Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel
Saint Denis

Wer das Kreuz anschaut, dem wird es zum Sieg und Segen,
Wer es verachtet, den trifft sein zermalmender Fluch!

 

In seinem behaglichen Salon in einem alten, einstöckigen Hause der Rue Saint Honoré saß Graf Fersen und schrieb an seinen Vater. Oftmals flog sein Blick über das Papier hinweg durch die geöffneten Fenster, Sonnenglanz und blauer Himmel blickten herein, und die Hyazinthen und Tulpen, die der Blumenfreund hinter dem kleinen, eisernen Gitterwerk gezogen, wiegten die duftenden Köpfchen im Morgenwind. Lachen und Scherzen klang herauf, es war, als habe der Mai mit seinem Knospen und Blühen alle Welt bezaubert.

Aber Jean Axel sehnte sich in diesem Augenblick nicht hinaus. Es war die schönste Stunde des Tages für ihn, wenn er an seinen Vater schrieb, oder wenn ein Brief des ehrwürdigen Feldmarschalls an den Sohn eintraf. Was ihn gedankenvoll machte, war die beim Schreiben wachgerufene Erinnerung an vergangene Tage, an Erlebnisse, die noch nicht allzulange hinter ihm lagen, an Freuden und Empfindungen, die ihm bisher fremd gewesen. Er hatte eine unbegrenzte Liebe und Verehrung für seine Eltern und schrieb dem Vater oft. Graf Fersen und seine Gemahlin waren genau über das Leben ihres Sohnes orientiert, und doch meinte Jean Axel oft, noch nicht genug berichtet, seine Empfindungen und Ansichten noch nicht klar genug dargelegt zu haben. Der Briefwechsel mit dem Vater war dem jungen strebsamen Manne zum tiefsten Bedürfnis geworden, wie der Trunk aus frischem Quell nach rastlosem Tagewerk. Jean Axels Arbeit bestand freilich großenteils in Geselligkeit; er verkehrte in den ersten Kreisen, ward bei Hofe gern gesehen, und Marie Antoinette bevorzugte den Träger des alten, vornehmen Namens vor vielen anderen. Wenige Tage nach dem Hofball in Versailles, wo er der Kronprinzessin vorgestellt wurde, hatte er eine zweite Begegnung mit der fürstlichen Frau auf einem der Opernbälle, die damals das Rendezvous der vornehmen Welt waren. Ein eleganter weiblicher Domino redete den schwedischen Edelmann mit sympathischer Stimme an. Er ließ sich auf das Abenteuer ein, und die Fremde blieb in längerer Unterhaltung an seiner Seite, bis man rings die Köpfe zusammensteckte. Da erklärte sie, es sei Zeit, zu gehen und flüsterte lächelnd, die Maske lüftend: »Marie Antoinette!« – Zum letztenmal hatte er die Kronprinzessin dann auf einem Hofball in Versailles gesehen, doch ohne, daß sich dieselbe ihm diesmal näherte. Aber wie ein Traum schwebte ihr Bild über dem Leben des jungen Kavaliers, seiner Seele noch kaum bewußt, dem Bilde der Madonna gleich, in wunschloser Verehrung. –

Der Winter war dahingegangen, Fersen hatte die Saison in vollen Zügen genossen. Graf Creutz hatte seinen jungen Landsmann überall eingeführt, er hatte viele, zum Teil höchst interessante Bekanntschaften gemacht, und war überall mit offenen Armen empfangen worden. Aber fast ward ihm das Treiben und Hasten nach Vergnügen zuviel, und er empfand es oft als eine Wohltat, wenn ein stillerer Tag kam und er den Abend behaglich im Hause einer bekannten Familie verbrachte oder einen Freund bei sich sah. Er stand mit den Offizieren der Elitetruppe auf kameradschaftlichem Fuße und war besonders mit Adalbert de St. Hilaire, in dessen Elternhause er auch verkehrte, befreundet. Bisweilen blieb er auch abends allein, lesend und sein Tagebuch schreibend oder korrespondierend. Seit er der Fürsorge eines Präzeptors entwachsen und sein treuer Freund und Begleiter, Herr Bolemanny, nicht mehr um ihn war, hatte er mehr denn je das Bedürfnis, seine Gedanken dem Papier anzuvertrauen, sei es seinem Tagebuch oder Briefen. Vieles schrieb er sich von der Seele herunter, und die klaren, liebevollen Antworten des Feldmarschalls auf die mancherlei Fragen des Sohnes erleichterten ihm viele Schwierigkeiten, lösten manche Gewissenszweifel.

