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Sechzehntes Kapitel
Ein Frauenlos

Unsers armen Erdleins armseliger Gast,
Sag, was du vom Leben erwartet hast?
Heb auf den stillen, fragenden Blick.
Ja, Menschenkind, sag mir's – suchst du das Glück? –
Ich nicht – zu kurz ist die Spanne Zeit!
Ich such nur Gottes Barmherzigkeit!

 

Durch die mächtigen Bogenfenster des Kreuzganges im Dom zu Halberstadt fiel der letzte Strahl des scheidenden Tages. Linde Luft wehte herein, und die Veilchen dufteten an der Mauer. Vom Turme rief die Betglocke, ein Vöglein zirpte im Dornbusch sein Frühlingslied, das Lachen spielender Kinder klang zu den majestätischen Mauern herüber, wie vor hundert Jahren – sonst war es still im Kreuzgang, so still, daß man ein Mäuschen hätte vernehmen können.

Unter einem der Rundbogen saß eine Frauengestalt, in regloses Sinnen vertieft; von weitem hätte man glauben können, sie stelle ein aus Marmor gemeißeltes Bild vergangener Tage dar, wenn das stille, träumende Weib nicht die Tracht seiner Zeit getragen hätte. Über dem grünen Gewande lag das weiße Brusttuch, ein schwarzes, um den Kopf gebundenes Seidenfichü hielt eine Fülle goldener Locken zusammen und verbarg das zarte Gesicht fremden Blicken. Es war, als träume sie von vergangener Zeit, als lausche sie wie einst dem Rauschen des Waldes, dem Klang geliebter Stimmen, so weltentrückt und traumverloren war ihr Antlitz, so marmorn in feiner Ruhe, als wäre ihr Leben bis zum letzten Atemzuge unwiderruflich Entsagung, als trauere sie um einen Toten. Sie war nicht mehr »ein Mägdlein jung an Jahren«, die Dreißig waren überschritten, wenn auch noch nicht lange – herbe, fast unnahbare Frauenschönheit war ihr eigen, fast zu herb für Vater Gleims liebliche Nichte, für die Nymphe, welcher es oblag, die Gäste des Musentempels zu speisen und zu tränken.

Schritte nahten, sie wandte sich um, und in der Bewegung schien sich die Starre zu lösen, der Bann, den die Vergangenheit über sie verhängt, wich, das Antlitz ward weich und rund wie einst, da Sophie Dorothea Gleim Herrn Bolemanny und den jungen schwedischen Kavalier vom Staub der Landstraße befreite. Sie hatte eben an diese Zeit, diese Szene gedacht, wie so oft schon, und ihr hübsches, kluges Gesicht war wieder jung geworden, nur die kleine energische Hand, die sie, sich erhebend, auf einen Stein stützte, zeugte in diesem Augenblick vom Wechsel der Zeiten, klar und deutlich standen Schmerz und Kampf darin verzeichnet und ein fester, ernster Wille. Sie blickte bei den näherkommenden Schritten in des Kreuzgangs Dunkel, war's doch eine Seltenheit, daß zu so später Stunde ein Fremder den Dom besuchte. Die Gestalt eines Mannes trat aus dem Dämmer des Gotteshauses, und je näher sie kam, desto seltsamer ward ihr ums Herz. Mit starren Augen blickte sie den Kommenden an – er war's ja, bei dem ihre Gedanken eben geweilt, bei dem sie immer weilten, vom erwachenden Morgenrot bis in die schlaflose, mitternächtige Stunde – Jean Axel, der Traum und die Liebe ihrer Jugend.

Sie wollte ihm entgegeneilen, aber ihre Füße schienen am Boden angewurzelt, scheu und langsam hob sie nur den Arm empor, ein unbestimmtes Gefühl, übersehen zu werden, gemahnte sie, ein Lebenszeichen von sich zu geben.

