Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel
Aus den Memoiren Céciles de St. Hilaire

Das sind die grünen deutschen Berge,
So weit ich blicke, Harzer Land.
Wie klar die Höhn, wie licht die Weite,
Als leuchtete der Meeresstrand.
Rings Tannenschatten, duftge Weiden,
Der Herden liebliches Geläut –
Rings tiefer, stiller Waldesfrieden,
So war es einst, so ist's noch heut!

 

Blankenburg, den 12. Februar 1793.

Unter allen möglichen Dingen, die ich in Blankenburg zurückgelassen, weil ich mir sagte, sie würden mir in Paris nur eine Last sein, fand ich meine Memoiren wieder. Ich hatte sie längst verloren geglaubt, und meine Freude war um so größer, als mir diese Blätter wohl verwahrt aus dem alten Reisekoffer entgegensahen; wie war's möglich, daß ich vergaß, sie dort eingeschlossen zu haben! Es muß das Entsetzen jener Tage gewesen sein, die schwere Krankheit, die angstvollen Stunden, die ich durchlebt, die mein Gedächtnis geschwächt und mir oft das Nächstliegende verwischten.

Seit Anfang Dezember bin ich hier im Hause meiner geliebten Frau von Schüler. Wie ich hergekommen bin, weiß ich selber nicht – wie ein schwerer Traum liegt die Vergangenheit hinter mir.

Einige Tage nach der Ermordung der unglücklichen Prinzessin von Lamballe trat Abt Edgeworth bei mir ein und erklärte, er habe eine gute Gelegenheit zur Flucht für mich, ich dürfe dieselbe nicht ungenützt vorübergehen lassen. Eine ihm bekannte Engländerin, welche nach Deutschland wolle, habe sich erboten, mich, als ihre Zofe verkleidet, mitzunehmen. Die Pässe seien bereits ausgeschrieben, unter dem Namen Margaret Stone würde ich als Begleiterin der Misses Lilian Thomas ungehindert die Grenze überschreiten. Die Liebe und Fürsorge des treuen Freundes überwältigte mich, und doch konnte ich seinen Bitten nicht nachkommen. Der Gedanke, daß mein Bruder und Schwager in irgendeinem Gefängnis schmachteten, hielt mich in Paris fest. Konnte nicht ein Fall eintreten, in welchem ich ihnen einen Trost, eine Erquickung bringen durfte? Es war mir unmöglich, zu gehen, solange ich nichts Bestimmtes über ihren Verbleib wußte. Eine innere Stimme sagte mir freilich, daß sie schon lange nicht mehr unter den Lebenden seien, aber es war keine gewisse Tatsache, und die Sorge hörte nicht auf. Und noch eins kam hinzu: Wie sollte ich dem jungen, vereinsamten Weibe meines Bruders unter die Augen treten, wie würde Blanche mich anblicken, wollte ich ihr sagen: »Ich weiß nichts von seinem Geschick.« Sie würde alles verlassen und sich in die Gefahr stürzen, der ich entronnen, um der eigenen Sicherheit willen entronnen!

Abt Edgeworth hörte mich an. Ich sah, wie sein Antlitz immer ernster und trauriger ward. Und dann faßte er meine Hand, wie damals, als er mir die Todesnachricht meiner teuren Prinzessin brachte.

»Sie haben das Sorgen für diese beiden nicht mehr nötig,« sagte er dann – »sie sind aller Angst und Gefahr enthoben.«

Noch höre ich den tiefen Klang seiner Stimme, ja, nun wußte ich – ich durfte – konnte gehen.

Mit dieser Stunde war das Maß meines Schmerzes voll. Durch einen vertrauten Freund, der Erkundigungen für ihn über die Vermißten eingezogen, hatte Edgeworth in Erfahrung gebracht, daß mein Bruder und Schwager im Gefängnis zum Tode verurteilt worden waren. Am Morgen des Tages, an welchem der Abt zu mir kam, sollte das Urteil vollstreckt werden.