Jean Axel achtete auf sich und arbeitete an sich; er genoß, was ihm geboten ward, aber er war maßvoll und suchte sein Gewissen rein zu halten. Oft schien es den Eltern, als sei er für seine neunzehn Jahre zu streng gegen sich selbst, aber sie waren andererseits dankbar, daß ihr Sohn Charaktereigenschaften besaß, die sie ruhig in die Zukunft blicken ließen, und ermunterten ihn bisweilen nur, alles Schöne, das ihm geboten würde, zu genießen, eine Ermahnung, die Jean Axel treulich befolgte.

Stimmen klangen im Korridor. Gleich darauf erschien Fersens Diener auf der Schwelle und meldete seinem Herrn den Marquis de Sérévan.

Der Graf erhob sich und ging seinem Gast entgegen.

»Willkommen, Sérévan!« rief er erfreut, »was verschafft mir zu so früher Stunde die Ehre? – Setzen Sie sich!« -

»François, besorge das Frühstück!« – Der Diener verschwand, und Gérard ließ sich auf einen Sessel nieder.

»Ich habe nicht lange Zeit, da ich in dienstlichen Angelegenheiten nach Versailles muß! Ihre Abreise nach London ist schon so nahe vor der Tür, kaum glaubhaft erscheint's mir, daß Sie uns in dieser Woche verlassen wollen! Die nächsten Tage bringen mir viel Dienst, und ich wollte Sie daher fragen, Fersen, ob Sie mich nach Versailles begleiten möchten, damit wir noch ein paar Stunden beisammen sind!? Adalbert kommt auch, mein Wagen erwartet uns.«

Fersen sagte bereitwillig zu. Der Abschied von Paris und vielen ihm lieb gewordenen Menschen ward ihm schwer, aber er hatte keinen Grund, seinen Vater zu bitten, den ihm vorgeschriebenen Reiseplan zu ändern, und rüstete sich zur Abfahrt nach London.

»Es scheint nun wirklich mit dem König zu Ende zu gehen,« fuhr Gérard fort, »die Nachrichten, welche heute früh eintrafen, lassen das Schlimmste befürchten!«

»Nach ›Befürchtungen‹ sehen Sie nicht gerade aus, Sérévan, aber hoffen wir das Beste,« entgegnete Fersen lächelnd. »Übrigens sind wir ja unter uns – genieren Sie sich nicht. Es wäre unnatürlich, diesem Monarchen ein längeres Leben zu wünschen!«

Gérard nickte, mit seinem Portepee spielend, verständnisvoll, dann fuhr er fort: »In Versailles scheint in der Angst vor den Blattern alles drüber und drunter zu gehen. Die Hofleute sind wie von einem Sturm fortgeweht, keiner soll sich im Schlosse blicken lassen. Die Ärzte müssen fast gezwungen werden, das Sterbezimmer zu betreten. Ein Diener, der nur die Tür geöffnet und die Majestät zwei Minuten lang betrachtet, ist an den Blattern gestorben.«

»Sind die kronprinzlichen Herrschaften bei dem König?« forschte Fersen atemlos.

»Nein, auf des Königs wiederholt ausgesprochenen Wunsch hält das kronprinzliche Paar sich fern. Die Prinzessinnen Adelaide und Louise und einige Diener sind bei ihm. Erstere sollen den Vater in der aufopferndsten Weise pflegen, und trotz der vereinten Bitten des Königs und der Ärzte nicht zu bewegen sein, den Sterbenden auch nur einen Augenblick zu verlassen. Ich muß gestehen, ich hätte den »Tanten« so viel Opferwilligkeit nicht zugetraut!«

»Ich auch nicht,« pflichtete ihm Fersen bei, »besonders Madame Adelaide nicht!«

Der Diener brachte das Frühstück, das Gespräch war abgebrochen. Als er den Salon wieder verlassen hatte und Jean Axel die Honneurs machte, erzählte ihm Gérard, daß er die besten Nachrichten von seiner Schwester habe. Die Marquise habe geschrieben, Blanche sei frisch und rosig, die trüben Gedanken seien fast ganz verschwunden, und sie fühle sich in ihrer neuen Umgebung wohl. Frau von Schüler und ihre Tochter trügen sie auf Händen, jeden Wunsch läsen sie ihr von den Augen ab, und die schöne Harzluft tue Wunder. Das einzige Hemmnis der Genesung sei die Sehnsucht nach dem Verlobten, aber Blanche sei ein tapferes Mädchen, das sich zu beherrschen wisse. Doktor Berthier hielte ihnen so oft als möglich eine Vorlesung über die Schattenseiten der Liebe, sei aber trotzdem nicht unzufrieden mit seiner Patientin. Die Marquise selber werde nächstens mit dem Arzte die Heimreise antreten und gedenke, nach kurzem Aufenthalt bei Verwandten in Straßburg, Ende Mai nach Paris zurückzukehren. »Adalbert ist ein ganz anderer Mensch geworden, seit bessere Nachrichten von Blanche einlaufen, ich glaube, der Ärmste hat sich große Sorgen gemacht,« schloß Gérard, sich erhebend und auf den Balkon hinaustretend.