Der Mann im schwedischen Reitermantel blickte empor und trat näher. Ein Ausdruck raschen Erkennens flog über sein vornehmes Antlitz und, dem Mädchen beide Hände entgegenstreckend, rief er fröhlich: »Ist's möglich, Jungfer Gleim? Sie sind die erste, die den Wanderer grüßt! Ist der Dichtervater wohlauf?«

Sie errötete unter seinem warmen Händedruck wie einst, da er die Freundschaftsgöttin gebeten, ihm bei der Toilette behilflich zu sein, ihm aber war das kleine Intermezzo, das sich mit der Erinnerung an jene Stunde verband, sogleich wieder eingefallen, seine Mundwinkel zuckten vor Lustigkeit, dann lachte er plötzlich hellauf und ließ ihr kaum Zeit, seine Frage zu beantworten.

»Jungfer Gleim, erinnern Sie sich der Fee, die den armen Reisenden vom Staub befreite?«

Sie nickte lächelnd, und dann verließen sie Seite an Seite den Dom.

Draußen in der Halle überflog sein Blick noch einmal die schlanke Gestalt. »Jungfer Gleim, Sie haben sich verändert,« sagte er.

»Sollte ich das Kind mit den roten Stöckelschuhen bleiben, Herr Graf?« fragte sie fast vorwurfsvoll, »es sind siebzehn Jahre vergangen, seit Sie bei uns waren!«

Siebzehn Jahre! Er sah noch einmal zu ihr hinüber und erkannte beim schärferen Hinblicken die feinen Fältchen, den ernsten Ausdruck um den feinen Mund – und doch war dies Antlitz noch schön in seiner Reife und Klarheit. Aber es war nicht mehr die Sophie Dorothea Gleim von damals, es war ein Weib, das geliebt und gelitten und dann vielleicht still geworden, oder auch nicht? er schaute zum drittenmal hinüber, aber nur flüchtig – was fiel ihm denn ein? – –

»Reisen Sie nach Paris?« fragte das Mädchen.

»Ja,« entgegnete er, »ich bin auf der Durchreise. Der Dienst in der französischen Armee ist der Grund meiner Rückkehr nach Welschland,« fügte er scherzend hinzu. »Glauben Sie mir, Jungfer Gleim, es ist keine Kleinigkeit, zwei Herren zu dienen! Heute trag ich den Rock der schwedischen Reiter, morgen steh ich im Dienst des sechzehnten Ludwig! Graf Fersen war durch seine Engagements in der schwedischen und französischen Armee genötigt, seine Zeit zwischen den beiden Ländern zu teilen. Als er im Jahre 1787 in seine französische Garnison ging, reiste er über Paris, wo er einen Tag blieb, um dem König Briefe Gustavs des Dritten zu überbringen. Man wird herumgeworfen im Leben!«

Sie waren beim Dichtervater angelangt. Mit offenen Armen ward Fersen empfangen, fast wie ein Kind, das, weit gewandert, die heimische Scholle grüßt. Sophie Dorothea stand befangen dabei, das Ganze dünkte sie ein Traum, und es war ihr so wirr ums Herz, daß sie sich nicht zu sagen wußte – war's ein böser oder guter?

Dann setzten sie sich zum heiteren Mahle. Fersen mußte vom Hundertsten ins Tausendste berichten, und er tat es in liebenswürdigster Weise. War's doch keine Kleinigkeit, den wißbegierigen Domsekretär zu befriedigen. Jedes historische Winkelchen, jeden Erker und Chor wollte er genau beschrieben, den Charakter und die Eigenart jeder fremden Gegend und ihrer Bewohner vorgeführt haben, und es war des Erzählers Glück, daß er selbst mit so brennendem Interesse gereist war und die kleinste Erinnerung in seinem Gedächtnis haftete. Als die Natur- und Kunstbeschreibungen ihr Ende erreicht hatten, wollte Gleim ein Gespräch über Politik beginnen, aber Sophie Dorothea unterbrach den Oheim: »Erst muß mir Graf Fersen von der Königin Marie Antoinette erzählen,« sagte sie, sich lebhaft an den Gast wendend; »sagen Sie mir, ist sie wirklich so schön und – so leichtsinnig?«

Ein tiefer Schatten glitt über das Antlitz des Grafen – sie blickte erschrocken zu ihm hin, wie eine Offenbarung überkam es sie, daß sie das Geheimnis und die Wunde seines Herzens berührt. Was sie, ohne es sich einzugestehen, geahnt, bestätigte ihr dieser kurze Blick voll Trauer und Schwermut: der Mann ihr gegenüber liebte die Königin von Frankreich.

