Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel
In deutschen Bergen

Auf den Höhen Sonngefunkel,
Stilles Leuchten rings im Tann,
Drosselsang und Finkenjubel
Und ein Leuchten dann und wann!

Und die weiße Waldfrau schreitet
Sinnend durch die Sonnenruh –
Tannenduft und Bergbachrauschen –
Einsamkeit, wie schön bist du!

 

Über den Harzlanden war ein leuchtender Frühlingstag angebrochen. In taufrischer Schönheit lagen die blühenden Wiesen, und die Wandervögel jauchzten ihren Morgenpsalm über der grünen Saat. In den Wipfeln der Waldbäume trieb der Wind sein flüsterndes Spiel und trug der Tannen Harzduft und ihren lichtgelben, duftigen Blütenstaub auf leichten Schwingen in die Weite.

Über den kaum beschatteten Hängen, über den knospenden Buchen lag's wie Goldbrokat, als breite die Sonne ein leuchtend Gespinst über den grünen Boden. Farne neigten die zarten, kaum entrollten Blätter und spähten vom steinigen Ufer in den klaren Grund des Bergbachs, Wasserjungfern umflatterten die plätschernden, über Stein und Geröll tanzenden Flügel, feenhaft schwebten sie durch den stillen, leuchtenden Wald.

Eine grüne Eidechse raschelte im Laub vergangener Monde, neugierig hob sie, ans Tageslicht kommend, das Köpfchen, und die klugen Äuglein spähten umher, dann war sie verschwunden. Kein Laut unterbrach mehr das Schweigen im Walde, nur der Fink sang sein Lied im Hagedorn. Und über dem allen ein Mittagszauber, eine sonnige, märchenhafte Stille, als säße die Sage oben in den Bergen und wöbe dem Walde das Feierkleid, als müßte das kleine, wunderbare Volk, das in grauen Tagen unter den Rosenbüschen am Bach gesessen, hervorkommen und seinen Elfenreigen tanzen, wie einst in mondhellen Nächten. Aber weder Wicht noch Elfe trat aus dem Dickicht, die Wunder des Waldes gehörten einer längst verklungenen Zeit an.

Da kam ein leichter Schritt den Hang herab, ein lichtes Gewand schimmerte durch die Büsche, und die Gestalt eines jungen Weibes trat aus dem Waldesschatten ins Freie. Sie trug ein schlichtes Sommerkleid, ein Musselintuch verhüllte Brust und Schultern, die edlen Linien des weißen Halses freilassend. Das goldblonde Haar war in einen Knoten geschlungen, ernst neigte sie das schöne Antlitz über ein schlafendes Kind, dessen weiche Händchen ihr traumhaftes Spiel mit den kostbaren Spitzen trieben. Sorgsam trug sie den kleinen Schläfer talwärts. Ein Schatten lag über ihrer Stirn, als sei ihr Mutterglück kein ungetrübtes, in ihren Augen lag ein feuchter Glanz, und bisweilen stahl sich eine Träne über ihr kindliches Gesicht.

Sie hatte eine Wiese überschritten und stand an der Mauer eines großen Gartens voll knospender Frühlingsblumen. Ein efeuumsponnenes, altes Haus lag unter blühenden Obstbäumen, Pfirsiche und Mandelbäumchen wuchsen an der Mauer, und die Bienen summten um das rosenrote Gezweig.

Aus den offenen Fenstern klang eine Mädchenstimme. Weich und sehnend zog das Lied des treuen Briten in den Frühlingstag hinaus, und die Klänge einer Mandoline gaben ihm das Geleit:

»O, Richard, o, mein König,
Ob dich die Welt verläßt,
Ich bleib dir treu!«

Die junge Frau öffnete seufzend die Gartenpforte und schritt den schmalen, von Krokus und vielfarbigen Tulpen eingefaßten Weg entlang dem Hause zu.

Die Stimme verstummte, eine hohe Frauengestalt erschien auf der Schwelle. Ihr Antlitz war sehr bleich, die vornehme Erscheinung gebeugt, der Ausdruck der braunen Augen müde – sie mußte eine schwere Krankheit durchgemacht oder ein großes, Leib und Seele erschütterndes Leid erfahren haben.

»Blanche,« sagte sie, »ein Brief erwartet dich, komm, laß uns hören.«

»Ein Brief? von Adalbert?« fragte das junge Weib mit glühenden Wangen.

