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Zweites Kapitel
In der Märchenstadt

Ich weiß ein Städtlein schmuck und blank,
Im Schild führt's die Forelle!
Kennst du's noch nicht, so rat ich dir,
Reis' eilends hin, Geselle!

Es liegt am Harzrand still und traut
Wie eine Bergessage –
Ein lieblich Bild aus alter Zeit,
Ein Stück verklung'ner Tag«!

Frau Aventiure sitzt dabei
In langen goldnen Locken,
Winkt lächelnd mit der weißen Hand,
Die »Stadt« ist's »vor dem Brocken«!

 

Frühlingsglanz lag über der jungen Saat, über dem knospenden, blühenden Grund, über den tannenumrauschten Harzlanden mit ihren blauen Bergen und rauschenden Waldbächen. In den Tälern kämpften noch die Nebel mit dem ausgehenden Licht, spinnwebartig schwebten sie über den Wiesen, als hätte die Waldfrau ihre weißen Schleier in die Zweige gehangen, und die Sonne funkelte darüber hin, als wollte sie tausend Kleinodien über die bräutliche Erde streuen.

Kein Laut ging durch die vom ersten Grün überhauchten Wipfel, schweigend standen die ehrwürdigen Stämme, als rüsteten sie sich zur Waldandacht; nur die Bienen summten im jungen Laub, und ein schillernder Käfer wanderte raschelnd durch die braunen Blätter vergangener Monde – sonst war alles still.

Zwei Wanderer schritten auf dem grünen Pfade dahin, ein gebräunter Mann mit frischem, energischem Gesichtsausdruck und ein hochgewachsener Jüngling, der den Waldzauber still auf sich wirken ließ; es war der junge Fersen mit seinem Präzeptor. Erst vor kurzem hatten sie die enge Stadt verlassen, die staubigen Folianten lagen hinter ihnen, und das schöne Braunschweig, dessen Militärschule Jean Axel besucht, war über den ungeahnten Wundern der Harzlande fast vergessen; war's ihm doch oft, als erlebte er ein Märlein, wenn er die sonnigen Hänge hinabblickte, oder die dunklen, tannenumrauschten Pfade wandelte, als müßte aus dem Schatten der Farne eine Elfe treten, oder ein Waldgeist hinter efeuumsponnenem Gestein hervorlugen. In jedem Winkel vermeinte er die Sage sitzen zu sehen, die ihre zarten Schleier um die grauen Ruinen von Burg und Klosterhof, um Wald und Felsen und Bergbach wob, und einen Augenblick war's ihm, als müßt er an das Dasein all der Geisterlein glauben, die ihn, dank der Überlieferung einer germanischen Kindermuhme, durch seine Jugend begleitet. Aber als der Wald sich dann lichtete, als Herdengeläut und Jauchzer ihn grüßten, und die Bewohner der Berge ihm ihr schlichtes Willkommen boten, da dacht er in seinem Sinn, es sei doch ein recht dummes Büblein gewesen, das einst auf dem Schoß der guten Alten gesessen, und er mußte laut auflachen. Herr Bolemanny sah ihn belustigt an.

»Was reizt Sie in dieser grünen Stille zum Lachen?« fragte er.

»Die Erinnerung an die Zeit, da ich auf Mutter Karstens Knien saß und Nacht für Nacht von den Damen des Blocksbergs träumte,« erwiderte Fersen. »Es war doch eine schöne Zeit, und das Leben wird nie wieder so märchenhaft, wie damals in der Kinderstube an den langen Winterabenden oder im Sommer unter der Linde!«

Er schwieg; gedankenvoll blickte er in den sonnenbeglänzten Wald, der sich wie ein Dom über ihnen wölbte.

»Ja, es war eine sonnige Zeit,« sagte sein Begleiter, »aber wenn's immer so bliebe, würden wir nicht wachsen, und das Leben würde uns als ein Ammenmärchen erscheinen. Das Kind mit seinem Glauben an Wicht und Gnom hat etwas Anmutendes, seine großen Augen, mit denen es am Munde des Erzählers hängt, etwas Unvergeßliches, aber der Märchenglaube darf nicht mit ihm aufwachsen, das Märchen muß rechtzeitig seine wahre Überschrift erhalten. Es ist eine Torheit, ein Kind mit Ersonnenem zu überfüttern zu einer Zeit, da die großen Wahrheiten des Christentums zum erstenmal in das junge Herz getragen werden, einer Zeit, da es Wahrheit und Dichtung noch nicht zu unterscheiden weiß. Durch solch Durcheinandererzählen wird leicht die Tiefe und Innigkeit des Glaubens an den Heiland, deren gerade ein Kind fähig ist, untergraben, und das Samenkorn, das zum starken Halt unseres Lebens erwachsen soll, bleibt schwach und zeitigt keine Frucht!«

»Ja, Sie haben recht – wie immer, liebster Bolemanny,« sagte Jean Axel, »ich bin setzt auch froh, daß ich nicht allzulange unter Mutter Karstens Fittichen blieb – Sophie hat dafür all ihre Märchen und Sagen anhören müssen, sie hat noch heute keinen anderen Gedanken!«

Herr Bolemanny nickte verständnisvoll.

