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Elftes Kapitel
In zwölfter Stunde

Ich flüchte mich zu deinem Kreuz,
In seinem Schatten will ich sterben.
Da fand der Schächer seine Ruh,
Da laß auch mich das Heil erwerben!
Ich komme spät mit schwerer Last,
Mit Not und Schand und tausend Sünden –
Laß mich in deinem heil'gen Blut,
Herr Jesu, Heil und Segen finden!

 

Der Morgen graute; dichte, weiße Nebelschleier lagen über der Ebene und kämpften ums Morgengold, wie das Nachtgezücht lichtscheuer Geister mit dem reinen, durchdringenden Glanz des Tages. Über der Weltstadt lagerte eine Dunstschicht von unbestimmter, schmutziger Farbe, von blassen, wechselnden Lichtern jäh unterbrochen – ein Abbild des Abschaums, den das sittliche Leben des Riesenbezirks ausschied. Tagesfeindlich lag's über Plätzen und Straßen, als sollten der hellen, blendenden Oktobersonne die Sümpfe und Moräste verborgen bleiben, die der Glanz und die Herrlichkeit des stolzen Babel verbarg. Aber trotz allem Sträuben und Ringen ward's dennoch Tag, und mit sichtender Klarheit ging die Sonne über Paris auf.

Von den Türmen schlug es sieben, als die hohe Gestalt eines Mannes im geistlichen Kleide mit eiligen Schritten dem Florapavillon zuwanderte. An der zu den Appartements der Prinzessin Elisabeth führenden Tür zog er die Glocke.

»Melden Sie mich Mademoiselle de Saint Hilaire, ich müßte sie in dringender Angelegenheit sogleich sprechen,« sagte er zu dem greisen Diener, der ihm, dem alten Regime getreu, in Zopf und Perücke entgegentrat.

»Das gnädige Fräulein schlafen noch,« erwiderte der Alte ehrerbietig, »wenn Hochwürden –«

»Nein, nein,« schnitt ihm der andere die Rede ab, »melden Sie mich sofort, Baptiste, ich werde warten, die Sache leidet keinen Aufschub!«

»Das gnädige Fräulein sind krank gewesen,« erklärte Baptiste, um die Ruhe der Genesenden besorgt und noch immer zaudernd, den Befehl des Abtes auszurichten.

»Ich weiß es!« rief Edgeworth ungeduldig, »gehen Sie auf meine Verantwortung, ich muß die Dame sprechen.«

Da gab der greise Kammerdiener endlich nach. Nachdem er eine Zofe beauftragt, Mademoiselle de Saint Hilaire zu wecken, führte er den Geistlichen in den an dem Hausflur liegenden kleinen Salon, Läden und Fenster öffnend. »Pardon, hochwürdiger Herr,« sagte er, die klare, sonnige Luft hereinlassend, »es ist noch gar so früh, und in diesen bösen Zeiten, da alles, was zum königlichen Hause gehört, verfolgt wird, in diesen bösen Zeiten, sage ich, tut man gut, Tür und Fenster zur Zeit zu schließen und nicht vor der Zeit wieder aufzutun.«

»Ja, Sie haben recht, Baptiste, und ich danke Ihnen, daß Sie mir ohne Zögern geöffnet.«

»Ich werde doch unseren hochwürdigen Herrn nicht draußen stehen lassen!« klang seine Gegenrede, »Hochwürden werden doch nicht dergleichen von mir denken?«

»Nein, nein, Baptiste,« beschwichtigte ihn der Abt, »ich habe nichts gedacht!« und der Alte verließ geräuschlos das Gemach.

Nach Verlauf einer kleinen Stunde klang ein leiser Schritt über die Dielen des Hausflurs, und Cécile trat herein. Die großen Augen richteten sich fragend auf den Mann, der ihr entgegenkam.

»Bringen Sie mir eine Botschaft?« sagte sie, während sie atemlos an seinen Lippen hing.

Er schüttelte traurig den Kopf; daß es ihm fast zur Gewißheit geworden, daß die Vermißten das Schicksal der Frau von Sérévan und ihrer beiden ältesten Töchter teilten und im Gefängnis schmachteten, wollte ihm nicht über die Lippen – noch nicht – ihr Antlitz war doch gar zu weiß und durchsichtig.

»Nein,« sagte er ernst, ihre beiden Hände fastend, »ich komme mit einer Frage.« Er sah ihr fest in die Augen. »Können Sie vergeben – in dieser Stunde einem Sterbenden vergeben?«

Dunkle Röte wechselte in einem Augenblick mit leichenhafter Blässe auf ihrem Antlitz, sie schwankte und lehnte sich, nach Atem ringend, an die Wand. Dann raffte sie sich auf und sagte leise: »Habe ich das Recht zur Vergebung, Hochwürden?«

»Das Recht?« fragte er erstaunt.