Wie eine Eisrinde legte es sich ihr ums Herz, der letzte Hoffnungsfunken, der neu entfacht durch das Wiedersehen mit dem Heißgeliebten in ihrer Seele glühte, war erloschen, sie sah ihr einsames Leben vor sich, wie es äußerlich still dahinfloß in dem alten Hause hinter dem Dom – äußerlich still, innerlich voll Kampf bis zu dem Augenblick, wo es stille ward – wann, ja wann? – –

Mit Blitzesschnelle jagten ihr diese Gedanken durch den Kopf. Sie sah sich als alterndes Mädchen – aber das war's nicht, was ihr wie ein Hemmnis ihrer Sorglosigkeit und Fröhlichkeit im Wege lag, sie hatte allezeit ehrlichen Herzens die durch ihren Altjungfernstand Vergrämten und Verärgerten verlacht, sie war zu groß veranlagt und besaß zu sehr ihr eigenes, freies Selbst, um nicht überall das Glück zu finden – was ihr in dieser Stunde das Herz brechen wollte, war ein anderes: die Gewißheit, daß der eine, den sie in ihrem Leben geliebt, ihre Liebe verschmähte, daß er nie nach ihr gefragt. Sie war jung gewesen – das war nun vorüber. Sie schauerte innerlich zusammen vor dem einen Wort, es war ihr, als läge noch des Winters weißes Bahrtuch über der Welt, als sollte es ewig liegenbleiben, der Lenz war ja vorüber.

»Die Königin Marie Antoinette ist die schönste und liebenswürdigste Fürstin, die ich je gesehen,« hatte Graf Fersen erwidert. »Ihre letzte Frage fühle ich mich verpflichtet, dahin zu beantworten,« setzte er dann hinzu, »daß ihr viele ungerechte und unwahre Vorwürfe gemacht werden. Sorglos und fröhlich kam sie, kaum fünfzehnjährig, nach Versailles – daß dieser Hof nicht die Stätte war, ein Kind zum Weibe zu reifen und zur Landesmutter eines sittlich entnervten Volkes zu erziehen, werden Sie verstehen, Jungfer Gleim! Marie Antoinette ist die Krone von Frankreich zu schwer – ich gebe es zu – sie mag gefehlt haben, aber aus Schwachheit, jedenfalls sind die tausend Anschuldigungen schamlose Lüge, verräterische Intrigen und Verleumdungen!«

Er hatte den Griff seines Kavalierdegens umfaßt, seine Wangen färbten sich höher, seine Augen leuchteten – bewundernd und doch die tiefste Trauer in der Seele blickte das Mädchen zu dem Verehrer der schönen Königin auf. Es war ihr fast eine Genugtuung, daß es die Frau im Diadem war, deren Bild in seiner Seele lebte, daß nicht irgendeine Edelmaid von Nord oder Süd der armen Jungfer Gleim den Platz in seinem Herzen streitig gemacht; es hätte sie verbittert – vor dem Weib ohnegleichen streckte sie still die Waffen.

»Sie scheinen eine unbegrenzte Verehrung für die Königin zu hegen,« sagte Vater Gleim, dem Fersens Begeisterung nicht entgangen war. »Ich erkenne es an, daß ein Kavalier es nicht duldet, daß man die Ehre einer Dame antastet, aber,« setzte er zögernd hinzu, »man wirft der österreichischen Kaisertochter doch manches vor, das den Ruf der schlichtesten Bürgerfrau in bedenklicher Weise gefährden würde, wieviel mehr die Majestät eines gekrönten Hauptes!«

»Ich trete für die Ehre der Königin von Frankreich ein,« entgegnete der junge Schwede, und der Ernst seiner Antwort schnitt alle weiteren Fragen ab.

