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Zehntes Kapitel
Stille Tage

Ich hab an deinem Kreuz gekniet
Und angeschaut all deine Plagen.
Ich hab in tiefem Schmerz gefragt,
Warum du all die Schmach getragen?
Was dieser Leiden Ursach sei,
Wo dieses Jammers Grund zu finden?
Da klang's vom hohen Kreuzesstamm:
Du bist's, ich büße deine Sünden!

Ich hab an deinem Kreuz gekniet,
Daran du, Herr, für mich gestorben,
Und hab in tiefem Schmerz gefragt,
Warum du mir mein Heil erworben?
Was dich in all mein Elend trieb,
Daß ich nicht in der Hölle bliebe –
Und wieder klang's vom heilgen Kreuz:
Die Liebe war's, die große Liebe!

 

Im Florapavillon Wohnsitz der Prinzessin Elisabeth und der Prinzessin Lamballe während der Revolution. in einem kleinen, im Stile Ludwigs des Vierzehnten ausgestatteten Gemach saß eine schlanke Frauengestalt in weitem, schwarzem Gewande in einem Armstuhl, von Kissen unterstützt, am Fenster und blickte müde über die welke Herrlichkeit herbstlicher Gärten. Sie war nicht mehr jung, aber nicht die Zeit allein war's, die sich dem zarten Antlitz hart und unerbittlich aufgeprägt – so viel Sommer waren's noch nicht, die an diesem Leben vorübergezogen, um es an fallende Blätter und weißes Haar zu gemahnen; was die jugendlichen Züge so unerbittlich gestempelt und die silbernen Fäden durch das dunkle Haar gezogen, was den sammetbraunen, sonnigen Augen ihr Leuchten genommen, war ein anderes: der Schmerz.

Regungslos saß sie da, das Haupt zurückgelehnt, die durchsichtigen, schmalen, von kaum überstandener, schwerer Krankheit zeugenden Hände lässig im Schoß, die Brust unter der schwarzen Seide müde atmend, und langsam rann Träne um Träne über die eingefallenen, fast marmorweißen Wangen des einst so blühenden Mädchens. Seit der Stunde, da Cécile das Bewußtsein kam, daß sie lebe und sie in die treuen, sorgenden Augen der Schwester König Ludwigs geblickt, lastete es wie ein Bann auf ihr, eine Fassungslosigkeit, ein angstvolles Grübeln lag auf dem sonst so klaren, willensfesten Antlitz, daß die Prinzessin ihren Pflegling sorgend beobachtete.

Als Abt Edgeworth im Hotel Sérévan die Nachricht erhalten, daß die Marquise und ihre Töchter im Gefängnis schmachteten, hatte er sich stehenden Fußes zu seinem königlichen Beichtkinde in den Florapavillon begeben und Cécile de Saint Hilaire der Sorge Elisabeths empfohlen, welche sie sofort zu sich nahm. Sie wußte, daß das Mädchen Entsetzliches durchlebt hatte, daß das Erwachen der Erinnerung an jene furchtbaren Stunden härter war als der Tod, tausendmal härter. Es war die blutige Nacktheit einer Todsünde, die ihr entgegengetreten war, der Kampf, Gottes Willen als Heilsrat zu erkennen, der Zwiespalt zwischen Vergeben und Nichtvergeben, das Ringen um das Wort: »nicht siebenmal, sondern siebenzig mal sieben« – mit der Frage des verwundeten, in den Staub getretenen, vereinsamten Herzens: »Wann ist's genug?« Dies alles stand in den tränenschweren Augen, in dem stillen, blassen Gesicht, das sie so tapfer zum Lächeln zwang, wenn die königliche Freundin sich liebevoll über das Waisenkind neigte. Und Elisabeth verstand es wohl, die Genesende abzulenken, die schwere Zeit mit ihrer Not brachte täglich neue Leiden, neue Verluste und Pflichten, neue, unerwartete Arbeit. Dann bezwang Cécile sich wohl und nahm teil an fremden Lasten und Sorgen – denn für sie gab's keine mehr. Der Tod, der ihr alles genommen, daran ihr Herz auf Erden gehangen, hatte seine Schrecken für sie verloren, und um irgendeinen Hoffnungsstrahl, irgendeine Freude in sich aufzunehmen, war sie körperlich zu schwach, geistig zu niedergedrückt. Vor ihrer Seele stand Tag und Nacht ein weißes, geliebtes Haupt mit der Todeswunde an der Stirn, und wenn sie dies Bild gewaltsam zu verscheuchen suchte, tauchte ein anderes auf: Gérard mit der blutigen Leiche seines jungen Weibes im Arm; und der stumme Mund schien zu flüstern: »Um dich, an deiner Statt.«