»Ja, das Recht,« erwiderte sie noch leiser, und in heiße Tränen ausbrechend, setzte sie hinzu: »Sagen Sie's mir, daß Gott mir meine Unversöhnlichkeit und meinen Haß vergibt! Bevor ich nicht selbst Barmherzigkeit erlangt, fehlt mir das Recht und die Kraft, anderen zu vergeben.«

Ein helles Leuchten war bei diesen Worten über das Antlitz des Mannes gezogen, als läge der Glanz der Morgensonne darauf, aber sie stand noch hinter den Baumkronen, ab und zu nur spielte ein Strahl im bunten Laub und warf seine Lichter über die lauschigen Wege.

»Ja,« sprach Edgeworth mit bewegter Stimme, »der Herr vergibt Ihnen – ganz gewiß, mein Kind!«

Er legte die Hand auf ihre Schulter, mit tiefem Vertrauen sah sie zu ihm empor: »So darf ich gehen,« sagte sie ruhig.

Seine Augen weilten noch immer auf ihr. Wie schön war dies Jungfrauenantlitz in seinem Ernst, seinen letzten Spuren schweren Kampfes und dem stillen Frieden, der sich in den klaren Augen widerspiegelte. – Dankbar blickte er zurück, er hatte durch Gottes Gnade zu der Wendung in diesem Herzen beigetragen – er hatte ein Bote seines Herrn und Meisters sein dürfen, und ihm ward aufgetan.

»Der Weg ist nicht weit,« wandte er sich an Cécile, »werden Sie gehen können, wenn ich Sie stütze? Wenige Schritte von hier in einem Hinterhause liegt Alignolle, die Jakobiner haben ihren ehemaligen Gesinnungsgenossen übel zugerichtet, er wird's nicht überstehen!«

»Ist er ihnen untreu geworden?« fragte sie.

»Es scheint so. Er ließ mich bitten, zu ihm zu kommen, und als ich ihn in der elenden Wohnung aufsuchte, war das einzige, was ich von seinen Reden verstand, der brennende Wunsch, Ihre Vergebung vor seinem nahen Ende zu erlangen!«

Sie neigte das Haupt. »Lassen Sie uns gehen,« sagte sie. »In einer Minute komme ich wieder.« Sie verließ das Gemach und kehrte gleich darauf, in einen dunklen Mantel gehüllt, zurück. »Ich bin bereit!« sagte sie, und ihr Antlitz war klar und still, wie der Herbstmorgen. Edgeworth bot ihr den Arm, auf den sie sich leicht stützte. Schweigend wanderten sie zwischen den taufrischen Gartenwegen dahin.

Durch Gäßchen und Winkelchen ging's. Schmutzige Kinder tummelten sich vor den verfallenen Wohnungen, mit wüstem Geschrei Revolution spielend, blasse Frauen mit dem hungernden Säugling an der schwachen Brust saßen auf den ausgetretenen Schwellen ihrer unwirtlichen Heimstätten und verfolgten mit heißen, haßerfüllten Blicken das vornehme Paar, das sich in ihre Armseligkeit verirrte. Drohende Reden klangen hinter den Fremdlingen her, dunkle Glut bedeckte das Antlitz des Mädchens, Edgeworth zog ihren Arm fester in den seinen und beschleunigte den Schritt.

»Mut,« flüsterte er ihr zu.

Sie blickte zu ihm empor. »Ich fürchte mich nicht,« sagte sie lächelnd.

Und schon waren sie am Ziel, er geleitete sie sorgsam die steile, enge Treppe hinan. Eine alte, in Lumpen gehüllte Frau blickte mit höhnischem Gesicht auf die schlanke Gestalt des jungen Weibes, aber ein gebietender Blick des Abtes, der ihr bekannt zu sein schien, schloß ihr die leichtfertigen Lippen. »Lebt er noch?« fragte er sie, auf die nächste Tür zuschreitend; mürrisch nickte sie ihm die Antwort, und Edgeworth ging seiner Begleiterin voran in das armselige, niedrige Stübchen. Klopfenden Herzens verhielt sie den Schritt und blieb zagend auf der Schwelle stehen. Mit weitgeöffneten Augen blickte sie zur gegenüberliegenden Wand, wo auf Stroh gebettet eine verkommene Gestalt mit dem Tode rang. Beim allmächtigen Gott, das war der Mann, dem kein Erdengut zu kostbar, keine Lust zu berauschend gewesen, dem nichts heilig blieb, wo es sein Ich galt, seine brennenden Begierden und ungezähmten Leidenschaften, der Mann, der nach ihr die Hände ausgestreckt, wie nach wertvollem Raube, dem sie entwichen war mit dem klaren Bewußtsein: »Er tötet dich an Leib und Seele.«

