hilaire eine geeignete Studie für jene gefeierte Künstlerin Madame Lebrun. genannt, deren Pinsel die unglückliche Königin in ihrer Glanzperiode gemalt. Zutraulich schmiegte die kleine Beauté ihr von dunkler Lockenfülle umgebenes Köpfchen an die Schulter der geliebten Tante, während sie mit dem großen Florentiner zur Ahne hinüberwinkte, daß die rosenroten Bänder im Frühlingswind flatterten.

Jetzt blickte auch Cécile auf.

»Ein Brief von Edgeworth!« rief sie fröhlich der alten Dame entgegen. »Er will Ihrer gütigen Invitation Folge leisten, Ahne – wie ich mich freue! Ich hätte mir nichts Schöneres wünschen können! Edgeworth kommt von Brüssel, wo er Fersen aufsuchte,« setzte sie zögernd hinzu, und eine dunkle Blutwelle bedeckte plötzlich ihr schönes Antlitz.

Frau von Schülers kluges Auge ruhte mit einem langen Blick auf ihrem Liebling, sie hatte Cécile nie in solch zitternder Erregung gesehen, der Brief des Abtes mußte ihr noch andere Botschaft gebracht haben.

»Hat Edgeworth Sérévan gesehen?« fragte sie.

»Ja – bei Fersen, und er scheint ihn auch aufgesucht zu haben – der Vater läßt euch grüßen, Kinder,« wandte sie sich dann hastig an ihre beiden Nichten – und fort war sie.

»Was hat denn die Botenfrau aus Halberstadt gebracht, Adrienne?« fragte Frau von Schüler.

»Antwort von Jungfer Gleim,« erwiderte die Kleine. »Sie küßt Ihnen die Hand, Ahne, und wird mit großem Pläsier Ihrer aimablen Aufforderung, uns zu besuchen, Folge leisten. Morgen kommt sie auf drei Tage. Vater Gleim läßt sich entschuldigen, er traute es sich nicht mehr zu. Gleim war in den letzten Jahren fast erblindet. Er hat Besuch während ihrer Abwesenheit, und die alte Magd pflegt ihn ja wie ein kleines Kind. O, wie freue ich mich auf die süße Gléminde!« So hieß Sophie Dorothea Gleim bei den Freunden des Dichters.

Sie flog wie ein Schmetterling um die alte Dame herum und küßte sie stürmisch.

»Drück mich nicht tot, ma petite!«

Da lösten sich die weichen Arme, und Adrienne legte den Lockenkopf in Frau von Schülers Schoß.

»Geh jetzt hinein, Adrienne, und bestelle der Tante Cécile, Abt Edgeworth solle die Hilaireschen Zimmer bewohnen, und für die »süße Gléminde« möchte sie die Emigrantenstube herrichten lasten,« sagte diese nach kurzem Schweigen.

Mit einem Ruck war das junge Mädchen auf den Füßen, dem freundlichen Befehl Folge zu leisten. Aber sie hatte noch etwas auf dem Herzen.

»Darf Gléminde nicht in der Vergißmeinnichtstube logieren?« bat sie schmeichelnd, zwei Grübchen in den Wangen.

»Warum denn, mon enfant?«

»Weil ich nicht möchte, daß sie emigriert!« lachte sie.

Die alte Dame drohte dem Schelm mit der Stricknadel.

»Es ist ja nur wegen der herrlichen Aussicht, die Gléminde im Vergißmeinnichtzimmer bewundert hat,« unterbrach Marie Antoinette das Gespräch, »Adrienne will ihrer Angebeteten natürlich das Schönste zuwenden!«

»Angebeteten! quelle bétise!« schalt die Kleine aufgebracht mit hochroten Wangen.

