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Achtes Kapitel
Todesschatten

Ein Rosenstöcklein welkte mir
Dereinst in jungen Jahren,
Da meint ich, niemand auf der Welt
Hab solch ein Leid erfahren!

Wie eilt die Zeit, wie wächst der Mensch,
Wie schwinden mir die Tage!
Der Kindheit hellste Lust verklingt
Wie eine Waldessage!

Und Kindes Leid und Kindes Glück
Sah ich wie Dunst vergehen – –
Es kam ein Tag wie Blut so rot –
Den Schmerz hab ich gesehen! – –

Und stumm und reglos sitz ich da,
Mein totes Glück im Arme,
Und warte, ob die Sonn aufgeht
Nach all dem bittren Harme!

 

Über dem Faubourg St. Germain lag der Zauber der Sommernacht. In den Rosenhecken schlugen die Nachtigallen, schmelzend klang ihr Ruf durch die stillen, mondbeschienenen Gärten. Springbrunnen plätscherten ihre sanften Melodien im Schatten der Lorbeeren und Myrten, wie ein Wiegenlied klang's durch die Laubengänge, wo die Zentifolie das königliche Haupt im Tau der Nacht neigte. Kein Windhauch regte die Blätter, schwül lag's über Paris, jeden Ton vernahm man. Aus fernen Vierteln klangen unbestimmte, wüste Laute herüber, ab und an fiel ein Schuß, dann war's wieder still, nur die Turmuhr von Nôtre Dame verkündete die schwindende Zeit.

Im Hotel Saint Hilaire, im Gemache des Hausherrn war noch Licht. Er war spät aus den Tuilerien heimgekehrt und saß mit seinem Schwiegersohn und dem Abt Edgeworth am Kamin, während Aimée den Tee bereitete. Adalbert trat mit Nachrichten von Blanche herein und bemerkte, daß Cécile nach seiner Berechnung spätestens am morgenden Tage in Paris eintreffen müsse. Er sah nervös und überwacht aus, tiefe Sorgenfalten lagerten auf seiner Stirn, vor einer Viertelstunde war er aus Saint Cloud zurückgekehrt, wohin sich die königliche Familie in Begleitung Lafayettes und seiner Adjutanten begeben hatte. Marie Antoinette sehnte sich nach Landluft und wünschte zugleich, sich und die Ihrigen für einige Zeit den Ausschreitungen des Pöbels zu entziehen. Der Aufenthalt sollte den Sommer über währen; aber jeden Sonntag, sowie bei festlichen Gelegenheiten sollte nach der Hauptstadt gefahren werden, denn die Pariser wollten ihr Königspaar sehen, und die Majestäten befanden es für gut, sich nach den Wünschen des Volkes zu richten.

Ob dieser Aufenthalt zu einer Unterbrechung, zu einem Ende der entsetzlichen Zeit führen würde, jeder hoffte, keiner aber glaubte und fast alle bezweifelten es, aber jeder Edeldenkende gönnte dem unglücklichen Herrscherpaar die kurze Zeit der Ruhe und Erfrischung.

Aimée hatte ihre Hausfrauenpflichten erfüllt und war an das offene Fenster getreten. Betäubend umwehte sie der Duft blütenschwerer Büsche und südlicher Gewächse. Sinnend blickte sie über die mondhellen Gärten, ihre Gedanken zogen weit fort, in ein stilles Haus jenseits des Rheins, wo zwei goldlockige Kinder von Vater und Mutter träumten. Die Tränen traten ihr ins Auge, sie legte die Hand über die Stirn. Da fühlte sie sich von starkem Arm umfaßt, mit den letzten Tränen kämpfend, lehnte sie das Haupt an die Brust ihres Mannes, mit strahlendem Lächeln zu ihm aufblickend.

Er küßte sie, und während sie ihm die zarten Lippen bot, drückte sie seine Hände fest an die Brust. »Ich danke dir für alles!« hauchte sie.

Er umfaßte sie fester. Versunken in den Anblick des schönen, heißgeliebten Weibes, gewahrte er nicht, daß unten zwischen den Beeten leise Schritte erklangen. Er hielt sie in den Armen wie einst, da er die Braut geküßt, und wie so oft schon gemahnte ihn die düstere, blutige Zeit, jede helle Stunde zu genießen, jeden Augenblick festzuhalten und sich des Edelsteins an seiner Seite zu freuen.