Eine unvorsichtige Dienerin, die der Mordnacht im Hotel St. Hilaire entronnen, hatte der kaum Genesenen von der eigentümlichen Verwechslung der Schwestern und der blutigen Rache Alignolles erzählt. Ein Rückfall brachte Cécile abermals an den Rand des Grabes, und zum zweitenmal genesen, lag das Leben noch düsterer, noch öder vor ihr denn zuvor. Tausend Gedanken zermarterten ihr Gehirn in den langen Stunden im Hinterstübchen des Florapavillons, wo man nichts sah, als die letzten Astern und Rosen im Gärtchen Madame Elisabeths, wo man nichts vernahm, als die sanften Stimmen der Prinzessinnen und das Zwitschern ziehender Schwalben. Was sie dachte, wußte sie kaum, die Gedanken sagten sich, einer den anderen verdrängend, und in der einen traurigen Frage gipfelnd: warum, warum mir das?

Und zu dem Gram um die Toten kam die quälende Angst um die Lebenden. Sie war von allen Seiten ohne jede Nachricht, ohne das geringste Lebenszeichen. Aus Deutschland blieben seit einiger Zeit die Briefe aus, und Cécile quälte sich vergeblich mit der Frage, ob dieselben unterschlagen, verloren oder überhaupt nicht geschrieben seien. Ihren Bruder und Gérard hatte sie seit jenem furchtbaren Abend nicht wiedergesehen, und keiner konnte ihr etwas über ihren Verbleib sagen; selbst der Abt Edgeworth, der ein häufiger Gast im Florapavillon war, hatte seine Freunde gänzlich aus dem Auge verloren, und es war ihm bisher trotz der eifrigsten Nachforschungen nicht gelungen, ihre Spur wieder aufzufinden.

Immer trauriger blickten ihm die braunen Augen entgegen, immer zagender klang die Frage nach den Vermißten, und es kam den treuen Mann hart an, daß er ihr immer aufs neue die harte Antwort geben mußte: »Ich weiß nichts!« Ein tiefes Erbarmen ergriff ihn mit diesem Frauenherzen, das sich in seinem Leid und seiner Vereinsamung nicht zurechtfinden konnte. Wie sollte sie leiblich genesen, wo die Seele von tausend Schmerzen gebunden lag? Und in einer stillen Stunde, da er Cécile allein glaubte, klopfte der Würdenträger der katholischen Kirche ans Gemach der Protestantin.

Es war, wie er's vermutet. Sie saß einsam in ihrem Lehnstuhl. Aber nicht wie sonst müde und tatenlos. Ein zartes Rot lag auf den blassen Wangen und weckte die Erinnerung an vergangene Tage, die schmalen Finger aber wanden eine duftende Girlande vom letzten, das der Herbst bot: halb offene Rosen, die der erste Reif berührt, Reseden, Malven und Astern. Durch die kleinen Scheiben fiel das Gold der untergehenden Sonne, wie ein schimmerndes Netz lag's über den kastanienbraunen Locken und den weißen Händen, welche langsam die letzten Blumen zum Kranz fügten. Als es pochte, blickten die dunklen Augen empor, sonnig und hell wie einst.