»Es kann nicht mehr lange währen, und wir genießen eine herrliche Ausschau auf Wernigerode,« sagte er stehenbleibend. »Dieser Blick ist der Glanzpunkt des oberen Zwölfmorgentales! Das schmucke, altertümliche Städtlein wird Ihren Beifall finden! – Im übrigen ist's gut, daß wir wieder unter Menschen kommen, sonst blickten wir doch noch der Prinzessin Ilse oder einer anderen Huldin zu tief in die Augen,« setzte er schalkhaft hinzu. »Als ich als Knabe mit meinem Vater hier war, gefiel mir unter den Harzstädten Wernigerode am besten, ich bin begierig, ob's noch so ist!«

»Ich weiß es noch nicht, welche mir die liebste ist,« sagte sinnend Jean Axel, »eine erscheint mir immer schöner als die andere – aber warten wir – vielleicht erhält Wernigerode die Palme. Als ich in Goslar im Kaiserhause stand, meinte ich, es gäbe nichts Herrlicheres als den weiten Blick aus den hohen Räumen, als Prinzeß Ilse im Buchenschatten über die Felsblöcke sprang, hätt' ich am liebsten einen Wettlauf mit ihr gewagt, im Okertal war's zauberhaft, und das schöne Blankenburg mit seinen historischen Erinnerungen, von denen die jüngste an den Aufenthalt der Kaiserin Maria Theresia mich sonderlich anmutet, wird mir unvergessen sein – all der Burgen und Klöster, die wir ausgesucht, nicht zu gedenken – ich komme mir ganz romantisch vor, Bolemanny!«

Der Präzeptor lachte und nickte Jean Axel freundlich zu, dessen strahlende Augen und gerötete Wangen ein deutlich Zeugnis von Wohlsein und Frohsinn ablegten. Sie hatten auch beide die frische Luft, die sie den Bücherstaub vergessen ließ, verdient, denn Lehrer und Schüler hatten es sich in den langen Wintermonden in Braunschweig redlich sauer werden lassen. Nun lag die schöne Harzreise hinter ihnen, sie hatten fast alles erstiegen, was zu ersteigen war, alles Sehenswerte genossen, Wernigerode sollte den Schluß bilden, dann wollten sie noch einmal nach Halberstadt zurück, um dem Dichter Gleim, der Bolemannys Mutter gekannt, Lebewohl zu sagen, bevor sie ihre Reise, deren nächstes Ziel Basel war, langsam fortsetzten, denn was Kunst und Natur unterwegs boten, sollte Jean Axel kennenlernen.

Mehr und mehr lichtete sich der Wald, wenige Schritte noch, und sie standen am Rande einer blühenden Wiese, von quellenden Bächen getränkt. Jean Axel aber blickte staunend über die grünen Matten hinweg. Wie ein Juwel im grünen Sammet lag das helle, freundliche Städtlein den blauen Bergen zu Füßen, auf seinen Kirchtürmen und altertümlichen Dächern blinkendes Sonnenlicht, in duftumwobener Ferne die weite Ebene und, einer Fata Morgana gleich, die ehrwürdigen Türme von Halberstadt. Zur Rechten aber ragte hoch über Markt und Straßen ein altes, efeuumsponnenes Schloß, die stolze Heimstätte der Harzgrafen. Und über dem glänzenden wundervollen Bilde blauer, wolkenloser Himmel, Herdengeläut und Waldesfrieden.

Jauchzend streckte sich Jean Axel in das Gras.

»Bolemanny,« rief er, »Mutter Karsten hat doch recht, dies ist eine Märchenstadt, schöner kann's in Italien auch nicht sein!« und, versunken in den Anblick des lieblichen Bildes, wollte er sich gar nicht wieder davon trennen. »Lassen Sie uns ein Stündchen hier oben rasten,« bat er, als sein Präzeptor zum Aufbruch mahnte, »es ist nicht jeder Tag so wonnig, und vor allem erzählt uns nicht jeder ein Märchen!«

