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Vierzehntes Kapitel
Die Gefangene von La Force

Ich möcht die Treue von dir lernen,
Die nie nach eignem Glücke strebt,
Die, alle Eigenlieb vergessend,
Ihr Leben für die andren lebt.

Ich möcht die Treue von dir lernen,
Die einzig in der Liebe ruht,
Die Treue, die ihr klares Leben
Besiegelt mit dem eignen Blut!

Wär ich so treu, mein ganzes Leben
Glich einer edlen Perlenschnur -
Doch Perlen sind gar seltne Ware –
Ach – hätt' ich eine einz'ge nur!

 

In einem düsteren Hinterhause unweit des Gefängnisses La Force saßen zwei Frauen am Fenster eines niedrigen Stübchens.

Die Abstammung der älteren zu erraten war nicht schwer, sie war ein Weib aus dem Volk, das sich müde gedient und gearbeitet und nun in einem abseits gelegenen Winkelchen auf einen ruhigen Lebensabend hoffte. Die Arbeit freilich schien ihr Geselle geblieben zu sein, aber das hatte die alte, treue Wäscherin aus dem Florapavillon weder anders erwartet noch gewünscht.

Ihr Gegenüber war eine jener vornehmen Frauengestalten, die in dürftiger Tracht die Rasse nicht zu verbergen vermögen; und auch Cécile de St. Hilaire war es im Kleide des dritten Standes nicht gelungen, ihr edles Blut zu verleugnen, die stolze Haltung, ihr ganzes Äußere, jede ihrer Bewegungen verriet die Aristokratin. Hätte man sie gesucht, sie wäre erkannt worden, aber das weltvergessene Winkelchen, das zwischen halbverfallenen alten Häusern, unter hundertjährigen Kastanien und Fliederbüschen versteckt lag, fand keiner der Mühe wert aufzusuchen, denn jedermann wußte, daß bei der greisen Julie Renard nichts zu holen war. Ihre Arbeit im Florapavillon hatte sie in den Augen ihrer Nachbarn nicht herabgesetzt, denn die Alte hatte ohne Umstände erklärt, sie diene nicht den Prinzessinnen, sondern sei von den Behörden auf ihren Posten gestellt; wieviel treue Anhänglichkeit sie den unglücklichen Fürstinnen bewahrte, wie manchen heimlichen Botengang sie seinerzeit in die Tuilerien gewagt, behielt sie für sich, denn Julie Renard war eine kluge alte Frau und setzte sich nicht unnötig der Gefahr aus.

Während Céciles schwerer Krankheit hatte sie oftmals bei ihr gewacht, und erstere hatte sich in den langen, schlaflosen Stunden aus ihrem Leben erzählen lassen. Es war nichts Sonderliches, das sie zu berichten gehabt. Sie hatte als blutjunges Mädchen einem braven Schneider ihre Hand gereicht und zwölf glückliche Jahre an seiner Seite verlebt. Noch nicht dreißig Jahre alt, stand sie mit drei kleinen Kindern an seiner Bahre, und nun begann für das arme Weib ein schweres, hartes Leben. Aber sie griff ihr Tagewerk mutig und auf Gott vertrauend an und zog ihre vaterlosen Waisen zu tüchtigen Menschen heran. Und als dann der Tod kurz nacheinander diese drei blühenden Leben von ihr forderte, wollte ihr Herz zwar brechen vor Weh, aber sie rang sich dennoch durch und kämpfte im einsamen Witwenstübchen in Gotteskraft ihre Schmerzen nieder. Die schlichte Einfalt und Klarheit, die nichts aufbauschte und nichts bemäntelte, gewann Céciles Teilnahme, und ohne es zu ahnen und zu beabsichtigen, war die alte Wäscherin die erste gewesen, welche die Kranke von den dunklen Gedanken ablenkte, die Tag und Nacht ihr Gemüt erfüllten.

Als Cécile genas, vergaß sie Julie Renard nicht; wo sie konnte, linderte sie ihre Armut, und die Alte lohnte es ihr durch treue Anhänglichkeit und Dankbarkeit. – – –

Der 10. August war mit seinen Schrecken über Paris dahingezogen. Die Bewohnerinnen des Florapavillons schmachteten im Temple. Nur eine war in das verlassene Asyl zurückgekehrt, Cécile war mit der Fürstin Tarante-La-Tremoille und Pauline Tourzel aus den Tuilerien entkommen. Stumm und still, als hätte sie die Sprache verloren, kehrte sie in die alten, vertrauten Räume zurück, und als die treue Dienerschaft Madame Elisabeths sie fragend umringte, hatte sie keine Antwort für sie. Erst als Edgeworth sie aufsuchte, fand sie Tränen, und der erste Bericht über die Schreckensnacht kam von ihren Lippen.