»Da kommt er schon!« rief er gleich darauf dem Freunde zu und kehrte in den Salon zurück. »Auf Ihr Wohl, Fersen!« er hob sein Glas vom Tisch und trank Jean Axel zu. Der junge Schwede tat ihm Bescheid. »Auf das Wohl Ihrer schönen Braut, lieber Sérévan!« rief er, sein Glas leerend. Dann ging er Adalbert de St. Hilaire entgegen, der schon die Treppen heraufkam.

Eine halbe Stunde später waren die drei Kavaliere auf dem Wege nach Versailles. – – –

An den Wasserkünsten des Sonnenkönigs blühten die Rosen in duftender Fülle, Magnolien und Azaleen entfalteten ihre verschwenderische Pracht zu den Füssen der marmornen Göttergestalten, die das blasse Antlitz in den stillen Bassins spiegelten. Die ehrwürdigen Baumriesen der Avenue de Paris Die mittlere der drei großen, von dem Versailler Schloß strahlenförmig nach Osten auslaufenden Straßen. schimmerten im ersten Grün und warfen ihre gewaltigen Schatten über weite Rasenplätze und sonnige Pfade. Orangen und Myrten standen rings in weiß und grünen Kübeln, und der Frühlingswind trug die zarten Blüten in die Weite. Falter und Bienen umflatterten die runden, künstlich geschnittenen Kronen, honigsammelnd die Kinder des Südens umschwirrend. In den Laubengängen und Alleen sangen die Nachtigallen ihr schmelzendes Lied, hier und da plätscherte ein Springbrunnen – sonst war alles still in der weiten, grünen Einsamkeit; die hellen, seidenen Gewänder, die goldgestickten Kavalierkleider waren verschwunden, als erstrecke sich jene unheimliche Macht, die wie ein Würgengel am Bette des Souveräns stand, bis in die blühenden Gärten in Gottes freier Lust. Nicht ein einziges kosendes Paar bargen die Laubengänge; die lauschigen Wege, deren Eingänge Klematis und Rosengerank wie mit einem Schleier verhüllten, waren wie ausgestorben; aber am goldenen Gitter unter den Fassaden des Riesenbaues stand das Volk von Frankreich und blickte hinauf, wartend, ob das brennende Licht, das man zum Zeichen, daß der König noch lebe, an einem Fenster ausgestellt, nicht bald verlösche. Mit einer an Freude grenzenden Gleichgültigkeit redeten die Gesitteteren von der furchtbaren Krankheit des Herrschers und seinem nahenden Ende, der Pöbel aber machte seinem Haß in lauten Verwünschungen Luft. –

Die Sonne sank; die Menge ward vom langen Warten unruhig. Ein Wetter war unbemerkt heraufgezogen, schwere Tropfen fielen herab. Drohend flammte es über den Gärten, in der Ferne erklang grollender Donner. – Da tauchten oben hinter den Fenstern des verlassenen Schlosses Gestalten auf – aller Blicke richteten sich hinauf. Das Licht erlosch – das Land war von Ludwig dem Fünfzehnten befreit.

Geräuschlos verloren sich die Massen; kein Gebet, keine Träne folgte dem Monarchen. Nur in der Schloßkapelle ward des Entschlafenen gedacht. Während das Unwetter über ihnen tobte, beteten Kinder und Enkel für die Ruhe des Toten.

Prasselnd schlug der Regen an die Kirchenfenster, der Donner übertönte die Stimme des Geistlichen, und die Kerzen verloschen im Sturm. – –

Als der Abt Vermont und die Gräfin von Noailles eine Stunde später dem jungen Königspaar die erste Huldigung darbringen wollten, fanden sie Ludwig und Marie Antoinette in Angst und Tränen auf den Knien.

»O Gott,« riefen sie beide wie aus einem Munde, »wir sind zu jung, um zu regieren!« – – – –

Mitternacht war vorüber. Warm und lind rauschte der Gewitterregen über den duftenden Landen. Aus den Gärten von Versailles kam in scharfem Trab ein Jagdwagen – die Leiche Ludwigs des Fünfzehnten ward nach St. Denis in die Königsgruft überführt. Einige verspätete Nachtschwärmer begegneten, aus der Schenke kommend, Frankreichs König auf seinem letzten Wege und riefen ihm Verwünschungen und Flüche nach. Dann war's wieder still, nur das Rollen des einsamen Gefährts unterbrach das Schweigen der Frühlingsnacht, und von der alten Königsgruft herüber klang's wie Armensündergeläut.


 << zurück weiter >>