So blieben sie. Erst nach Stunden, als der Hunger sich einstellte, gab der junge Fersen nach, und sie rüsteten sich zum Abstieg. Die Mittagszeit war längst vorüber, als sie in Wernigerode anlangten; aber Jean Axel war noch voller Lebenslust und hatte keine Ruhe, bis sie sich nach kurzer Rast im Ratskeller aufmachten, die Märchenstadt zu durchwandern. Lachend stand er unter dem alten Wernigeroder Wahrspruch:

»Was nützt mich Licht, was nützt mich Brill',
Wenn ich die Mäus' nicht sehen will!«

Dann verließen sie das altertümliche Rathaus, dessen künstlerische Vereinigung des Stein- und Holzbaues Fersen nicht genug bewundern konnte. Hellen Auges wanderte er an all den Erinnerungen vergangener Tage vorüber, an den alten, geschnitzten Wohnstätten mit dem Hausspruch über dem Eingang, mit den sonnigen, nelkenumblühten Erkern und den blanken, runden Scheiben.

»Ich muß immer an Dornröschen denken,« sagte er, als sie endlich, durch das Westerntor heimkehrend, ihre Schritte der aus dem dreizehnten Jahrhundert stammenden Sankt Silvestrikirche zulenkten, deren Besichtigung Bolemanny bis zuletzt aufgeschoben.

Um die Kirchenfenster und den geschnitzten Erker des gegenüberliegenden Gadenstädtschen Hauses spielten schon die letzten Sonnenstrahlen, leuchtend ging der Frühlingstag zur Neige. Leise traten sie in die alte Basilika. Maien schmückten Kanzel und Altar, und droben im Glockenstuhl wurden eherne Stimmen lebendig. Es war der Vorabend des Pfingstfestes. Andächtig lauschten sie den vollen, tiefen Klängen, und Jean Axels Gedanken wanderten heimwärts übers Meer, wo er mit Vater und Mutter an heiliger Stätte gekniet. Eine Träne rann ihm über die Wange, als er das Haupt über die gefalteten Hände neigte.

Der letzte Glockenton war verhallt, da setzten junge Stimmen ein und einten sich jubelnd zum feierlichen Chor:

»Du wertes Licht, gib uns deinen Schein!
Lehr uns Jesum Christ kennen allein,
Daß wir an ihm bleiben, dem treuen Heiland,
Der uns bracht hat zum rechten Vaterland –
Kyrieleis!«

Dann ward es still, einer nach dem anderen kam vom Chor herab, und die beiden Fremdlinge verließen mit einem letzten Blick auf den maiengeschmückten Altar das Gotteshaus.

Am Himmel funkelten die ersten Sterne, silbern ging der Mond über den Bergen auf.

Jean Axel hing sich an den Arm seines Präzeptors, während sie den Weg zur »goldenen Forelle« einschlugen. »Bolemanny,« sagte er leise, »das war doch das Schönste!« – – –

Die Pfingstglocken waren wieder verklungen, als die Reisenden die »Stadt vor dem Brocken« verließen. Lind und warm ging der Maitag zur Neige, als sie das bischöfliche Hochstift betraten. Halberstadt war ihnen bekannt, und die kurzen Abendstunden sollten Gleim gehören, denn in der Frühe des nächsten Morgens rief das Posthorn, und es hieß Abschied nehmen.

Im Schatten des majestätischen Domes hinter dem Chor lag Vater Gleims schlichtes Haus. Durch den lauschigen Hintergarten plätscherte die Holtemme, der Poetengang war vom ersten frischen Grün umlaubt. Jean Axel und Bolemanny betraten die Dichterwohnung – alles war still, und schon blickten sie sich fragend an, wie ausgestorben schien ihnen das alte Haus. Wartend standen sie im Flur, als sich aber keine Seele blicken ließ, beschlossen sie, in den Garten zu gehen und dort ihre Nachforschungen fortzusetzen. Aber auch hier nur Drosselsang und das Rauschen des Bergbaches, dessen Bekanntschaft sie schon in der Märchenstadt gemacht. Schon wollen sie den Rückzug antreten, als sich oben ein Fenster öffnete und ein fein gepudertes Köpfchen sich zeigte.

» Ah, quel plaisier!« hörte man dann die kleine Schönheit, ins Gemach gewandt, zwitschern, »es sind die Schweden!«

Und dann erschien ein zweiter gepuderter Kopf, das freundliche, milde Antlitz eines älteren Herrn im violetten Frack mit Spitzenjabot tauchte neben dem rosigen Gesichtchen auf und grüßte erfreut die beiden Ankömmlinge. »Aber warum sind Sie denn nicht heraufgekommen, liebster Bolemanny? Sie wissen doch, wenn der Vater Gleim sonst nirgends zu finden ist, sitzt er im Freundschaftstempel! – Geh hinab, Sophie Dorothea, und geleite die lieben Gäste herauf,« wandte er sich darauf an seine Nichte, und die liebliche Hausehre folgte rasch dem Befehl.