Und nun wollte sie mit den alten Leuten Madame Elisabeths im Florapavillon bleiben, bis sie – ja bis – sie wußte selbst nicht, was sie dem treuen Freunde als Plan und Ziel ihres Weges angeben sollte. Das Leben in Paris mit seinem stündlichen Wechsel der Gefahr hatte sie jeder Richtung beraubt, sie lebte von einer Stunde, fast von einem Augenblick zum andern. Aber Edgeworth erkannte die Gefahr, der sie sich durch ihr Bleiben im Pavillon aussetzte, er riet ihr, so rasch als möglich die Hauptstadt zu verlassen.

Cécile konnte sich nicht entschließen. »Noch kann sich mir eine Gelegenheit bieten, der Prinzessin von Lamballe von irgend welchem Nutzen zu sein,« hatte sie ihm auf seinen Vorschlag erwidert, und dann verstummte sie plötzlich. »Später will ich gehen,« setzte sie nach einer Pause hinzu, und als er ihr ins Antlitz blickte, standen ihre Augen voll Tränen.

Da verstand er sie: sie hatte von Marie Thérèse die Treue bis in den Tod gelernt. Er drängte sie nicht mehr zur Flucht. »Später,« hatte sie mit müdem Lächeln gesagt, und er mußte sich an diesem Versprechen genügen lassen.

»Gott gebe, daß es dann nicht zu spät ist!« war das einzige, was er erwiderte, aber sie schüttelte energisch den Kopf, und damit war die Sache erledigt.

Um so mehr aber sann der Abt auf Mittel und Wege, Cécile einen andern Aufenthalt ausfindig zu machen. Aber keine der Gelegenheiten, die sich ihm boten, schien ihm sicher genug.

Da kam sie ihm selbst am Tage, nachdem die oberste Intendantin nach La Force gebracht worden war, mit dem Vorschlag entgegen, sich bei der alten Waschfrau einzumieten.

»Ich werde mich verkleiden,« sagte sie, »man wird mich für ein Weib aus dem Volke halten, für eine Verwandte der Frau Renard!«

Er schüttelte ungläubig den Kopf, während sein Auge auf ihrer vornehmen Erscheinung ruhte – »mein edles Fräulein, diese Verwandtschaft wird keiner für echt halten,« sagte er lächelnd, »aber ich finde Ihren Plan nicht schlecht, da Sie nun doch einmal Paris nicht verlassen wollen.«

»Nein,« sagte sie leise, »noch nicht,« und dann setzte sie hinzu: »Frau Renards Wohnung liegt dicht hinter dem Gefängnishof, man sieht die Fenster von La Force.«

Er nickte: »Ja, ich weiß es, und was mir eine Beruhigung ist, das alte Haus liegt so versteckt in Winkelgäßchen und Höfen und hat ein so armseliges Gepräge, daß man schwerlich eine Hilaire hinter seinen Mauern suchen wird. Versprechen Sie mir nur eins: Verlassen Sie das Haus nicht!«

Sie blickte ihn mit ihren großen dunklen Augen erschrocken an. »Ich soll das Haus nicht verlassen,« stammelte sie, »unmöglich, Hochwürden! Bedenken Sie – wenn ich der Prinzessin einen Dienst leisten könnte!«

»Sie werden ihr keinen Dienst mehr leisten, die Riegel von La Force sind gegen Liebe und Treue verschlossen!« entgegnete er düster.

»Und wenn ich nichts weiter für sie tun könnte, als ihr eine Rose aus Frau Renards Garten bringen, ich bleibe in Paris,« sagte sie, wie zu sich selbst.

»Sie verweigern mir also das Versprechen, das ich von Ihnen erbitte, edles Fräulein?«

»Ich muß es verweigern,« klang ihre rasche Antwort, »zürnen Sie mir nicht, Sie würden selbst nicht anders handeln!«

Nein, das würde er nicht, sie sprach ein wahres Wort. Und so ging er, froh, daß sie wenigstens den gefährlichen Florapavillon verließ.