Der Mond war hinter den dunklen Baumgruppen hervorgekommen und beleuchtete hell den Kiesweg unter den Fenstern des weiten Gemachs. Da fuhr der Royalist mit der Hand nach dem Degen, totenbleich starrte seine Gemahlin hinab, der Garten wimmelte von unheimlichen Gestalten, Flüche und Verwünschungen wurden laut.

»Wir sind verloren,« flüsterte Aimée.

Er drückte sein Weib an sich, als wüßte er's: es geht in den Tod – dann zog er sie mit sich zum Kamin.

»Vater,« sagte er mit heiserer Stimme, »der Pöbel betritt soeben unsere Schwelle – halten wir uns bereit.«

Entsetzt blickten die Anwesenden einander an. Der Gedanke an die tägliche Lebensgefahr, in der sie schwebten, war ihnen zur Gewohnheit geworden, aber der Augenblick, der sie brachte, lähmte doch den Stärksten, und selbst Edgeworth ward bleich.

»Es gibt nur einen Ausgang aus diesem Gemach,« sprach tonlos der greise Marquis, »die Flucht ist uns abgeschnitten, schon höre ich die Meute auf der Treppe! Besetzt rasch die Tür und löscht die Kerzen, meine Kinder, und dann regt euch nicht und gebt keinen Laut von euch, vielleicht täuschen wir den Pöbel durch Schweigen und Dunkelheit, und man hält uns für entkommen!«

»Sie haben uns am Fenster gesehen,« sagte Aimée leise zu ihrem Gemahl.

Er nickte wie abwesend und verriegelte die Tür; Tische und schwere Gegenstände wurden vor den Eingang geschoben. Das Gesinde herbeizurufen war nicht mehr möglich gewesen. Wüstes Geschrei und Waffengeklirr klang in den Gängen, dröhnend schlug eine Faust gegen die Tür: »Öffnet im Namen des Volkes!«

Aber keiner antwortete drinnen, die Kerzen waren gelöscht, schweigend erwarteten die Royalisten das Kommende. Aimée kniete neben dem alten Marquis, die Augen angstvoll zur Tür gewandt; Vater und Tochter zur Seite standen die drei Männer, in Eile bewaffnet, zum Widerstand bis zum letzten Blutstropfen bereit.

Und noch einmal rief eine wilde Stimme: »Aufgetan im Namen des Volkes!«

Wieder tiefes Schweigen im Gemach, Fluchen und Toben draußen, und dröhnende Keulenschläge gegen die Tür. Die Füllung barst, zitternd stürzte sie auf den vorgeschobenen Tisch, durch die klaffende Öffnung leuchtete die Brandfackel, dicht aneinandergedrängt blickten sechs bis acht Jakobiner herein. Dann plötzliche Bewegung, ein jäh verändertes Bild, die Köpfe der Roten verschwanden, und ein Mann im vornehmen Kleide, der die Abzeichen des Volkes trug, schwang sich herein, gefolgt von einer Horde blutdürstiger Gestalten. »Ruhe!« gebot er zurückblickend.

Die Rotte schien seine Worte nicht zu hören, verhielt sich jedoch vorläufig still und musterte nur gierigen Blickes die vom Fackelglanz matt beleuchtete Gruppe der Aristokraten.

Der vornehme Führer aber trat auf Aimée zu, die sich zitternd an ihren Vater klammerte, faßte ihren Arm und riß sie empor.

»Nun bist du mein, Cécile, du herrliches Weib,« rief er mit gläsernem Blick und umfaßte gewaltsam die bebende Gestalt der jungen Frau, die sich mühte, den Armen des Mannes zu entkommen. Verzweifelt blickte sie zu ihrem Gemahl hinüber, aber den hielten rohe Hände mit eiserner Gewalt, und auch Adalbert mußte sich der Übermacht fügen.

Nur der greise Marquis war noch frei, aber sobald er sich zu rühren wagte, funkelte der Dolch Alignolles vor seinen Augen, vergeblich schaute er sich nach Rettung um.