Und heute – das Bild grenzenlosen Jammers war der Schluß dieses zerstörten Lebens, die unerbittliche Endantwort auf die Wünsche der Sünde stand wie ein Menetekel an der feuchten Stirn des versunkenen Mannes. Cécile erbebte. Hätte sie noch einen Gedanken des Hasses in die elende Kammer getragen, er wäre ihr vergangen angesichts des Todes und seiner Schrecken, Aber sie trug Vergebung und Erbarmen an das Lager des Verblendeten, und sein Anblick weckte tiefes Mitleiden in ihrer Brust. Wie war dies Sterben hart für Leib und Seele! Und mitten in all ihrem Jammer zog's ihr durch den Sinn, wie gnadenvoll sie Gott geführt, vorüber an den Abgründen und Sümpfen, an der Fäulnis eines Lebens, wie es dieser Mann geführt, an den schalen Freuden einer entsittlichten Zeit – durch sonnige Kindertage, von treuen Eltern beschirmt, von dem Segen der Verheißung begleitet, welche der Gottesfurcht folgt von Kind zu Kindeskind. Als sei sie hoch oben in klarer Bergluft gewandert, wo der ewige Schnee funkelt und die Gletscher die reinen Stirnen erheben, so durchsichtig, so unmittelbar vom Himmel kommend erschien ihr die Liebe, die sie umgeben, die Gott ihr beschert – bis zu dieser Stunde beschert. Denn so schwer ihr Kreuz sein mochte, so jäh zerrissen ihr Leben war, verlassen war sie nicht, überall war ihr liebende Fürsorge begegnet, als ein Bote Gottes war der treue Freund in ihr stilles Kämmerlein getreten und hatte ihr den Heiltrank für ihr verzagtes, trotziges Herz gereicht, und je tiefer sie allen Wegen, die sie geführt war, nachsann, um so mehr erkannte sie's, daß die goldene Spur der ewigen Liebe durch ihr Leben ging, wie eine leuchtende Schnur, daran sich Perle an Perle reihte.

Leise war sie an das Fußende des Lagers getreten. Edgeworth kniete neben dem Sterbenden und stützte das müde Haupt. Als Cécile sich näherte, beugte er sich tief zu ihm nieder und nannte ihren Namen.

Da flammte es noch einmal in den dunklen Augen, ein letztes Mal versuchte der Mann sich aufzurichten, aber er brach röchelnd zusammen. Edgeworth winkte Cécile an seine Seite: »Er kann nicht mehr sprechen,« sagte er leise. Da kniete sie zitternd neben dem Geistlichen nieder und legte ihre kühle linde Hand auf die glühende Stirn des Kranken.

»Alignolle,« sagte sie mit klarer Stimme, »ich vergebe Euch alles, was Ihr mir getan!«

Und das kurze schlichte Wort brachte dem todkranken Manne die Ruhe, die er ersehnt; wie Sonnenglanz ging's über die fahlen Züge, er wollte sprechen, aber seine Kräfte versagten ihm, mit letzter Anstrengung suchte er Céciles Hand zu fassen. Sie reichte sie ihm still, und unter den Augen der Frau, der sein heißestes Sehnen auf dieser Erde gegolten, schlummerte er hinüber, versöhnt mit Gott und Menschen in letzter Stunde.

In stillem Gebet knieten die zwei neben dem Toten. Cécile hatte ihm die Augen zugedrückt und die abgemagerten Hände über der Brust gefaltet, nun erhob sie sich und näherte sich Edgeworth, der zum Fenster getreten war.

Gesenkten Hauptes reichte sie dem Freunde die Hand und leise und demütig sagte sie, während ihr die Tränen unaufhaltsam über die Wangen liefen: »Ich danke Ihnen, Hochwürden.«

Und er verstand sie. Er wußte es, jetzt war sie frei. Dies schlichte, einfache Dankeswort war eine Beichte und ein Bekenntnis zugleich.

Und angesichts des Todes legte er ihr noch einmal im Namen seines Herrn die Hände aufs Haupt und segnete sie für den Kampf, der ihr verordnet war.

Warm und freundlich blickte die Sonne durch die engen Scheiben und vergoldete die weiße, getünchte Wand, wo der stille Schläfer auf dem letzten Bette lag. Draußen auf dem Stänglein zwitscherten die Schwalben ihr Abschiedslied; es war die Zugzeit der Wandervögel, und fern im weiten Land sammelten sich leicht beschwingte Scharen zur Fahrt über das Mittelmeer. Im Hofe plätscherte ein Brunnen, sonst war alles still – nur die Blätter fielen – blutrote Spätherbstblätter.


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