Es war am ersten Tage nach ihrer Übersiedelung, als Cécile Frau Julie gegenüber am Fenster saß, ein derbes Stück Leinwand unter den fleißigen Händen. Aber die Arbeit wollte nicht den gewohnten Fortgang nehmen, immer wieder schweiften ihre Blicke zu den vergitterten Fenstern des alten Staatsgefängnisses hinüber. Dumpfe, verworrene Laute klangen bis in die Stille des kleinen Hinterhauses – die beiden Frauen blickten einander an, der Tumult schien sich vor der Front des Gefängnisses abzuspielen.

»So geht es den ganzen Tag, Mademoiselle,« meinte die Alte endlich, tief aufseufzend. »Früher saß ich hier so friedlich bei meinen Blumen, und hätte ich mein eigenes Herzleid nicht gehabt, ich hätte geschworen, es gäbe keins auf der Welt. Aber setzt ist's aus mit der Ruh, bis in unsere engen Höfe dringt das Geschrei, bis in die Kammer der alten Julie – und wie hab ich mich nach Frieden gesehnt!«

Sie seufzte tief – als hätte sie eine neue Enttäuschung erfahren, und doch wohnte sie seit vierzig Jahren in diesem Viertel, und die Schrecken der Revolution waren ihr bekannt. Cécile hörte kaum auf ihre Worte. In fieberhafter Erregung blickte sie zu den düstern Fenstern hinüber, als müsse sich ein geliebtes Antlitz hinter dem Gitterwerk zeigen und ihr die letzten Grüße bringen.

Und von Angst und innerer Unruhe getrieben, erhob sie sich endlich. Die Hände auf den Tisch stützend, blickte sie der alten Frau in das ängstlich fragende Antlitz.

» Mon Dieu,« flüsterte Frau Julie, »die Demoiselle will doch nicht – –«

»Ich will nach La Force gehen und den Schließer fragen, wie Madame la princesse sich befinden,« entgegnete sie ruhig. »Fürchten Sie nichts, ma bonne, in einer Viertelstunde bin ich zurück!« und alle weiteren Einwände der alten Frau abschneidend, band sie ein Tuch um den Kopf, wie die Bürgerinnen es trugen, und eilte hinab. Aber sie kam nicht weit. Auf der ausgetretenen Schwelle stand Edgeworth, bleich und fahl, das Antlitz beinahe entstellt. Langsam trat er ihr entgegen, seine hohe Gestalt war gebeugt, als trüge er eine Last.

Entsetzt verhielt sie den Schritt – sie sah und fühlte es, er war der Träger einer Schreckensbotschaft.

Er schien auf ihr Erscheinen nicht vorbereitet, mit einem tiefen Seufzer fuhr er mit der Hand über die Stirn.

»Kommen Sie,« sagte er dann, ihre Hand fassend.

Aber sie hielt ihn zurück.

»Hochwürden,« stammelte sie, während ihr eine dunkle Blutwelle ins Antlitz stieg, ich wollte nach La Force!«

Das Geständnis ging ihr schwerer über die Lippen, als sie's geglaubt, und während sie ihm ihre Absicht mitteilte, zog ihr die letzte mahnende Bitte des treuen Freundes, das Haus der Wäscherin nur im äußersten Notfall zu verlassen, durch den Sinn.

Er aber schien ihr Erröten nicht zu gewahren und drängte sie die Treppe hinauf.

Da erwachte eine namenlose Angst in ihr, sie hatte den Abt nie so gesehen.

» Mon Dieu,« rief sie, »ist ein Unglück geschehen? Haben Sie etwas von den Meinen erfahren?« –

Aber er schob sie stumm, das Haupt schüttelnd, vorwärts, hinauf in die stille Kammer Frau Renards, die sorgenvoll, das Haupt in die Hand gestützt, nach La Force hinüberblickte.

»Nun setzen Sie sich, armes Kind,« sprach Edgeworth mit verschleierter Stimme, und während er ihre Hand in der seinen behielt, blickte er mit tiefem Kummer in die fragenden Augen.

»Die Prinzessin von Lamballe – –« er kam nicht weiter – Cécile war emporgefahren, ein herzzerreißender Schmerzensschrei klang durch den engen Raum. – – –

»Um der Barmherzigkeit willen – – sie ist ermordet?!«

»Ja,« sagte Edgeworth tonlos und fing die Ohnmächtige in seinen Armen auf.