Der Mann auf der Schwelle blieb stehen. Sein ernstes, klares Auge ruhte forschend auf dem Mädchenantlitz. Wem wanden die Hände der kaum Genesenen den Rosenkranz? Wer zauberte dies sonnige Lächeln auf die versteinerten Züge, denen das Entsetzen eingeprägt schien für immer?

Aber schon löste sie selbst ihm das Rätsel.

»Hochwürden,« rief sie, »die Prinzessin von Lamballe kommt zurück, Als das Königspaar nach Varennes flüchtete, verließ die Prinzessin von Lamballe Frankreich und ging nach England, kehrte aber schon im Oktober des Jahres nach Paris zurück. meine angebetete Herrin!« Der helle, klare Blick schien hinzuzufügen: Nun werde ich gesund! Nun habe ich eine Pflicht wieder, etwas zum Lieben, das mein ganzes Sein erfüllt!

Aber Edgeworth erschrak bei ihrer Botschaft.

»Die Prinzessin von Lamballe kehrt zurück?« rief er, »hierher zurück?« Und leise fügte er hinzu: »Dann gnade ihr Gott!«

Sie hatte seine letzten Worte vernommen. Ein Schatten ging über ihr Antlitz, aber er verscheuchte die Freude nicht.

Sie bat ihn, an ihrer Seite Platz zu nehmen.

»Sie werden sich wundern, mich so verändert zu finden, Hochwürden,« sagte sie und beugte das Antlitz über die herbstliche Blütenlese – »ach, für mich konnte ja nichts Besseres geschehen! Es mußte einer kommen mit einem großen, heiligen Mut, einem Mut zum Leben, wie zum Sterben, wie man ihn in unserer Zeit braucht!«

Er hörte sie ruhig an und nickte ihr, als sie das Auge in scheuer Frage zu ihm hob, freundlich lächelnd zu.

»Diesen Mut,« fuhr das Mädchen leise fort, »habe ich verloren, wenn ich ihn überhaupt je besessen habe. Das Entsetzliche, was ich erfahren, das mir alles nahm, was ich auf Erden liebte, stand in meiner Seele geschrieben wie eine fremde Sprache, eine Sprache, die nicht Gott hineingeschrieben, sondern der Satan; denn das Furchtbarste von allem war der Gedanke, wie kann Gott dich also führen, wie kann er das Entsetzliche zulassen, warum straft er die Sünde der Gottlosen am Gerechten? Dieser Gedanke wuchs in den langen, stillen Wochen, die ich hier verbrachte, eine Genesende mit klaffender Wunde im Herzen. Ich wähnte mich von Gott verlassen. Warum ließ er mich meinen geliebten Vater so wiedersehen, warum gab er die grauenvolle Verwechslung zu und ließ meine einzige Schwester, die glücklichste Gattin und Mutter, unter dem Mordstahl verbluten – an meiner Statt? Hochwürden, das sind Dinge, die der natürliche Mensch nicht versteht, die ihn an Gottes Walten zweifeln lassen, die den, menschlich geredet, Besten unter uns zum Atheisten und Freigeist machen.«

Sie richtete sich erregt auf, ihre Augen flammten, die durchsichtige Hand bebte auf der Stuhllehne.

Er legte beruhigend seine große, schlanke Rechte darüber und umschloß sie fest.

