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Achtzehntes Kapitel
Der letzte Schmerz

Des Lebens höchster Inhalt ist das Glück,
Des höchsten Glückes Inhalt ew'ges Leben.

 

Ein glühend heißer Sommertag ging zur Neige. Kein Blatt regte sich, eine schwüle, dumpfe Atmosphäre lagerte über Paris, im Süden standen drohende Wetter, und ab und zu zuckte ein fahler Blitz aus dunklem Gewölk, fern verhallte der Donner. Hinter den vergitterten Fenstern des Temple stand die hohe Gestalt der Königin Marie Antoinette. Wer sie vor zwanzig Jahren im Glanze der Majestät oder als anmutige, sorglose Herrin von Klein-Trianon gesehen, der kannte sie nicht wieder. Aus dem flatterhaften, nur nach Schönheit und äußeren Schein fragenden Kinde war ein Weib geworden, das der Schmerz zerbrochen und die Not gewandelt. Kein Lächeln kam mehr über das Antlitz, das der Gram gefurcht, die Augen, die einst so fröhlich geleuchtet, waren erloschen, der Mund herbe geschlossen. Aber sie hatte all ihr Ungemach ertragen bis zu jener einen Stunde, da das Maß der Grausamkeit voll geworden. Sie war geknechtet und mißhandelt, ihre Majestät war in den Staub gezogen, ihre Krone zertreten, ihr Gemahl, den sie in zwölfter Stunde lieben und ehren gelernt, war von Henkershand gerichtet, ihr selbst drohte das gleiche furchtbare Schicksal – aber das war's nicht, was ihre letzte Kraft zerbrach, was sie siech und krank machte, krank an Leib und Seele, was in der Tiefe ihres Herzens die Frage wachrief: »Wo ist nun dein Gott?« Sie hatte Unsägliches erlitten und ihr Kreuz tragen gelernt, bis zu dem Augenblick, da man ihr das höchste Kleinod, das sie besaß, entriß, Karl Ludwig, ihren heißgeliebten Sohn. Das war mehr, als Mutterliebe ertragen konnte, es war härter, tausendmal härter als der Tod. Wie ein Bann lastete es auf der unglücklichen Frau, sie begann, an Gott und seinem Erbarmen zu zweifeln.

Woche um Woche war verstrichen, seit der Königssohn seinem Peiniger hatte folgen müssen, und die arme Mutter sah und hörte nichts von dem zarten Kinde, das mehr als ein anderes der Liebe und Pflege bedurft hätte. Da entdeckte sie eines Tages eine Öffnung im Holzwerk der Mauer. Sie spähte hindurch und erblickte den Kleinen, welcher unter der Obhut des Schusters Simon auf der Plattform frische Luft schöpfte. Und seit jener Wahrnehmung stand sie Tag für Tag, Stunde um Stunde auf ihrem Wachtposten und wartete, ob ihr unglückliches Kind vorüberkommen werde, doch ihre Hoffnung ward meist getäuscht, der schändliche Simon gönnte dem Königsknaben nur selten eine kleine Erfrischung.

Marie Antoinette ward nicht müde, nach ihrem Liebling auszuschauen, und so stand sie auch heute, ungeachtet der Bitten ihrer Tochter, sich einen Augenblick Ruhe zu gönnen.

»Sie kommen nicht mehr, chère maman,« sagte die junge Prinzeß und schmiegte ihr zartes Köpfchen an die Schulter der Mutter. »Ich bitte dich, lege dich hin, du siehst so krank und müde aus!«

Aber die Königin schüttelte stumm das Haupt, und Marie Thérèse setzte sich seufzend neben Madame Elisabeth an den roh gezimmerten Tisch und begann die zerrissene Wäsche, welche in einem Tragkorb neben den Fürstinnen stand, zu stopfen. Die Tränen niederkämpfend, beugte sie sich über ihre Arbeit. Sie sah es nicht, wie das Antlitz ihrer Mutter, welche ihr den Rücken zuwendete, sich vor Schmerz verzog, wie eine tödliche Blässe über ihre Züge ging, wie die abgezehrte Hand sich zitternd am Pfosten hielt. Immer größer wurden die Augen der Königin; auf der Plattform sah sie ihr Kind, die abgemagerte, kleine Gestalt in Lumpen gehüllt, das Gesicht von Angst und Kummer entstellt, statt der lichten Locken, die längst unter der Schere gefallen waren, eine rote Jakobinermütze auf dem Kopf, von seinem verworfenen Wächter verfolgt. Sie sah es, wie der Mann den Kleinen schlug, sah den Ausdruck herzzerreißenden Elends in den kindlichen Zügen, den unverstandenen Schmerz in den schönen Augen – und sie hatte genug gesehen. Laut aufschluchzend wandte sie sich ab und warf sich in die Arme ihrer Schwägerin.