Sie nickte. »Ich bin froh, noch vor meiner Abreise zu erfahren, wie es in Paris aussieht,« sagte sie, sich in dem weiten, luftigen Gartensaal ans Fenster setzend, das einen überraschenden Ausblick auf die grünen Berge und das liebliche, in Terrassen, gleich einer südlichen Stadt gebaute Blankenburg bot.

Blanche hatte ihr Töchterchen in ein mit rosa Gaze bezogenes Körbchen gebettet, drückte dem kleinen, eben erwachten Schelm in aller Eile ein Küßchen auf den roten Mund und überflog die geliebten Schriftzüge.

»Es geht ihm gut,« flüsterte sie, hoch aufatmend, dann las sie ruhiger weiter.

»Bleiben soll ich, immer noch bleiben,« sagte sie nach einer Weile traurig, und Tränen traten in die hellen Augen, »ahnt er's denn gar nicht, wie schwer es mir wird, ihm ferne zu sein in der Zeit der Not? Und nun gehst auch du – o, Cécile, wie hart ist das Leben!«

Ihre Schwägerin setzte sich zu ihr.

»Es ist deine Pflicht, Blanche, zu bleiben, das bedenke, so wird es dir leichter,« sagte sie sanft. »Adalbert selbst wird's hart ankommen, dich jetzt entbehren zu müssen, aber er kann nicht anders handeln, auch ist es eine Beruhigung für ihn, dich und die Kinder in Sicherheit zu wissen.«

»Während er dem Tode ins Auge blickt,« klagte die junge Frau.

»Er steht unter Gottes Schutz wie wir alle,« entgegnete Cécile einfach. »Ich versteh's ja, daß du dich sorgst und härmst, aber laß deine Sorge nicht stärker sein als dein Gottvertrauen, sonst kommst du nicht durch diese Zeit, und dein Glaube leidet Schiffbruch. Vielleicht währt's noch eine kleine Weile, und es ist Frieden im Lande,« fuhr sie fort, die Augen bei dieser, ihr selbst höchst zweifelhaften Hoffnung senkend. »Bis dahin bleibe stark und danke Gott für die schönste der Pflichten, die er dir zu üben gebot. Nicht nur eure eigenen Kinder stehen unter deiner Obhut, auch Aimées kleinen Töchtern sollst du die Mutter ersetzen, bis du sie den Eltern zurückgeben darfst!«

»Du sagst immer das Rechte, Cécile, du führst einen nicht nur auf den Weg der Pflicht zurück, sondern gibst einem zugleich ein gutes Wort mit auf den Weg, eine Erquickung und Erfrischung für das Herz. Könntest du bleiben, aber ich verstehe dein Fortgehen nur zu gut, zieht's mich doch selbst mit Gewalt nach Hause! Als du einige Tage nach deiner Ankunft erkranktest und deine Rückkehr nach Paris von Woche zu Woche verschoben ward, da hoffte ich im stillen, du würdest bei mir bleiben, bis Adalbert uns holt – und nun kommt's doch anders! Sag ihm nur eins: ich wäre gesund und blühte wie eine Feldblume, und mein Platz wäre an seiner Seite, sag ihm das, Cécile, ich seh ja alles andere ein und will meine Pflicht tun und auf Gott vertrauen, aber losgelöst fühle ich mich und vereinsamt, ich kann's nicht sagen, wie sehr!«

Sie kämpfte mit den Tränen, dann stand sie plötzlich auf, löste das Musselintuch und nahm ihr Jüngstes an die Brust. Und der herbe Schmerzenszug um den zarten Mund wich sanfter Trauer, wie eine Rose sich über die Knospe neigt, gab sie sich der Liebe zu ihrem Kinde hin und war in diesem Augenblick ganz Mutter. Einen Seufzer unterdrückend, blickte Cécile zu ihr hinüber, wie lange sollte die Liebe ihre Krone entbehren! Sie wußte, Blanche durfte jetzt um keinen Preis nach Paris zurück, es hätte ihren Tod oder Schlimmeres bedeutet.

»Willst du Adalberts Brief lesen?« fragte Frau von St. Hilaire.

»Ich danke dir, chérie,« erwiderte das Mädchen und trat an den Tisch, wo das Kuvert mit den festen, klaren Schriftzügen des Marquis lag. Ernster und ernster ward ihr blasses, von der schweren Krankheit gealtertes Gesicht, während sie die kurzen Zeilen überflog.

»Es sind trübe Nachrichten,« seufzte Blanche, zu ihr hinüberblickend.