»Ich bin noch nicht durchgedrungen, noch nicht fertig mit diesem Kampf,« sagte sie, »wie ein furchtbares Vermächtnis, das ich nicht anzutasten wage, steht das Letzte und Schwerste vor mir: die Pflicht, dem Mörder zu vergeben. Und ich kann's nicht – noch nicht! Ist mir's doch, als spräche ich mit meiner Vergebung eine Lüge aus, als wäre mein Wort, eine Stunde, nachdem ich's gesprochen, ungültig – denn ich hasse den Mann, der mit seiner Liebe – nein, seiner Leidenschaft um mich warb, der meine Weigerung mit einer Bluttat rächte und dann in einer Anwandlung von Mitleid bat: ›Geh nicht in deines Vaters Haus!‹ – Er hat mich nicht zurückgehalten, ich weiß alles.«

Sie lehnte sich erschöpft zurück, ihre Brust ging heftig auf und nieder. Ruhig hielt der Mann an ihrer Seite ihre Hand in der seinen, und sie umfaßte dieselbe fest, als ging eine Kraft von ihr aus. Er wußte, sie hatte ihm noch mehr zu sagen, darum sprach er kein Wort zu ihrer Beichte, sondern verharrte regungslos in seiner Stellung.

Und aufs neue begann sie: »Ich sagte es schon, ich bin noch nicht im klaren, mein Kampf hat noch keine bestimmte Gestalt gewonnen, geschweige einen Sieg. Aber seit die Nachricht von der Rückkehr der obersten Intendantin bei uns eintraf, bin ich doch wieder zum Leben erwacht, war's doch, als hätte ich in langem Schlaf gelegen und Pflicht und Sorge und Liebe verträumt. Als der große Schmerz über mich kam und alles, ich kann wohl sagen, mein ganzes Leben zermalmte, das Leben, das inwendig in uns ist, Hochwürden, da war mir zumute, als sei ich der einzige Mensch auf Erden, der solch ein Leid erfahren, und habe an nichts gedacht als meinen Jammer, und habe an meinem Gott gezweifelt. Da traf mich's in die Seele, als ich hörte, sie käme zurück, sie, die nichts als Gram und die bittersten Enttäuschungen erfahren, Enttäuschungen, die härter sind als der Tod, deren Leben eine Kette von Schmerzen gewesen ist. Aber ihr Herz ist in dem allen klar geblieben, Liebe und Treue sind die Beweggründe, die sie zurücktreiben, da ist keine Härte, kein unversöhnlicher Gedanke, kein Murren wider Gott« – sie brach in heiße Tränen aus. »O, Hochwürden, könnt ich's doch auch!« schluchzte sie. »Sie weiß es, sie geht ins Verderben – wäre ich doch auch so stark und treu – so klein vor Gott – aber ich kann nicht aus dem Hadern heraus, aus meinem unverstandenen Schmerz, ob ich's auch fühle, daß ich es muß – wenn ich leben will!«

Sie hatte das Antlitz in den Händen verborgen, ihr Körper bebte vor Schluchzen.

Mitleidig blickte Edgeworth auf das Mädchen. »Wenn ich leben will!« klang's in seiner Seele wider, und ein stilles Lächeln ging über seine Züge, er wußte aus eigener Erfahrung: Wille ist der Vater der Tat. Und als ihre Tränen versiegten, nahm er ihre Hand und sagte: »Gott segne die fürstliche Frau, die Ihnen durch ihr Beispiel den ersten Strahl der Wärme und des Lebens gebracht, edles Fräulein. Wir finden oft ein königliches Vorbild unter unseren Mitmenschen, aber lassen Sie uns das eine nicht vergessen, daß sie alle, und gerade die besten von einem Höheren lernten, daß ihr Tun nicht das Original ist. Legen Sie an andere den kleinsten und an sich selbst den größten Maßstab, so werden Sie, was Sie heute an sich vermissen – klein vor Gott. Und wenn Sie den anschauen, der für uns am Kreuz gehangen, so werden Sie auch lernen, Ihren Feinden zu vergeben. Eins nur muß Ihnen um Ihrer selbst willen ganz in Fleisch und Blut übergegangen sein, nämlich, daß der Herr gerade Ihre Sünde getragen hat, daß er durch Sie, um Ihretwillen gelitten, daß Sie die Ursache seines Todes sind. Nur die eigene Erlösung, die Vergebung, die wir selbst empfangen, hilft uns, anderen zu vergeben!«

Sie sah durch ihre Tränen fragend zu ihm auf, als vernähme sie zum erstenmal im Leben das Wort vom Kreuz, wie kam der Träger römischer Weisheit zu dem schlichten, evangelischen Bekenntnis?