Der treulose Royalist hatte mit seinem gebrochenen Eide alles vergessen und trat jede Freundschaft, jede Pietät, die ihn hinderte, mit Füßen. Nur die Leidenschaft zu dem schönen Geschöpf, das seine Huldigungen verschmäht hatte, loderte in seiner Seele und diktierte ihm seine Taten: sie hatte ihn zu einer Kreatur des Umsturzes gemacht, zum Rädelsführer einer blutlechzenden Bande, denn der Vikomte lebte in dem Wahn, er werde als solcher das Kleinod durch einen Gewaltstreich leichter gewinnen, als ein an die Gesetze der Sitte gebundener Aristokrat. Daß sie ihn nicht liebte, wußte er, aber seinem wilden Sinn genügte schon der Besitz des schönen, vielumworbenen Mädchens. Und endlich hielt er sie in den Armen, wie ein gehetztes Wild wollte sie von ihm fliehen, aber er bezwang sie. Ihre beiden Hände in seine Rechte fassend, hob er ihr Haupt empor und preßte die heißen Lippen auf ihren todbleichen Mund. Halb ohnmächtig hielt Aimée ihm still. Seit sie gesehen, was ihr Gemahl und ihr Bruder um ihretwillen gelitten, gab sie keinen Laut mehr von sich, und die Todesangst, der Vikomte möchte seinen Irrtum erkennen, schnürte ihr die Kehle zu. Verzweifelt blickte sie sich nach Edgeworth um; er war verschwunden.

»Sieh mich an!« rief Alignolle, berauscht von ihrem Anblick, »um Mitternacht feiern wir Hochzeit!«

Aber sie sah ihn nicht an, ihre Augen hafteten starr am Boden, wie ein Schleier breiteten sich die langen Wimpern darüber.

Da ward's plötzlich fackelhell im Gemach, Männer in dunkler Kleidung drängten herein und fielen der Horde in den Rücken. Ihre Zahl war klein, aber bei hartnäckigem Widerstand und ohne Zwischenfälle genügte sie. Der Abt hatte sich in dem Augenblick, als die Männer der Revolution das Haus betraten, aus dem Fenster geschwungen, der starke Stamm eines hochgewachsenen Weinstocks half ihm bei der beschwerlichen Flucht, und in kurzer Zeit hatte er Hilfe aus den benachbarten Royalistenhäusern geholt und stand an der Spitze des kleinen Zuges den Jakobinern gegenüber.

Hell fiel der Glanz der Fackel auf Aimées marmorne Züge, unwillkürlich neigte sie das Haupt tiefer. Da klang ein wilder Schrei durchs Gemach, mit verzerrtem Antlitz starrte der einstige Kavalier auf das Weib in seinen Armen.

»Verrat, ich bin betrogen!« – Gellend klang's durch den kleinen Raum, der in wenigen Minuten zum Waffenplatz geworden. Mit wahrem Löwenmut kämpften die Angehörigen des unglücklichen Weibes. Näher und näher rückte Gérard dem Vikomte und, seine Augen fest auf die geliebte Frau gerichtet, schien er zu bitten: »Halt aus, nur noch eine kurze Frist.«

Der greise Marquis suchte die Tochter zu retten, aber seine Kräfte reichten nicht aus. Alignolles Säbel sauste ihm über die Stirn, ein breiter Blutstreifen säumte das weiße Haar, röchelnd lehnte er sich gegen die Wand. Gérard war fast am Ziel, zwei Burschen waren von seiner Hand gefallen, eine Armlänge noch, und er konnte seinem Weibe beistehen. Da hob der Feind die Hand, ein Dolch funkelte im Fackelschein, hochauf spritzte das Blut aus der weißen Brust.

»Gérard!« flüsterte sie und richtete den letzten Blick der schönen sterbenden Augen auf den geliebten Mann, dann hauchte sie mit einem tiefen Seufzer ihr Leben aus.

Ehe der junge Marquis zur Besinnung kam, stürzte der Mörder auf den Hausherrn zu, der noch immer halb ohnmächtig an der Wand lehnte, und stieß ihm den Degen bis ans Heft in die Seite.

» Vive le roi« klang's von den fahlen Lippen des alten Royalisten, dem die Königstreue bis zur Todesstunde heilig blieb, dann brach er entseelt zusammen.