In ihrem großgeblümten, duftigen Sommerkleide, in Fichu und zierlichen Stöckelschuhen stand sie unter der weinumrankten Tür, wie ein altes Bild erschien sie den beiden Männern in ihrer anmutigen Festtracht, ihrer Frische und Ursprünglichkeit.

»Ihr schaut ja aus wie ein Maienröslein, Jungfer Gleim!« scherzte Bolemanny, als sie die Treppen emporstiegen. »Der Freundschaftstempel ist heute sicherlich voll edler Gäste, und wir armen Wandersleute sind verstaubt wie Müllersknechte – –«

»Dem Übel wäre abzuhelfen,« lachte sie, eine Reihe blendender Zähn« zeigend, zog ein Spitzentüchlein hervor und begann den Rock des alten Bekannten abzustäuben.

Zaudernd und errötend blickte sie dann auf Jean Axel. Der aber verneigte sich tief vor ihr und sagte artig: »Wenn die Feenhände der Freundschaftsgöttin auch mein armes Röcklein vom Staube befreien möchten, so würde ich diese Gunst nie vergessen,« und die schöne Nichte des Domsekretärs ließ ihr Tüchlein über die Kleider des jungen Kavaliers fahren.

»Schade, daß die Freunde nicht mehr alle beisammen sind,« sagte sie, die Saaltür öffnend, an welcher ihnen der würdige Gleim entgegenkam.

»Nun, das heiß ich eine Freude, mein lieber Graf,« begrüßte er Fersen, »aber daß Sie, teuerster Bolemanny, den Freundschaftstempel vergessen konnten, verzeihe ich Ihnen im Grabe nicht,« drohte er scherzend, und Jean Axel gestand: »Wir wären fast umgekehrt!«

Dann führte der Dichter sie seinen Freunden zu. Es war nur ein kleiner Kreis, der sich heute um ihn geschart, die Domherren waren schon heimgegangen, und nur noch Rämler, der Kanonikus Jacobi und Gleims heißgeliebter Klopstock saßen um den runden Tisch. Den auswärtigen Freunden Gleims, insonderheit Klopstock, galt das heutige Fest, aber der Gefeierte schien es nicht bemerken zu wollen, daß er der Mittelpunkt war. Freundlich begrüßte man die neuen Ankömmlinge, und der Dichtervater machte die Herren miteinander bekannt. Wie eine Sylphide schwebte Sophie Dorothea mit Punsch und Backwerk durch den kleinen Kreis, und Vater Gleim blickte mit strahlendem Lächeln auf seine Gäste, deren Stimmung mit jedem Augenblick fröhlicher wurde. Klopstock mußte seine Fabel »Ein kluger Maler in Athen«, die er einst dem großen Preußenkönig vorgetragen, Klopstock bei Friedrich II. im Jahre 1760. zum besten geben, und der bescheidene, geistvolle Dichter tat es nach vielem Bitten. Jean Axel konnte das Auge nicht von ihm wenden; er war die Seele des Ganzen, und der junge Schwede hätte gar zu gern mehr gehört, aber Klopstock brachte das Gespräch gleich wieder auf andere Dinge, und das Reden über die schönen Künste, über Religion und Politik wollte kein Ende nehmen.

Es war spät geworden, als man sich trennte, Jean Axel und Bolemanny waren die Letzten, welche dem Dichtervater Lebewohl sagten. Liebevoll legte Gleim die Hand auf des ersteren Schulter und sagte, dem Jüngling tief in die Augen blickend: »Vergessen Sie uns nicht über all dem Schönen, das Ihrer wartet, lieber Graf, und denken Sie bisweilen an das alte Haus hinter dem Halberstädter Dom!«

Sophie Dorothea stand mit gesenkten Wimpern daneben, Bolemanny meinte, eine Träne darin glänzen zu sehen.

»Armes Kind!« dachte er bei sich, während sein Auge auf der zarten Gestalt ruhte, »du träumst einen Traum ohne Hoffnung!«

Und dann schieden sie.

Als sie um den Dom bogen, blickten sie sich noch einmal um. Auf der Schwelle des kleinen Hauses stand der Dichter und winkte ihnen den Scheidegruß. An seiner Seite am Türpfosten lehnte das schlanke, junge Mädchen, die Hand, die das Spitzentuch hielt, hing schlaff am Körper nieder, unbeobachtet zerflatterten die Rosen an ihrer Brust im Nachtwind. Bisweilen legte sie die Linke über die Augen, als wollt' sie Tränen verbergen, und in stiller Sehnsucht folgte ihr Blick der hohen Gestalt des jungen schwedischen Kavaliers.


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