Und so bin ich gegangen, einsamer und trauriger denn je, und hab den Schmerz in das stille Heim in den deutschen Bergen getragen. Die holde, fröhliche Blanche im Witwenschleier zu sehen, ist mir noch immer ein fremder Anblick, daß ich ihn kaum ertragen kann. Sie ist stets still und freundlich und besonders darauf bedacht, Aimées Töchtern, Marie Antoinette und Adrienne, noch mehr als früher die Elternliebe zu ersetzen; aber in unbewachten Momenten seh ich sie oft am Fenster ihres stillen Stübchens sitzen, ein Tuch vor den Augen. –

Das einzige, was mir das Scheiden von Paris noch schwer machte, war der Gedanke an Edgeworth. Er ist mir in der herben, wirren Zeit der treuste Freund und Berater gewesen. Aber als ich ihn fragte, ob er nicht mit uns fliehen wolle, schüttelte er den Kopf und antwortete: »Noch ist es nicht Zeit für mich – später komme ich und suche im Frieden deutscher Berge zu vergessen!«

Sein Auge blickte mich umflort an, als strafe es seine Worte Lügen. Wie sollte auch irgendein Mensch auf Erden, der ein schlagendes Herz in der Brust trägt, diese Zeit voll Blut und Tränen vergessen, und insonderheit ein Edgeworth. – Ich sah ihn zum letztenmal im Hause der Misses Thomas, als ich im Gewande einer Zofe reisefertig hinter meiner Herrin die Treppe herabkam, sehr wenig in der Stimmung, mir die Allüren anzueignen, die meine Rolle forderte.

»Adieu, Margaret,« sagte Edgeworth freundlich, nachdem er sich von Frau Lilian verabschiedet, und an den Wagenschlag tretend, wandte er sich noch einmal an meine Herrin, während seine Augen mich anschauten. »Gott behüte Sie,« sagte er, »verlieren Sie nicht den Mut!«

Die Pferde zogen an, und der Kutscher jagte durch das stillste Viertel von Paris dem nahen Tore zu. Noch heute ist mir's ein Wunder, daß wir unversehrt die Stadt verlassen, daß wir das Land der Revolution passiert haben, ohne daß uns auch nur ein Haar gekrümmt ward. Wahrlich, es gibt Zeiten im Leben, in welchen Gottes gnädige Führung greifbar klar und licht vor uns steht. –

Die alte Julie ließ mich mit Tränen ziehen – wie gern hätte ich die treue Seele mitgenommen! Aber sie war trotz allem Erleben zu sehr Pariserin und hätte es mir rund abgeschlagen, die Hauptstadt zu verlassen. Wundern sollt es mich nicht, wenn die kluge alte Frau die Revolution überlebte, sie ist mehr als einer Gefahr entronnen.

Außer dem treuen Abt und Frau Julie sind alle dahingegangen, die mir in Paris nahegestanden.

Auch die Marquise von Sérévan und ihre beiden unverheirateten Töchter sind unter den vielen gewesen, die dem wütenden Pöbel zum Opfer fielen – – unsere treusten, ältesten Freude! Wie ist der große Kreis derer, die ich liebte, so schnell dahingeschwunden!

*

Am 21. Februar 1793.

Eben erhalte ich durch Edgeworth die erschütternde Nachricht, daß König Ludwig am 21. Januar hingerichtet worden ist.

Der Abt, welchen Madame Elisabeth ihrem Bruder empfohlen, ist bis zuletzt bei ihm gewesen und hat ihn zum Schafott begleitet. Er schreibt ganz erfüllt von Bewunderung, von der Ruhe und Würde, von der Klarheit und dem Glaubensmut des königlichen Dulders.