Eine schwüle Pause entstand, aber Sophie Dorothea kürzte dieselbe gewandt, indem sie, sich erhebend und dem Oheim die Pfeife herantragend, sagte: »Sagen Sie mir, Herr Graf, kennen Sie in Paris eine junge Dame, eine Demoiselle de Sérévan? Sie war vor einigen Jahren zur Erholung bei einer uns befreundeten Familie in Blankenburg, und wir machten durch diese ihre Bekanntschaft. Es war ein liebliches Geschöpf, aber sie trug schwer unter der Trennung von ihrem Verlobten, und die Sehnsucht nach ihrem geliebten Paris ließ ihr keine Ruhe.«

»Gewiß kenne ich die Dame, ich bin viel im Hause ihrer Mutter gewesen, und der jetzige Gemahl der kleinen Blanche, der Marquis de Saint Hilaire, ist einer meiner liebsten Freunde in Paris,« erwiderte Fersen.

»So, ist sie ganz gesund?« forschte sie, »das freut mich von Herzen.«

»Ganz gesund und, soviel ich weiß, glückliche Mutter. Ihr Gatte schützt sie aber vor der kleinsten Aufregung, wie man ein zartes Kind vor Angst und Schrecken bewahrt. Möchten die Verhältnisse nicht stärker werden als seine Liebe und Fürsorge,« setzte er, wie zu sich selber redend, halblaut hinzu.

Aber Sophie Dorothea hatte seine Worte vernommen; fragend sah sie ihn an.

Einen Augenblick schien's, als wolle er ihr nicht antworten, dann sagte er mit veränderter Stimme: »In Frankreich wanken Thron und Altar, Jungfer Gleim; beten Sie mit mir zu Gott, daß er dies Land vor Entsetzlichem bewahren möge!«

Sie schwieg; sein Blick zwang sie dazu.

Der Dichtervater war über seinem Pfeifchen eingenickt, es war spät geworden. Und wie die beiden Menschenkinder einander so still gegenübersaßen, da meinte Fersen plötzlich, er müsse gehen, ein unbestimmtes, zwingendes Etwas trieb ihn aus dem traulichen Gemach, fort von der Seite des jungen, einsamen Weibes, dessen Leben Kampf und mutige Entsagung war – um seinetwillen.

Er erhob sich und sagte mit einem Blick auf den Schlafenden: »Ich komme morgen wieder und nehme Abschied. Wünschen Sie dem Oheim eine geruhsame Nacht! Nein, nein,« wehrte er ihr, »wecken Sie ihn nicht, der Mensch ist im Traum glücklicher als im Leben!«

Sie blickte in sein schwermütiges Antlitz, und die Träne stieg ihr brennend heiß ins Auge, aber sie bezwang sich und reichte ihm die Hand. »Ja,« sagte sie, »Sie haben recht – das Leben bleibt für manchen eine Frage, der Traum aber gibt uns auf vieles Antwort, und es ist oft eine glücklichere, als das Leben sie geben kann!«

»Aber des Lebens Antwort ist mir lieber,« antwortete er, »wenn sie auch hart ist!«

Sie sah ihn erstaunt an. »Warum?«

»Weil das Leben uns, wenn wir's recht verstehen, Gottes Antwort sagt,« entgegnete er ernst.

Ihr Ausdruck ward immer fragender. Sie glaubte an Gottes Führung und Gnadenrat im großen Ganzen, aber die Gewißheit seiner stündlichen Obhut in ihrem kleinen Alltagsleben besaß sie nicht.

»Gottes Antwort,« meinte sie sinnend. »Glauben Sie nicht, daß in dem engen Kreise unseres kleinen Lebens der Zufall sein Spiel treibt?«

Durchdringend blickten die ernsten Augen sie an.

»Für Christen gibt es keinen Zufall,« sprach er, und seine Worte klangen ihr wie die Botschaft eines Apostels.

»Niemals?« forschte sie weiter, fast ehrfürchtig in das edle Antlitz blickend.

»Für Christen? Nein!«

Fast noch fester und bestimmter klang seine Antwort; dann wandte er sich zum Gehen.

Sie geleitete ihn bis zur Haustür.

»Gute Nacht, Jungfer Gleim,« sagte er, ihr die Hand reichend, »auf Wiedersehen morgen früh, ehe das Posthorn klingt! – Überlegen Sie sich's einmal, ob es sich nicht besser ohne den Zufall lebt – ich denke, man ist glücklicher ohne ihn!« damit war er hinaus.