»Ruhe!« gebot Frau von Schüler. »Die Jungfer Gleim soll die Vergißmeinnichtstube bewohnen!« und mit lachenden Augen hüpfte der Sonnenschein ihres stillen Hauses die Stufen hinan. – – – –

Der fröhliche Kreis im Waldhaus war seit Monaten sehr zusammengeschmolzen. Bald nach Gérard Sérévans rascher Abreise hatten die beiden jungen Herren ihre Bündel geschnürt, Hertzberg, den die Folgen seiner Verwundung für den Kriegsdienst dauernd unbrauchbar gemacht, war auf seine Güter zurückgekehrt, wo eine treue Mutter den geliebten Sohn erwartete. Keine Menschenseele wußte es, ob er der jungen Marie Antoinette, als er ihr beim Abschied die Kinderhände geküßt, ein Wörtlein zugeflüstert, das nur für sie bestimmt war, aber fast alle Bewohner des Waldhauses glaubten es – das Mägdlein hätte dem Scheidenden sonst nicht so hellen Auges die letzten Grüße zugewinkt. Auch hatte Wolfs Hertzberg der Ahne bestimmt versprochen, wiederzukommen, und bei diesem Versprechen waren seine Augen zu dem schlanken Mädchen hinübergewandert, das stickend am Fenster saß. Die kluge alte Frau ahnte den Grund der Verzögerung seiner Werbung. Sie kannte die Gräfin Hertzberg als eine Frau, die alles Fremdländische verachtete, und die Absicht ihres Sohnes, ihr eine französische Emigrantin ins Haus zu führen, sicherlich entrüstet von sich weisen würde. Sie war eine kernfeste, deutsche Frau von fast männlicher Geradheit, die ihre Gutsleute in strenger Zucht hielt und selber in derben Schmierstiefeln Hof und Feld inspizierte. Den Sohn verstand sie nicht immer, der vornehme Kavalierssinn der Landstände war ihr bisweilen zu vornehm, obgleich sie selbst stets als Edelfrau dachte und handelte; jedoch alle Äußerlichkeiten verstand sie nicht und mißachtete sie daher. Im Grunde ihres Herzens dachte sie so feudal, wie man es nur wünschen konnte, aber die höfische Form und Etikette hatte das Landkind in seinem fünfzigjährigen Leben nicht verstehen gelernt, soviel der ritterliche Gemahl sich auch gemüht, seiner sonst so klugen Frau eine andere Auffassung über den »äußeren Kitt der Souveränität«, wie er das Zeremoniell benannte, beizubringen. Frau Sibylle blieb bei ihrer Meinung, der Firlefanz habe mit ihrer Königstreue nichts gemein.

Als nun der Sohn sein Herz an jenes vornehme Mädchen verlor, das nur französische Sitten und Bräuche kannte, dachte er oft mit Sorge der ersten Begegnung der Braut mit seiner Mutter. Es war ja nicht nur die Verschiedenheit der Rassen, es waren die Charaktere, die sich nach der Meinung des jungen Kavaliers nie verstehen würden. Und dieser Gedanke ward ihm schwer, denn er liebte die Mutter. Aus Rücksicht für sie wollte er ohne den Brautring am Finger heimkehren und sie langsam mit seinen Plänen vertraut zu machen suchen – schwer würde es halten, das wußte er.

Am Abend vor seiner frühen Abreise rief ihn Frau von Schüler noch einmal in ihr Gemach und überreichte ihm ein reizendes Porträt Marie Antoinettes, welches Blanche von ihrer Nichte gemalt. Er blickte lange in die braunen Augen, dann ließ er sich auf ein Knie vor der greisen Edelfrau nieder und küßte wieder und wieder die welken Hände.

»Sagen Sie Ihrer Frau Mutter, die Ahne aus dem Waldhause habe gesagt, das Emigrantenkind sei ein Weib für ihren Sohn! Sagen Sie ihr das, sie hält etwas von der alten Freundin!« Damit war er entlassen.

Mit leuchtendem Blick hatte er ihr gedankt, und dann war er gegangen.