»Das wußte ich!« sagte die alte Frau, während sie dem Abt behilflich war, Cécile auf das ärmliche Bett zu tragen. »Das wußte ich, hochwürdiger Herr – nun hat sie keine Freude mehr auf Erden, keine einzige Freude!« -

Die hellen Tränen rannen über das runzlige Gesicht. Er nickte wie geistesabwesend. Das Wort war ihm in diesem Augenblick aus der Seele gesprochen. – – – – – –

Währenddessen tobten die wachsenden Volksmassen zum Temple. Männer, Weiber und Kinder heulten Revolutionslieder unter den Fenstern des Königspaares; man unterschied die Worte: »Die Österreicherin! Lamballe!« welche, alles andere übertäubend, fortwährend wiederholt wurden.

Erschrocken eilte Marie Antoinette zum Fenster, der Name der Freundin ließ sie erzittern.

Da schwebte ein bleiches, blutiges Antlitz, von langen, lichten Locken umflattert, vor ihren Augen, ein Antlitz, das sie seit den Tagen des Glücks gekannt und heiß geliebt hatte. Und zum ersten- und einzigenmal während ihrer Gefangenschaft verließ die unglückliche Königin die Kraft. Die Sinne schwanden ihr, sie sank schwer auf den Boden.

Die Nacht brach an, eine klare, sternübersäte Herbstnacht. Auf dem kleinen Turm des Temple lag schimmerndes Mondlicht; die Fenster waren dunkel, nur in der Wachtstube flackerte die Laterne des Schließers. Still war's im Hof, so still wie in Friedenszeiten, und doch sollten mit dem Morgengold Kampf und Gewalt und Anklage erwachen wie alle Tage.

Die Dämmerung brach an. Die Königskinder lagen noch in tiefem Schlaf und verträumten die Tränen, die sie gestern geweint; in dem öden Turmgemach im zweiten Stock aber lag die unglückliche Frau auf den Knien, der man Stück für Stück nahm, was sie geliebt und besessen.

Stunde um Stunde verrann, noch immer betete und schrie sie zu Gott um Glauben und Kraft. Sie fühlte sich vereinsamter und bedrängter denn je. Und doch war diese Stunde noch nicht die schwerste für Marie Antoinette. Noch konnte sie in Gott ihre Kraft suchen, und fand, wenn auch nach schwerem Ringen, den Trost im Bewußtsein seines Erbarmens wieder, noch besaß sie die höchsten irdischen Schätze, die ein Weib sein eigen nennt. Noch durfte sie über ihr eigen Fleisch und Blut die Hände breiten und das Kind ihres Herzens mit Mutterliebe umfangen – – und diese Liebe hielt sie aufrecht.

Das Morgengold blickte ins Fenster, sie lag noch immer auf den Knien. Da umfaßten zwei kleine Arme die müde Frau. »Weine nicht, chère maman,« hörte sie es, wie so oft, an ihrem Ohr flüstern, und ein blondlockiges Kinderköpfchen schmiegte sich zärtlich an ihre Schulter. »Weine nicht, chère maman – ich bleibe bei dir immer, immer!« Diesem Versprechen folgte ein Kuß nach dem andern.

Marie Antoinette trocknete ihre Tränen und blickte in die kindlichen Züge Karl Ludwigs. Die Sonne war aufgegangen, und ihr lichter Glanz umfloß die Gestalt des Königskindes, als wöbe sie ihm ein Kleid aus Gold und Edelsteinen. Lächelnd küßte die Mutter das blasse Gesichtchen, dem Luft und Wärme so lange gefehlt. Dann preßte sie den kleinen Körper fest an sich und flüsterte leidenschaftlich: »Ja, du bleibst bei mir immer, immer, Gott segne und behüte dich, mein Sonnenkind.« Ruhig erhob sie sich von den Knien, ihr Antlitz war klar und still. Ihre letzten Tränen waren auf das Köpfchen des Knaben gefallen, den sie einst in stolzem Mutterglück das Kind von Frankreich geheißen. Heute war der Erbe der Krone ein armes Büblein, das in geflickten Kleidern einhergehen mußte und kaum satt zu essen erhielt.

Aber die Mutterliebe hatte längst vergessen, nach dem Glanz des Thrones zu trachten, sie ließ sich daran genügen, ihr Kind in den Armen zu halten – es blieb ja doch ihr Königskind.


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