Sie stand noch lange unter dem Türbogen, wie einst als junges Mägdlein, und schaute dem Davonschreitenden nach. Dann wandte sie sich kurz ab und stieg langsam die Treppen hinan.

»Für Christen gibt es keinen Zufall!« sprach sie halblaut vor sich hin, »wüßt ich's doch gewiß, daß mein Leid kein Zufall ist, wie anders wäre mein Leben!«

Sie reckte sich in die Höhe, als stritte ihr ganzes Sein wider die Knechtschaft einer Macht, die dem Adel einer gottgeschaffenen Seele feind ist, einer Macht, der sie zu edelgeboren gegenüberstand, um sich ihrem unwürdigen Richtspruch zu beugen.

Langsam wanderte sie in das Wohngemach zurück, wo der Dichtervater den friedlichen Traum des Alters träumte. – – –

Am anderen Morgen kam an Stelle Graf Fersens ein Bote aus dem Gasthof mit einem Billett des schwedischen Edelmannes an den Domsekretär. Es war ein mit flüchtiger Hand geschriebener Abschiedsgruß. »Lieber Vater Gleim,« lautete die vertrauliche Anrede, »seien Sie dem Ausreißer nicht böse, ich schäme mich wie ein Pudel, die Zeit verschlafen zu haben, diese eiligen Zeilen müssen Ihnen und der Jungfer Nichte meine Abschiedsgrüße bringen, denn kommen kann ich nicht mehr, so tragisch ich den Vorfall auch nehme – die Post wartet nicht auf einen unbekannten schwedischen Reitersmann!

Leben Sie wohl! Wenn ich wieder deutschen Boden betrete, übers Jahr oder später, führt mein Gang in das alte Haus hinter dem Dom zu Halberstadt.

Jean Axel Fersen.«

 

»Der Graf ist fort, Dörthe,« rief der alte Mann seiner Nichte zu, als sie mit dem Morgenbrot das Gemach betrat, und erzählte ihr Jean Axels Mißgeschick.

Schweigend hörte sie ihm zu, während sie den Tisch deckte und das großgeblümte Kaffeegeschirr zurechtsetzte. Dann strich sie dem Oheim den Butterwecken und goß ihm den Kaffee ein. »Nun,« fragte er endlich, das Billett auf den Tisch legend und sie forschend anblickend, »du bist ja so stumm, ist dir's nicht leid – ich habe stets viel für den Fersen übrig gehabt!«

»Ich auch,« antwortete sie mit einem Versuch, zu lächeln, »apropos, ums Haar wäre es mir nicht besser gegangen als dem Grafen. Die Frühlingsluft wirkt so ermüdend, da ist's kein Wunder, wenn der Körper nachts sein Recht fordert und der Mensch die Zeit verschläft! Übrigens – guten Morgen, Oheim!« Sie umschlang den Hals des Dichtervaters und küßte ihn zärtlich, dann nahm sie hastig die Miniaturausgabe eines Veilchenstraußes vom Tablett und hielt sie ihm hin – »es sind die ersten!« – – – – – –

Unterdessen hatte der schwedische Kavalier mit den grauhaarigen Halberstädter Postgäulen schon ein anderes Weichbild erreicht. Er war vor der Hand der einzige Reisende in dem alten gelben Kutschkasten, und es war ihm nicht leid, denn als Alleinherrscher des kleinen Reiches stand ihm das Recht zu, alle Fenster aufzutun und Frühlingsluft und Sonnenschein zu genießen. Auf Berg und Halde lagen die letzten Schneestreifen, daneben schimmerte, wie ein Gruß neu erwachenden Lebens, die Wintersaat; in den grauen Ästen zwitscherten die Stare um den morschen, hölzernen Kasten, die trauliche Heimstätte vergangener Sommer, und trugen allerlei Mögliches und Unmögliches herbei, um das Nest auszuflicken.

Fersen saß gedankenvoll in einem Winkel und suchte sich den schwankenden Bewegungen seines Gefährts möglichst anzupassen.