Ehrfürchtig schaute sie in die großen, klaren Augen, die voll heiligen Ernstes und tiefer Liebe auf ihr ruhten, und dann schlug sie den Blick nieder – wie klein, wie armselig hatte der Schmerz sie gemacht!

»Dieselbe Gnade, durch welche wir selig werden wollen,« fuhr Edgeworth fort, »ward einst dem Schächer zuteil, derselbe heilige Mund, der den Schalksknecht in die Finsternis verwies, kann auch uns das Urteil sprechen: ›Hinweg von mir, ihr Verfluchten!‹ Das soll unsere Warnung bleiben, wenn wir meinen, es sei unmöglich, zu vergeben. Denken Sie, wenn's Ihnen zu schwer wird, an des Herrn Wort: ›Wer seinem Bruder nicht vergibt, dem wird mein himmlischer Vater auch nicht vergeben!‹ vor allem aber lassen Sie die heilige Liebe dessen Ihr Herz regieren, der Ihnen zuerst vergab, Ihnen täglich, stündlich vergibt, und folgen Sie ihm nach, denn nur in seiner Liebe erfahren wir an uns selbst und für andere, daß wahres Vergeben Vergessen bedeutet!«

»Vergessen?« sagte sie, »wie soll ich den Schmerz meines Lebens vergessen?«

»Den Schmerz werden Sie nicht vergessen, bis der zu Ihnen kommt, der all unsere Wunden heilt und spricht: ›Es ist genug!‹ aber die Sünde Ihres Feindes und Ihren Haß sollen Sie vergessen – sonst werden Sie nicht frei! – Verzagen Sie nicht, wenn Sie's heut und morgen nicht können, es ist heiße, mühevolle Arbeit und bedingt einen völligen Gehorsam unter Gottes Willen, einen Glauben, der alles hofft und duldet, aber vergessen Sie auch nicht, daß wir einen Helfer haben, der größer ist als unser Herz mit seinem armen Erdenleid – das Bewußtsein, einen Stärkeren zur Seite zu haben, hilft siegreich streiten!«

Wieder blickten die braunen Augen ihn an, weich und sehnsüchtig, als schauten sie nach Erlösung aus, dann sagte sie zögernd: »Glauben Sie's mir, ich möchte frei sein, von mir selbst frei – aber ich bin noch nicht so weit, Gottes Hand hat zu schwer auf mir gelegen, und ein Schwacher braucht mehr Zeit, um sich aufzurichten und mit allem im Leben von vorn zu beginnen, als ein Starker!«

»Ich glaube Ihnen, daß Sie kämpfen,« sagte er einfach, »aber machen Sie sich den Kampf nicht schwerer, als er ist und sein soll. Wir tun das so leicht und trauen uns oft zu wenig zu, und das tut nicht gut. Was wir empfangen, sollen wir nicht unterschätzen, sondern als Gottes Gnadengabe gebrauchen. Sie sind ein Gotteskind – vergessen Sie das nie, auch in den Augenblicken nicht, wo Sie glauben, nicht vergeben zu können, denn wenn Sie das festhalten und treu bewahren, so können, so werden Sie vergeben!«

Er erhob sich. Sie richtete sich rasch auf; hoch und schlank stand sie zum erstenmal in ihrer tiefen Trauer vor ihm, nur bleicher und zarter als früher.