Henning Itzenplitz, der neunzehnjährige lebenslustige Ritter der kleinen Adrienne, der trotz der Prophezeiung des Oberstabsarztes zu seinem Regiment zurückkehrte, hatte mit ihm zusammen das Waldhaus verlassen. Als sich ihre Wege in Halberstabt schieden, wandte er sich an den Freund: »Hertzberg, du wirst nach Blankenburg zurückkehren, früher oder später, wann und ob ich aber wiederkomme, ist ungewiß. Breite die Hand über mein Glück und bewahr mir's, und bleib ich im Feld, so sage ihr, wie heiß ich sie geliebt habe – willst du?«

Da gab ihm der treue Kamerad mit seinem Handschlag das Versprechen, seine Bitte zu erfüllen. – –

So war's stiller und stiller geworden in den hellen Räumen der Ahne. Ein liebes Gesicht verschwand nach dem anderen aus der fröhlichen Tafelrunde, und als der Winter kam, war die Zahl der Waldhausbewohner bis auf vier zusammengeschmolzen. Adalbert zog mit seiner Familie nach Koblenz, im entscheidenden Moment rasch die nötigen Schritte zu tun, um seine eingezogenen Landgüter wiederzuerlangen. Sein und Gérards Barvermögen war glücklicherweise zu Beginn der französischen Wirren sichergestellt worden. Als er Blanche zum zweitenmal nach dem Harz brachte, halten sich die Schwäger veranlaßt gesehen, ihr Vermögen jenseits der Grenze in Sicherheit zu bringen. Dank dieser Vorsicht allein sahen sie und die Ihrigen sich jetzt nicht wie so viele ihrer Genossen vis-à-vis de rien, auf das Almosen mitleidiger Menschen angewiesen, sondern standen, wenn auch mit bescheideneren Mitteln als früher, auf eigenen Füßen.

Aber der Abschied von der liebgewordenen Stätte ward ihnen schwer, und die Zurückbleibenden empfanden die Einsamkeit auf das schmerzlichste, besonders die beiden jungen Mädchen. Cécile war es ganz recht, in dieser Zeit öfter allein zu sein, und das Leben der alten Frau ward immer vollauf ausgefüllt; trotzdem blieb die Lücke, und sie alle sagten sich, die hellen Stunden würden so wie damals nicht wiederkehren.

*

Der nächste Tag brachte den langersehnten Halberstädter Gast, die Jungfer Gleim. Es war noch immer jene anmutige Erscheinung mit den geistvollen Augen und dem frischen elastischen Wesen. Nur wer sie kannte, sah die Spuren der Zeit in dem feinen Gesicht, die Linien, die Kampf und Leid hineingegraben, aber nach der klaren Stirn und dem hellen, ruhigen Blick zu urteilen, hatte Sophie Dorothea Gleim gesiegt.

Unter einem blühenden Fliederstrauch saß sie im traulichen Kreise der Waldhausbewohnerinnen. Von klein auf war ihr das sonnige Plätzchen bekannt, wie oft hatte der Dichtervater sie mit nach Blankenburg genommen, wie oft hatten sie an die Tür der jungen, früh verwitweten Frau geklopft, die den verehrten Freund und sein Hausmütterchen stets mit offenen Armen empfing. Nun kam Sophie Dorothea schon seit langer Zeit allein, wie eilte das Leben dahin mit seinem Wechsel der Zeiten! Neben ihr saß Cécile. Die beiden hatten sich eng aneinandergeschlossen, und Sophie Dorothea dankte vieles, das sie besaß, der innerlich gereifteren Freundin. Sie vergaß das nie und lernte immer weiter von ihr, die ihrer bescheidenen Meinung nach so hoch über ihr stand. Eben hatte Cécile ihr von dem bevorstehenden Besuch des Abtes von Firmont erzählt; er war auf seiner Harzreise in Halberstadt gewesen und hatte Gleim aufgesucht. Sophie Dorothea aber hatte seine sympathische Erscheinung nicht vergessen und freute sich, den Mann, der soviel erlebt, wiederzusehen.

»Gléminde,« flüsterte Adrienne, nachdem der Kaffee abgetragen war, »wie wär's mit einer kleinen Promenade durch den Wald?«

Die Ahne drohte dem losen Kinde; der Schelm wußte es ganz genau, daß er die ehrsame Jungfer Gleim nicht bei diesem Namen rufen sollte und verbarg, die schwarzen Augen niederschlagend, das Lockenköpfchen an der Schulter des Gastes.