Sie nickte wie abwesend. Sie, die die furchtbare Zeit mit durchlebt, die der Gefahr monatelang tagtäglich ins Auge geschaut und in die Tiefen des Abgrundes geblickt hatte, las zwischen den Zeilen eine Hoffnungslosigkeit und Resignation, die ihrer Schwägerin, der man bis zum Moment ihrer Abreise soviel wie möglich alles ferngehalten, entging. Blanche erkannte wohl die furchtbare momentane Lage, aber die Tragweite der Gefahr blieb ihr verborgen. Und es war besser so. Das junge, zarte Weib mit dem Keim jener düsteren Gemütskrankheit, das, den Säugling an der Brust, in fremdem Land mit seiner brennenden Sehnsucht nach dem Liebsten auf Erden kämpfte, hätte sich in Angst und Schmerzen verzehrt, wenn man ihm mehr als die Skizze jenes entsetzliches Bildes gezeigt. Cécile wußte das und schwieg; aber der Brief des Bruders sagte ihr, was ihrer wartete, und sie fühlte plötzlich, wie ihr alles Blut zum Herzen drang. Die stille Zeit im Frieden der deutschen Berge, die lange, lebensgefährliche Krankheit hatten manches aus jenen Tagen verwischt. Beim Empfang der kurzen, düsteren Nachrichten aus Frankreich aber erwachten jene Erinnerungen aufs neue in ihrer Seele und mit ihr die alten Sorgen, die lähmende Angst um das weiße Haupt ihres Vaters, um das Leben ihrer Liebsten. Sie kämpfte dagegen mit der ganzen Kraft ihres klaren, mutigen Herzens, aber sie war, ob sie auch fest auf Gottes Hilfe hoffte, doch oft nur äußerlich still. Die furchtbare Zeit, die in das Leben jedes einzelnen mit Blut und Eisen eingriff, forderte ihr Recht. Nach Adalberts Bericht war in Paris nichts besser, sondern alles schlimmer geworden. Die Revolution ging ihren ehernen, unaufhaltsamen Gang, der Haß wider die Königin wuchs, der König zeigte mehr denn je Schwäche und Unentschlossenheit, und die Feinde des Herrscherpaares spannen Intrigen, die der Leidenschaft des empörten Volkes täglich neue Nahrung zuführten.

»Fersen schmiedet Fluchtpläne über Fluchtpläne für die Majestäten,« berichtete der Marquis weiter, »aber bisher ist ihm selbst keiner sicher genug. Die Reichsversammlung (4. Februar 1790) ist befriedigend verlaufen, doch wer bürgt uns dafür, daß nicht alles leere Illusionen sind? Wellenartig wogen die Stimmungen der Parteien auf und nieder. Herrschte in allem mehr Vorsicht, mehr Sicherheit des Handelns und Auftretens, so wäre der Blick in die Zukunft vielleicht klarer. Aber hier ist alles in Unordnung, Gesetze und Regeln gibt es nicht. Die Fehler des Königspaares werden durch den Hochmut und Unverstand der Umgebung verschlimmert, sie reizen das Volk aufs äußerste, und nach einem kurzen Waffenstillstand ist der Pöbel zu neuer Wildheit erwacht. Fast täglich sammeln sich unter Marie Antoinettes Fenstern drohende Haufen, um Verhöhnungen hinaufzuschreien. Mitten in der Nacht hört man Schüsse in der Nähe der Tuilerien fallen.

Seit man dem königlichen Paar die Ehescheidung angetragen, haßt Marie Antoinette Lafayette mehr denn je; ohne sie zu prüfen, soll sie die Vorschläge und Pläne des Generals von sich weisen. Ich glaube, sie würde selbst die Rettung aus höchster Gefahr von seiner Hand verschmähen. Und doch, wer soll sie retten? Bis auf wenige sind alle ihre Freunde geflohen, und was will das Häuflein der Übermacht eines Volkes gegenüber, das sich selbst nicht mehr kennt! Vielleicht ist Mirabeau der Mann! Mag man über ihn denken, wie man will, er hat einen klaren Kopf, eine eiserne Hand – und das Volk vergöttert seinen aristokratischen Freund – von allen Volksführern ist er der einzige, mit dem zu reden wäre!« –

Cécile ließ das Blatt sinken und blickte durch die geöffneten Fenster über die blauen Harzberge in die Ferne. Sie fürchtete sich vor der Reise, und doch wollte sie fort. Schwere Ahnungen ängstigten sie, in ihrem schwachen Zustande sah sie alles doppelt düster. Langsam legte sie den Brief auf den Tisch.