Und durch seinen Sinn zog's: »Wenn ich dir sonst nichts geben kann und darf, das Kleinod, das ich empfangen, soll dir auf deiner dunklen Straße leuchten und funkeln zum ewigen Leben – so wahr mir Gott helfe!«

Sie ahnte nicht, was in ihm vorging. Vertrauend hob sie die schönen Augen zu ihm empor, als stünde ein älterer geliebter Bruder vor ihr.

Ruhig blickte er zu ihr nieder. Sein Kampf war gekämpft, und er hatte einen königlichen Sieg erfochten, das Bewußtsein: Du gibst ihr mehr als Erdenliebe!

Abschiednehmend reichte er ihr die Hände. »Der Herr helfe Ihnen,« sagte er warm.

Ihre Augen füllten sich aufs neue mit Tränen.

»Ich danke Ihnen für die Geduld, die Sie mit mir haben, Hochwürden. Verlieren Sie sie nicht und kommen Sie wieder.« Wie von plötzlicher Sehnsucht nach einem Zeichen der Versiegelung ihres Heils getrieben, kniete sie vor ihm nieder. Und ohne einen Augenblick nach seinem und ihrem Bekenntnis zu fragen, trat er als der Christ und Seelsorger, den sie in ihm suchte, zu der Verlassenen und legte ihr priesterlich segnend die Hände aufs Haupt.

Das letzte Gold des scheidenden Tages lag auf der Knienden, durch die Abenddämmerung klangen die Glocken von Nôtre Dame wie in Friedenszeiten. Ein Hauch heiliger Stille zog durch den kleinen Raum, wo ein Menschenkind dem anderen das Beste geschenkt, das es gibt im Himmel und auf Erden. – – –

Edgeworth rüstete sich zum Gehen. Da wurden draußen Stimmen laut, die Tür ward geöffnet, und eine schöne, blonde Frau mit so hellen, sonnigen Augen, als ahne sie's nicht, daß im angrenzenden Stadtviertel der Sturm der Revolution tobte, trat, in einen weiten, heliotropfarbenen Reisemantel gehüllt, mit anmutiger Lebhaftigkeit ins Gemach.

»Cécile, meine Cécile!« und im nächsten Augenblick lag die Vielgeliebte in den Armen der Prinzessin von Lamballe.

Edgeworth wollte leise das Gemach verlassen, aber die oberste Intendantin gab ihre ehemalige dame d'atour frei und reichte dem Freunde und Beichtvater Madame Elisabeths die Hand.

»So dürfen Sie nicht an mir vorüber, Abt Edgeworth,« sagte sie mit unwiderstehlichem Liebreiz. »Gönnen Sie der Frau, die jeder um ihrer Rückkehr aus dem Ausland willen verurteilt, ein freundliches Wort – es tut so weh, wenn man nach seinem Gewissen gehandelt hat und findet nichts als Tadel!«

»Wie sollte ich die Treue schelten, die ihr Leben für ihre Königin einsetzt,« erwiderte er ernst. »Von der Stunde an, da ich von der Rückkehr Eurer Hoheit vernahm, bewegt mein Herz das Gebet für die Treue, die nie das Ihre gesucht. Vielleicht ist die Liebe Eurer Hoheit die letzte Erquickung unserer unglücklichen Königin – der Herr vergelte es Ihnen!«

Er neigte sich tief über die Frauenhand in seiner Rechten und zog sie ehrerbietig an die Lippen. Mit nassen Augen blickte Marie Thérèse zu ihm auf, zwei große Tränen perlten langsam über ihre Wangen, schweigend verließ er das Gemach.

Draußen lag die Dämmerung, die ersten Sterne kamen hervor und wanderten ihre stille Bahn. In den Gärten plätscherten die Fontänen, die letzten Rosen dufteten an der Mauer, leuchtende Spätherbstblumen neigten die Köpfchen im Abendwinde. Vom Mondlicht übergossen, lag die weite, stille Ebene da, die Seine murmelte ihr einförmiges Lied, und der Reif der Oktobernacht fiel auf die goldbraunen Wipfel.


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