Sophie Dorothea aber sagte lächelnd: »Lassen Sie ihr das bescheidene Pläsier, gnädige Frau! Ich habe es gern, wenn man mich Gléminde heißt; erinnert mich doch der Name an Jugend und Glück!«

»Nun sieh einmal, Adrienne,« wandte sich Frau von Schüler an die kleine Französin, »das hat dein Plappermäulchen gar nicht verdient! Also, du darfst fortan Gléminde sagen, aber nur, wenn du die Jungfer Gleim anredest,« fügte sie, den Finger hebend, ernst hinzu, »niemals, wenn du zu anderen von ihr sprichst, mon enfant!«

Adrienne nickte befangen, dann wandte sie sich an Sophie Dorothea: »Es ist jetzt entzückend in den Tannen, Gléminde!«

Aber diese wollte, obgleich sie selbst gar zu gern den lang entbehrten Waldspaziergang gemacht hätte, nicht zum Aufbruch blasen. Sie nickte ihrem Liebling freundlich zu und sagte halblaut: »Später, peut-être!«

Da kam Cécile den beiden zu Hilfe.

»Adrienne hat recht,« sagte sie, »wenn wir gehen wollen, so ist jetzt der passende Moment. Vielleicht beurlaubt die Ahne uns jetzt ein Weilchen?«

Sie blickte fragend zu der alten Dame hinüber.

»Gewiß, mein Herz,« klang die Antwort, »genießt den Frühling, so lange er da ist! Ich bleibe noch eine Weile hier sitzen, wenn ihr zurückkommt, hoffe ich auf ein wenig Musik! Du hast so lange nicht gesungen, Cécile!«

Die Angeredete nickte ihr lächelnd zu, während sie den breitrandigen Florentiner an den Arm hängte. »Wir bleiben nicht lange fort,« sagte sie, dann setzte sich der kleine Zug in Bewegung. Adrienne hüpfte wie ein ausgelassenes Füllen um ihre geliebte Gléminde und gab ihr die schönsten Kosenamen, Cécile und Marie Antoinette folgten den beiden. Sinnend blickte die alte Frau den hellen Gestalten nach, bis sie unter den Waldbäumen verschwunden waren. Wenige Minuten saß sie noch unter dem Fliederbusch, dann ward es kühler, fröstelnd hüllte sie sich in die Mantille und erhob sich.

Langsam stieg sie die steinernen Stufen hinan. Über die Berge strahlte das helle Gold der Nachmittagssonne, und die zitternden Lichter glänzten auf dem schneeweißen Scheitel der Matrone, die ungebeugt, mit elastischem Schritt das Haus betrat, das ihr seit mehr als fünfzig Jahren eine schöne, friedliche Heimstätte gewesen.

*

Der Tag ging leuchtend zur Neige, als Cécile Frau von Schülers Gemach betrat. Auf der Schwelle blieb sie stehen, ein heller Freudenruf entfuhr ihren Lippen, die hohe Gestalt eines Mannes im römischen Priesterkleide erhob sich bei ihrem Eintritt und eilte mit ausgestreckten Händen auf sie zu. Es war Edgeworth.

Eine Sekunde lang sahen sie sich schweigend ins Auge, ruhig hielt Cécile den klaren, forschenden Blick des Freundes aus; als wollte er auf dem Grund ihrer Seele lesen, schaute er sie an, ob die Saat, die er einst gestreut, Frucht gezeitigt. Und die hellen braunen Augen leuchteten ihm stille, fröhliche Antwort – Abt Edgeworth wußte genug, leise drückte er die Mädchenhand; und als sie dann neben ihm saß und ihn nach tausend Dingen fragte, strich er mit der Hand über die Stirn und seufzte.