Indessen hatten Edgeworth und seine Begleiter eine klaffende Bresche in die Schar der Jakobiner geschlagen, wie ein Mann hatten sie gekämpft, und die Meute sah sich plötzlich hart bedrängt. Alignolle, dem Gérard mit gezogenem Säbel gegenüberstand und dem er eine tiefe Stirnwunde beigebracht hatte, übersah die Situation mit raschem Blick und befahl im Herrscherton: » En avant! unsere Arbeit ist getan! Suchen wir die göttliche Cécile anderwärts – das Faubourg ist groß, der Morgen dämmert« – und nach kurzem Zögern wurde der Rückzug unter dem Namen des Sieges angetreten.

Noch einmal drang Gérard auf den Mörder seines Weibes ein, da traf die scharfe Klinge eines Blusenmannes seine Schulter und, aus mehreren Wunden blutend, brach er ohnmächtig zusammen. Edgeworth fing ihn in seinen Armen auf, sein verächtlicher Blick folgte dem Vikomte. »Gott lohne Ihnen Ihre Taten,« rief er mit schneidender Schärfe.

Alignolle zuckte die Achseln. Eine Antwort hatte er nicht. – Als einer der letzten verließ er das Hotel, fast reute ihn seine Handlungsweise, unwillkürlich blieb er hinter der Rotte zurück. Es war ihm, als schwämme die ganze Gegend in Blut, als hielte er noch die schöne, marmorbleiche Frau mit der roten Wunde im Herzen in den Armen – ihn schauderte. Warum hatte sie's ihm nicht zugerufen, als er die Schwelle betrat: Ich bin's nicht, die du suchst, geh ein Haus weiter! Sie läge jetzt nicht kalt und still auf der Bahre, und die Dämonen, die ihn in die Nacht hinaushetzten, hätten geschwiegen.

Langsam schritt er durch den kleinen Hof. Rosen und wilder Wein rankten über dem Tor, dessen Flügel geöffnet standen. Ein Reisewagen stand draußen. Aus dem fahlen Licht der Morgendämmerung lösten sich Gestalten; eine tiefverschleierte, schlanke Frau erschien unter dem Torbogen. Als sie ihn erblickte, verhielt sie zaudernd den eilenden Schritt und neigte das Haupt, als wollte sie nicht erkannt sein. Mit verzehrendem Blick schaute er sie an, als müsse sein Auge den Schleier durchdringen, der sie verhüllte. Und nun kam sie an ihm vorüber, ihr Weg führte sie so, und es wäre aufgefallen, wäre sie ihm ausgewichen, aber er sah, daß ihr die Knie zitterten. Mit einem Schritt war er an ihrer Seite und vertrat ihr den Weg.

»Bei allen Heiligen, edles Fräulein, gehen Sie nicht in Ihres Vaters Haus.«

Sie schlug den Schleier zurück. Ihr Antlitz war totenbleich; entsetzt blickte sie auf seine blutige Kleidung. »Ich bitte Sie, lassen Sie mich gehen, Vikomte,« sprach sie kalt und abwehrend. »Ich bat Sie nicht um Ihren Rat!«

»Aber ich flehe Sie an, bei allem, was Ihnen heilig ist, gehen Sie nicht hinein!« rief er mit heiserer Stimme.

Sie maß ihn mit stolzem Blick, aber in ihrem Auge lag eine stumme Frage voll namenloser Angst.

Er konnte ihr nicht antworten. Im aufgehenden Tageslicht erschien ihm seine Tat als das, was sie war, als die Sünde in ihrer grauenhaften Gestalt. Er war in dem Augenblick seiner Tat nicht der Volksfreund, der Revolutionär, sondern ein Mensch gewesen, der seiner Leidenschaft nicht mehr zu gebieten wußte, den die Hölle zum Verbrecher gestempelt. Einst hatte er geglaubt, er werde durch die Frau, die er liebte, erstarken, der Blick in die reine Seele müsse auch ihn reinigen – das war nun vorüber – es stand Blut zwischen ihnen, das in den Augen Céciles de Saint Hilaire nie gesühnt werden würde – niemals im Leben. Und selbst, wenn sie vergab, das Blut des Vaters und der einzigen Schwester stand doch zwischen ihr und dem Manne, der sie liebte mit der ganzen Glut seiner Seele.