»Meine Ahnung betrog mich nicht,« jammerte sie, »ich wußte es, daß er leidet! Mein Herz würde es mir sagen, wenn er hundert Meilen von mir entfernt wäre! Keine Stunde bin ich ruhig gewesen; immer habe ich die Tränen meines unglücklichen Kindes gesehen – sie sind mir schwer aufs Herz gefallen. O, Elisabeth, ich habe an nichts mehr Freude, es fehlt mir zu allem der Mut – Gott hat mich verlassen!«

Sie stieß es hervor, in Tränen gebadet barg sie das Antlitz an der Schulter der Schwägerin, die ihr in ihren Leidenstagen soviel geworden.

Elisabeth hatte sich, seit sie ihr Gefängnis teilte, eng an sie angeschlossen. Was sie einst voneinander schied, Marie Antoinettes Oberflächlichkeit und Eitelkeit, es war längst in dem scharfen Läuterungsfeuer dahingeschwunden, und wie der Phönix aus der Asche wuchs jene stille Größe, jenes Tragen und Dulden daraus hervor, welches nur der Geist Gottes erzeugt.

Als das Übermaß des Schmerzes der unglücklichen Frau die Klage der Verzweiflung auf die Lippen legte, da zweifelte die fromme, starke Elisabeth nicht an ihr. Sie wußte, die Qual war zu groß gewesen, sie verstand es, daß in diesem Augenblick Zweifel an der Allmacht und Liebe Gottes in dem Herzen der armen Mutter erwachten, aber sie vertraute fest darauf, daß diese Krisis eine Wendung zum Guten nehmen werde, zu dem Frieden, der höher ist als alle Vernunft.

Tage vergingen, ehe Marie Antoinette das Gleichgewicht wiederfand. Mochte kommen, was da wollte, sie ließ es stumm über sich ergehen, still lebte sie ihr trübes Leben, ihre Tränen schienen versiegt seit jener schlimmen Stunde. Aber in den stillen Nächten, wenn keiner des anderen Schmerzen sah, reifte unmerklich Gottes Saat zur Frucht. In die tiefste Verlassenheit und Leidensnot leuchtete das helle Licht, das allen Erdenglanz verdunkelt, in die arme Gefängniszelle durch verschlossene Türen war einer getreten, dessen Gnadennähe alles Elend klein und gering erscheinen läßt. Und klein und gering war ihr alles Irdische in jenen Nächten, als schaue sie durch die engen Fenster ihres Kerkers in ein fernes Land, auf eine heilige, hochgebaute Stadt, wo der Tod nicht mehr weilt, wo es kein Leid und Geschrei, keine Schmerzen mehr gibt, als wisse sie's: das ist die Heimat – bald kommst du zur Ruh! – Sie hatte sich so oft nach Glück gesehnt und es doch auf Erden nie ganz besessen. Jetzt erkannte sie's, warum jene Leere nie geschwunden, warum sie in all ihrem Glanz und Reichtum so arm geblieben. Der Schatz der Schätze hatte ihr gefehlt, die Gewißheit jenes köstlichen Erbes, das behalten wird im Himmel.

Und mit der Sehnsucht nach dem Trunk aus der lebendigen Quelle kehrte der Glaube an das Walten ewiger Liebe und Barmherzigkeit in die arme, geängstete Seele zurück. Die Zeit mit ihren Wirren lag hinter ihr, das Härteste, das ihr auf Erden begegnen konnte, war ihr begegnet, denn den Tod fürchtete sie nicht, sie sah in ihm den Boten Gottes, der ihre Bande lösen und sie hindurchführen sollte durch das finstere Tal, der Erfüllung ihrer letzten, größten Hoffnung entgegen: bei dem Herrn zu sein allezeit.

Still und stark blickte sie nach den dunklen Kampfesstunden der Nacht ins Morgengold, als wären ihre Lenden mit dem Schwert umgürtet, das die Pforten der Hölle bezwingt, als gäbe es nichts mehr, das den Frieden ihrer Seele trüben könnte.

Von Nôtre Dame riefen die Frühglocken – es war das letztemal, daß sie jene Klänge in der alten Zwingburg der Tempelherren vernahm; um Mitternacht öffneten die Schergen ihre Zelle und überführten die ehemalige Königin von Frankreich und Navarra in das elende Gefängnis, das mehr als ein anderes den Namen eines Kerkers verdiente, die Conciergerie.

Es war am 10. August 1793.


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