»Ein Wiedersehen in den deutschen Bergen, wie oft haben wir's einst geplant!« sagte er. »Lägen die Schatten der Vergangenheit nicht darüber, es wäre eine ungetrübte Freude, aber wieviel Wehmut mischt sich in dies Glück, wieviel unauslöschlicher Gram folgt jeder Erinnerung! Unsere geliebte Königin hat ihr Leben auf dem Schafott ausgehaucht, Madame Elisabeth und Prinzessin Marie Thérèse fristen ihr elendes Dasein in strengster Haft im Temple, und das Kind von Frankreich siecht unter den Mißhandlungen des nichtswürdigen Simon dahin. So standen die Dinge, als ich ging,« schloß er traurig, »hätte ich Madame Elisabeth irgend etwas sein können, ich wäre geblieben, aber wer erlangt Zutritt zu dem Temple? – So habe ich dann Paris den Rücken gewandt – durch tausend Gefahren gelangte ich zur Grenze – Gott segne das Land, das uns Flüchtlinge aufnimmt!«

Sophie Dorothea Gleim trat mit den Sérévanschen Töchtern herein, freudig überrascht, den Erwarteten schon vorzufinden. Als Marie Antoinette Edgeworth die Hand reichte, hob er das liebliche Gesicht des Mädchens empor und blickte in die goldbraunen Augen. Die hellen Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Ich war dabei, als ihre Mutter den letzten Seufzer tat,« wandte er sich mit bewegter Stimme an Frau von Schüler. »Wie sehr ihr die Tochter gleicht, weiß der am besten, der nach langer Zeit in dem Kinde ihr Bild wiederfindet. Ist mir's doch, als schauten mich jene lichten Augen noch einmal an – o – die Erinnerung!« und wieder legte er die Hand über die Augen, als wollte er die Gedanken an jene furchtbare Zeit zum Schweigen bringen. Dann raffte er sich auf und sagte in seiner alten, herzgewinnenden Weise zu Marie Antoinette: »Gott segne Sie, liebes Kind. Sehen Sie mich noch einmal an, im Andenken an Ihre Mutter!«

Sie sah ihn an mit den schönen, seelenvollen Augen, die ihn einst in Todesnot so flehend angeblickt; damals lag der Schmerz eines gequälten Weibes darin, das um seiner Liebsten willen Schmach und Elend erträgt und dem Tode die Brust bietet – heute war's das Leid eines Kindes, der Waise, welche die Mutterliebe entbehrt. Die hellen Tränen hingen an den langen Wimpern, während sie zu dem Manne aufschaute, der sie als kleines Mägdlein auf den Knien geschaukelt, dann neigte sie sich über seine Rechte und zog sie an die Lippen.

»Ich danke Ihnen, Hochwürden,« sagte sie leise, »Sie konnten mir nichts Lieberes sagen, als daß ich der Mutter gleiche!«

Ihre Stimme zitterte, sie wandte sich hastig ab und barg das Haupt an Céciles Schulter, welche sie sanft umschlang und mit ihr in das angrenzende Gemach ging. Edgeworth sah ihnen nach, und sein Auge weilte minutenlang auf der Gestalt der Jungfrau, welche das schluchzende Kind zu trösten suchte. Dunkel erglühend neigte sie das Haupt über die Weinende, tiefer Ernst lagerte auf ihrem Antlitz, mit jener klaren inneren Fröhlichkeit gepaart, die einem großen starken Gefühl entspringt. Von diesem Augenblick an wußte der Abt, was er wissen wollte; Cécile trat das Vermächtnis der Toten an – aber nicht als ein Erbteil, das ihr zufiel und von ihr angenommen ward, sondern als die Erfüllung all ihrer Sehnsucht, all ihrer Herzgedanken. Er hatte sie nie so hinreißend schön gesehen, als in diesem Augenblick – ganz Weib, in dem Bewußtsein, dem Kinde des Mannes, den sie liebte, die Mutter zu ersetzen.

Ein leiser Schatten lag sekundenlang auf der Stirn des Mannes im geistlichen Kleide, um ebenso schnell wieder zu verschwinden; was er längst geahnt, war ihm heute Gewißheit geworden. Und es war gut so. Er begehrte ja nichts weiter als ihr Glück, und für sich selbst Frieden und Stille – das Größte und Beste auf Erden. – – –

Die Abendmahlzeit war beendet; in dem weiten luftigen Gartensaal, der den fremden Gast mit seinem hellen Meublement und seinen duftigen Blumenkörben an den Wänden lebhaft an Klein-Trianons lichte, sommerliche Räume gemahnte, saß man um das flackernde Kaminfeuer.