»Ich danke dir, chérie,« sprach sie müde und schritt zur Tür. Einen einzigen Blick warf sie noch auf die junge Frau, das Glück ihres einzigen Bruders, still saß diese da und neigte das edle Antlitz über das Kind an ihrem Herzen, das nur die Mutterliebe kannte. Dann hörte Blanche die Tür gehen, Cécile hatte den Gartensaal verlassen. An das gegenüberliegende Zimmer pochte sie, eine helle, freundliche Stimme hieß sie eintreten.

An einem eingelegten Schreibtisch saß eine alte, ehrwürdige Dame, schneeweißes Haar schaute unter dem Musselinhäubchen hervor, ein schwarzes Kleid, nach französischer Sitte gearbeitet, umschloß die schlanke, zierliche Gestalt, ein turkisbesetztes Medaillon hing an langer, feiner Goldkette tief auf die Brust herab. Den edlen Zügen war jene schlichte Vornehmheit inneren Adels aufgeprägt, die nichts verwischt, jene Vornehmheit des Herzens, die den Menschen um seiner selbst willen liebt, die bei der Verrichtung jedes Magddienstes edelgeboren bleibt und dem Ärmsten an ihrer Tür mit derselben Lust Barmherzigkeit erweist, als dem Königskinde, das bei ihr Obdach sucht.

Seit einigen Jahren war Frau von Schüler allein, ihre einzige Tochter hatte sich vermählt, und seitdem war's noch mehr als in früheren Zeiten ihre größte Freude, wenn ihr Haus voll war. Seit Monaten beherbergte sie Blanche Sérévan, deren Absichten, sich in Blankenburg einzumieten, auf das energischste zurückweisend, und mit Tränen ließ sie nach Wochen aufopfernder Pflege Cécile ihre Straße ziehen. Als dieselbe jetzt bei ihr eintrat, sah sie auf die kleine über ihrem Schreibtisch zwischen Familienbildern hängende Rokokouhr.

»Ist es schon Zeit, mein Kind?« fragte sie.

»In einer halben Stunde muß ich fahren,« sagte das Mädchen. Dann holte es sich ein Bänkchen und setzte sich dicht neben die greise Edelfrau, den Kopf in ihren Schoß legend.

Sanft strich Frau von Schüler über die dunklen Locken ihres Lieblings.

»Adalbert hat eben geschrieben,« sagte Cécile, »die Nachrichten sind schlechter denn je!«

Sie schwiegen beide, es war Cécile ums Herz, als solle sie von einer Mutter Abschied nehmen.

Da rief die Betglocke von St. Bartholomae; feierlich klang's herüber wie ein heiliges Bekenntnis. Die Matrone faltete die Hände und betete mit klarer Stimme das alte » Da pacem domine«:

Verleih uns Frieden gnädiglich,
Herr Gott, zu unseren Zeiten!
Es ist ja doch kein andrer nicht,
Der für uns könnte streiten,
Denn du, unser Gott, alleine!

Einen Augenblick ruhten die Hände der Greisin auf Céciles Locken, dann richtete sich das Mädchen auf und zog die welken Finger an die Lippen.

»Ich will's nicht wieder vergessen, wer für mich streitet,« sprach sie leise, dann eilte sie hinaus. –

Wenige Augenblicke später kehrte sie im Reisemantel, von Blanche und den Kindern begleitet, in das stille Gemach zurück und nahm Abschied. Die alte Frau machte es kurz, sie fühlte, daß ihr die Kraft versagte. Mit mütterlicher Liebe schloß sie Cécile in die Arme und sagte: »Vergiß es nicht, mein Kind, daß kein Haar von unserem Haupte fällt ohne Gottes Willen!«

Noch einmal küßte die junge Französin die Hand der deutschen Frau, dann ward sie von der schluchzenden Blanche hinausgedrängt.

Wenige Minuten später rollte der Reisewagen über den Hof, und die letzten Grüße vereinsamter Kinder an Vater und Mutter klangen dem davoneilenden Gefährt nach. Jubelnd rief das Posthorn seine Weise, goldener Sonnenschein lag über dem blühenden Tal und der hellen, freundlichen Stadt, über allen Bergen und Tristen, und unter heißen Tränen zog's durch die Seele der Scheidenden, wie schwer es doch ist, von liebgewordenen Stätten Abschied zu nehmen.


 << zurück weiter >>