Sie wollte an ihm vorüber, da stürzte er vor ihr nieder und umklammerte ihre Knie, daß sie wankte.

»Warten Sie – eine Stunde nur!« ächzte er.

Ein Grauen erfaßte sie, wie sie's zuvor nie gekannt, gewaltsam machte sie sich los.

»Ist ein Unglück geschehen, so ist mein Platz in meines Vaters Haus,« sagte sie leise, dann ging sie festen Schrittes dem Eingang zu.

Mit dem Ausdruck eines Irrsinnigen blickte er der stolzen Frauengestalt nach, bis die Tür sich hinter ihr geschlossen, dann schlug er sich vor die Stirn und setzte in rasender Hast seinen Weg fort. »Es ist aus, alles aus!« knirschte er zwischen den Zähnen, »flieg hin, du stolzes Herz! Hätte es einst Liebe um Liebe geheißen, so klebte heute kein Blut an dieser Hand!« –

Als die Tür hinter ihr ins Schloß gefallen war, blieb Cécile, nach Atem ringend, stehen. Ein Bann lag auf ihrer Seele. War dies seltsame Gebaren des gefürchteten Mannes Wahrheit, oder hoffte er sie durch die theatralischen Beweise seiner Liebe für sich zu gewinnen? Sie schüttelte das Haupt und eilte weiter.

Aber mit einem Aufschrei hielt sie sich am goldenen Geländer. Die Marmorstufen trugen Blutspuren, eine entseelte Gestalt, in welcher sie den ältesten Diener ihres Vaters erkannte, lag in einer roten Lache am Boden. Die Sinne wollten ihr schwinden, aber sie zwang die Schwäche mit Gewalt nieder und stürzte die Treppen hinan, an entsetzlichen Bildern vorüber nach dem Arbeitszimmer ihres Vaters.

Die Hand auf dem laut schlagenden Herzen stand sie eine Sekunde lang still, als ahne sie's, diese Stunde bringe ihr einen Lebensabschnitt voll gewaltigen Ernstes und erschütternder Not, Und dann riß sie die Tür auf. Mit einem einzigen Blick erfaßte sie alles, das weiße, ehrwürdige Haupt des Vaters mit dem blutroten Streifen an der Stirn, daneben Gérard Sérévan, an der Leiche seines Weibes – die Sinne schwanden ihr, mit einem tiefen Seufzer schlug sie auf den Boden nieder. Sie merkte es nicht mehr, daß sich ein Mann mit verbundener Stirn über sie neigte, daß eine tieftraurige Stimme fragte: »Wo soll sie bleiben?«

Eine Ohnmacht hatte sich barmherzig über sie gebreitet, über die tiefen Wunden, die ein Menschenleben hindurch schmerzen.

»Wo soll sie bleiben?« fragte Adalbert ein zweites Mal und blickte zu Gérard hinüber, der gramversunken in das süße Antlitz blickte, das im Tode fast noch schöner war als im Leben.

»Ich weiß es nicht,« erwiderte er, ohne sich zu regen.

Da erhob sich eine hohe Gestalt, die am Kamin gesessen. »Lassen Sie mich gehen, Hilaire,« klang die klare, sonore Stimme des Abts von Firmont. »Ich denke, die Marquise von Sérévan nimmt die Kranke auf. Hier kann sie nicht bleiben, die furchtbaren Eindrücke –« die Stimme versagte ihm.

Adalbert nickte zustimmend, er hätte ja so gut wie Edgeworth an die nahe Verwandte denken können, aber er ging wie im Traum umher, fernab im Nebel lag ihm die Wirklichkeit.

»Wenn Frau von Sérévan noch am Leben ist,« sagte er müde.

Edgeworth aber hüllte sich in einen dunklen Mantel und verließ das Gemach.

Als die Schritte des Davoneilenden verhallt waren, klang kein Laut mehr durch das stille Haus. Golden ging die Sonne auf, und ihr erster heller Strahl lag auf der gebrochenen Gestalt des Mannes, der Stunde um Stunde regungslos dasaß, seine Tote im Arm.


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