Cécile hatte mit schönem Sopran einige Lieder vorgetragen: » O Richard, o mon roi, l'univers t'abandonne,« und das sehnsüchtige Liebeslied aus der Oper »Dido«, das Marie Antoinette einst dem Grafen Fersen zum Abschied gesungen: » Ah que je fus bien inspirée, quand ja vous reçois dans ma cour!«

Sie hatte geendet; in Gedanken versunken saß sie da, ihre Hände ruhten auf den Tasten.

»Wenn ich dies Lied höre, muß ich immer des Mannes gedenken, der sein Leben im Minnedienst der schönen unglücklichen Königin verzehrte,« sagte der Abt. »Ich bin nie einem so tadellosen Kavalier begegnet, wie Fersen, einem Kavalier, der zu einer Zeit, da ihm die königliche Frau ihre ganze Seele öffnete, so makellos aus einer der größten Versuchungen hervorging. Er hat nicht nur als Edelmann, sondern als Christ gehandelt, sein ganzes Leben legt ein leuchtendes Zeugnis für ihn ab, und seine tiefe, wunschlose Treue möchte ich den schönsten Stein in der Krone heißen, die Gott ihm bewahren möge!«

Er schwieg. Cécile hatte sich erhoben und trat zu den übrigen an den Kamin. Da fiel ihr Blick auf Sophie Dorothea Gleim, deren feine Züge die Flamme hell beleuchtete. In ihren Augen schimmerten Tränen, in dem stillen Antlitz lag ein großer Schmerz, der Schmerz eines ganzen Lebens. Wie Schuppen fiel es Cécile von den Augen; was ihr stets rätselvoll erschienen, hatte ihr ein einziger Blick enthüllt. Seit dieser Stunde wußte sie, warum Sophie Dorothea Gleim einsam geblieben.

»Fersen ist völlig gebrochen seit dem Tode Marie Antoinettes,« fuhr Edgeworth fort, »und die Schwermut, die sein Gemüt mehr denn je beherrscht, nimmt nach meinem Dafürhalten einen sehr ernsten Charakter an. Sérévan und ich haben uns vergeblich bemüht, ihn zu einer kleinen Harzreise zu bewegen, all unsere Bitten waren umsonst, er sprach es offen aus, daß er ohne feste, geregelte Arbeit nicht leben könne, auch nicht ein paar stille Wachen in seinen geliebten Harzbergen, schon ein paar Tage seien ihm zu lang ohne rastlose Tätigkeit. Ich kann ihn verstehen. Er gehört zu den Charakteren, die sich nur auf diese Weise mit dem schlimmen Gast, dem Schmerz ihres Lebens, einzurichten wissen!« Er fuhr mit der Hand über die Stirn; der schwedische Edle war nicht der einzige, der bis aufs Blut um seine Manneskraft kämpfte.

Am anderen Tage reiste Sophie Dorothea Gleim nach Halberstadt zurück. Alle bedauerten, daß sie so bald Abschied nahm.

»Die Jungfer Gleim ist eine höchst aimable und gescheite Demoiselle,« äußerte Edgeworth gegen Cécile, »seltsam, daß sich kein Freiersmann gefunden!«

»Gefunden?« fragte sie lächelnd. »Glauben Sie wirklich, daß es der Abschaum ist, welcher in den Augen der Welt übrigbleibt, Hochwürden?« setzte sie dann übermütig hinzu. »Die Elite ist es!«

»Vor dem Urteil schöner Frauen streiche ich bedingungslos die Segel!« erwiderte er, sich ritterlich vor ihr verneigend; »aber gestatten Sie dem Freunde eine Frage. Ist die Elite unter allen Umständen unerreichbar?«

»Nein,« sagte sie, »nicht unter allen Umständen!«

»Und wenn der Mann, der Sie liebt, Sie heute durch mich fragen läßt, ob er kommen dürfe zur Zeit der Rosenblüte – was soll ich ihm antworten?«

Sie stand hoch aufgerichtet vor ihm, das schöne Antlitz war leichenblaß geworden, aber die dunklen Augen schauten ihn fest und klar an.