Es war ihm mehr als leid, daß er die Zeit verschlafen hatte. Vor seinem geistigen Auge stand Sophie Dorothea in ihrer herben Jungfräulichkeit, ihrem klaren Verstand, ihrem Stolz, der den tiefsten Jammer ihres Frauenherzens verbarg. Aber er hatte ihn doch gefunden. Als sie ihn nach der schönen Königin gefragt, als sie seine Verteidigung der hohen Frau vernommen, sein kurzes, alles Weitere abschneidendes Wort, damit er für sie eintrat, da war's ihm nicht entgangen, wie sie bleich und still geworden war, und eine Ahnung stieg in ihm auf. Er war unschuldig an dem allen, gottlob – doch sie tat ihm leid, sie hätte etwas Besseres verdient als eine Enttäuschung.

Aber das war nicht alles, was ihn beschäftigte, Sophie Dorothea Gleim galt sein zweifaches Mitleid. Er hatte geglaubt, sie besäße mehr, innerlich mehr.

Diese Erwartung hatte sie getäuscht und ihm dadurch einen doppelten Schmerz bereitet. Er war einem Menschenkinde begegnet, das er schätzte und verehrte, und hatte die Entdeckung machen müssen, daß es trotz all seines Wissens ärmer, viel ärmer war als er selbst, daß es den Schatz nicht besaß, dessen Kraft alle Wunden heilt, auch die, ob auch unwissentlich, durch seine Hand geschlagene. Jean Axel vergaß in diesem Augenblick die Zeit, in der er lebte, vergaß, daß sein Elternhaus eine Stätte des Glaubens und Segens war, wie man sie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts sehr selten fand, eine Oase in der Wüste des Scheinchristentums jener Tage, eine Ausnahme unter Tausenden. Er hatte mehr erwartet – die Antwort der Jungfrau hatte ihn bitter enttäuscht: »Glauben Sie nicht, daß in dem engen Kreise unseres kleinen Lebens der Zufall sein Spiel treibt?«

Wenn dies das Bekenntnis solcher Menschen war, was bekannte dann die Masse? Er wußte es ja, hatte es zu oft gehört, von den Lippen schöner Frauen, aus dem Munde stolzer Kavaliere, in den Straßen, auf den Plätzen der Weltstädte.

»Im Anfang war das Nichts, aus dem Nichts ward das Leben, und das Leben kehrt in das Nichts zurück. Glück und Unglück, Liebe und Haß, Werden und Sterben sind nichts mehr, nur die Ruhe schwebt über dem Nichts und überdauert das Dunkel der Zeiten.«

Also hatte ein Spötter, die Majestät der Bibel in den Staub ziehend und sein frivoles Bekenntnis in der Sprache des Evangeliums ablegend, geredet, und als Fersen ihm unter Androhung einer Forderung verboten, das Heiligtum anderer anzutasten, feige den Saal verlassen. Ähnlich hatte er Tausende reden hören, Menschen, die den höchsten Kreisen angehörten – es war ja das Bekenntnis fast der ganzen zivilisierten Welt geworden, dies Bekenntnis des Umsturzes und Unglaubens.

Ihn schauderte. Warum konnten sich die Völker, die einzelnen Menschen nicht auf den einzigen festen Grund, den es im Leben und Sterben gab, stellen, warum dieser krasse Widerspruch, sobald der Name genannt ward, der allein die Quelle des Glückes ist? Und in seiner Seele klangen jene heiligen Worte wider, an deren gewaltiger Form selbst der Unglaube Gefallen gefunden und sein zersetzendes Bekenntnis vom Nichts danach gebildet:

»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbige war im Anfang bei Gott, alle Dinge sind durch dasselbige gemacht, und ohne dasselbige ist nichts gemacht, das gemacht ist. – In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.«

Sinnend schweifte sein Auge über das Blühen und Werden draußen, über die grüne, unendliche Weite, da die Erde ihr Auferstehungsfest feierte. Dann zog er das Pastellbild seiner Mutter hervor und versenkte sich lange und tief in den Anblick der reinen Züge.

»Gott sei Dank!« sagte er so laut, daß der Postillion verwundert durch das geöffnete Fenster auf den einsamen Gast blickte, und wieder und wieder zog's ihm durch den Sinn, wie gut er's doch gehabt.


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