»Ich zähle nicht zur Elite unter den Frauen, Abt Edgeworth,« sagte sie ernst. »Als ich den Scherz wagte, der allerdings nach meinem Dafürhalten eine tiefe Wahrheit enthält, habe ich mich nicht unter die Schar jener edlen Erscheinungen gerechnet, welche die Schule des Lehens gereift und geadelt. Ich habe noch viel, unendlich viel zu lernen, und bin weit davon entfernt, fertig zu sein. Sagen Sie das dem Manne, der Sie zu mir sandte, aber sagen Sie ihm auch dies: Die Liebe hätte den Stolz überwunden – ich erwarte ihn, wenn die Rosen blühen!«

Wie heller Jubel klangen die letzten Worte aus dem sonst so verschwiegenen Munde, ihre ganze Gestalt bebte, in tiefer Erregung reichte sie dem treuen Freunde beide Hände. »Ich bin keine Aimée,« sagte sie leise, »aber was ich ihm gebe, das gebe ich ihm ganz!«

Er sah mit warmem Blick auf sie nieder. »Sie sind Sie selbst, Cécile, und der Mann, der Sie liebt, ist ein Sérévan, er weiß, was er begehrt!«

*

Wochen waren vergangen, heller, leuchtender Sommer war eingezogen mit südlichen Lüften und duftender Rosenfülle. Cécile war am frühen Morgen in den Wald gegangen, langsam stieg sie unter den stillen Tannen bergan, ihrem Lieblingsplätzchen zu, welches einen weiten Ausblick ins Tal bot.

Die Sonne stach. Hochaufatmend setzte sie sich auf die steinerne Bank. Zu ihren Füßen lag die liebliche Harzstadt, von blühenden Gärten umkränzt, ein Bild reichen Wachstums und frohen Gedeihens. Weiß und blendend zog sich die Fahrstraße durch grüne Wiesen, scharf und klar hob sich jeder Meilenstein vom Grunde ab. Und die Drosseln sangen, und die Finken zwitscherten im Grünen, wo der Südwind sein Spiel trieb, wo das junge Weib im Schatten der Harztannen saß und wartete. Sie war schon oft hier gewandert, ohne daß eine Menschenseele es ahnte, sie kannte ja den Weg so genau, den er kommen mußte – und wußte, er würde ihn kommen, vielleicht heute schon – die Zeit der Rosenblüte war da.

Stunden vergingen, wie lange sie so gesessen, sie wußte es nicht. Auf die weiße Straße hatte sie geblickt, bis sie die Blendung nicht mehr ertrug und die Glocke von Sankt Bartholomä sie zum Heimweg gemahnte.

Sie erhob sich. Noch einmal spähte sie ins Tal hinab. Da klang dicht unter ihr Hufschlag eines Rosses, mit angehaltenem Atem stand sie und lauschte, das Herz schlug ihr zum Zerspringen.

Näher und näher kam's, und da stand er vor ihr, auf den sie gewartet. Regungslos stand sie da, die Hände gegen die Brust gedrückt, und schaute ihn an, als könnte sie's nicht glauben, daß er es sei. Er aber schwang sich vom Rappen und trat auf sie zu.

»Komm ich zu früh?« fragte er mit seiner klangvollen Stimme, »die Rosen blühen!«

»Ja, die Rosen blühen,« hauchte sie verwirrt, zitternd vor Erregung, und senkte das Auge vor dem durchdringenden Blick, den er auf ihr ruhen ließ.

Eine Ewigkeit dünkte sie die Sekunde, die sie ihm gegenüberstand. Endlich brach er das Schweigen. »Cécile,« sagte er leise, »sagen Sie mir eines: wonach haben Sie ausgeschaut, Stunde um Stunde, was war's, das Sie hinausgetrieben in die Sonnenglut, Kind?«

Sie hob die strahlenden Augen zu ihm empor, schlang die Arme um seinen Hals und barg ihr stolzes Haupt erglühend an der Brust des Mannes, dem sie zu eigen gehören wollte lebenslang; aber kein Wort kam von ihren Lippen.

»War's der Stolz?« forschte er lächelnd.

Da richtete sie sich auf und sah ihm voll in die Augen, dann zog sie ihn zu sich nieder und küßte ihn: »Die große, große Liebe war's!«


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