Der Abschied von seiner Familie, dem Edgeworth auf die Bitten des unglücklichen Monarchen beigewohnt, muß herzzerreißend gewesen sein. Er beschreibt mir, wie Marie Antoinette mit dem Dauphin, gefolgt von den Prinzessinnen, zu ihrem Gemahl hereingetreten ist, blaß wie ein Marmorbild, die einst so schönen Augen vom Weinen gerötet. Mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit habe sie sich in seine Arme geworfen und sich an ihn geschmiegt – wie das Unglück die Herzen zueinander hintreibt und Gleichgültigkeit in Liebe wandelt!

Wer vor zwanzig Jahren erzählt hätte, Marie Antoinette sei von glühender Leidenschaft zu ihrem Gemahl erfaßt worden, der hätte keinen Glauben gefunden, bei der schönen, lebensfrohen Königin selbst am wenigsten. Sie hätte gelacht – und andere mit ihr. Ich erinnere mich deutlich jener Zeit, da die hohe Frau mehr denn je von Kavalieren umschwärmt war und einen Edelmann namens Besenval auffallend bevorzugte. Sie soll in ihrer Intimität so weit gegangen sein, daß sie sich in Gemeinschaft mit diesem Manne über ihren Gemahl lustig machte.

Auf den Gassen von Paris und Versailles aber sang man folgende Strophen:

La reine dit imprudemment
A Besenval, son confident:
»Mon mari est un pauvre sire.«
L'autre répond d'un ton léger:
»Chacun le pense sans le dire,
Vous le dites sans y penser.
«

Welch ein Wechsel, einst und heute – und Gott sei Dank, daß es so ist! Das Ende dieser beiden Menschen wäre in gegenseitiger Verbitterung und Unversöhnlichkeit noch härter und düsterer gewesen, als es ohnehin schon ist, so aber hat ihnen die Liebe den bittersten Kelch erspart! –

*

Am 15. April 1793.

Wir leben still in unserem einsamen Waldhaus bei fleißiger Arbeit und guter Lektüre. Frau von Schüler waltet wie ein guter Geist in den hellen Räumen, fröhliche Kinderstimmen schallen durchs Haus und zaubern selbst auf Blanches bleichem Gesichtchen bisweilen ein Lächeln hervor. Und die Erde ist veilchenblau, die Waldbäume stehen, von lichtem Schimmer überhaucht, von St. Bartholomä klingen die Osterglocken herüber. Aber der Schmerz in unseren Herzen ist noch zu frisch und scharf, es dünkt mich, als müßten Jahre darüber hingehen, bis eine fröhliche Osterhoffnung ohne Tränen darin Raum gewinnt. Der Tod ist mit all seinen Schrecken, seiner vernichtenden Gewalt über uns gekommen, wie ein Dieb in der Nacht – er hat unsere Augen geblendet mit Feuer und Blut – erst allmählich wird der Strahl der einen großen Freude unseren Herzen wieder aufgehen und uns den Osterpsalm der Märtyrer verstehen lehren: »Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben!« –

Aus Paris erfahre ich wenig. Edgeworth ist der einzige, durch den ich bisweilen eine Botschaft erhalte; alle anderen, die ich einst geliebt, gehören ja längst zu den Toten.

Die arme Königin wird noch immer mit Madame Elisabeth und ihren Kindern im Temple gefangen gehalten. Niemand wird zu ihnen gelassen, Edgeworth sieht die Zukunft Marie Antoinettes im düsteren Licht. »Ob auch die Mächte in Waffen an Frankreichs Grenzen stehen, ihr Schicksal wird schneller sein als die Waffen aller Verbündeten,« schreibt er, »die rechte Stunde ist versäumt.« Versäumt, versäumt, wie hart und vorwurfsvoll das klingt! Wäre ich ein Mann, ein Kavalier, der seinem Könige die Treue auf das Schwert zugeschworen, ich wollte vor sie hintreten, vor diese glänzende Schar, die sich in guten Zeiten um den Thron geschart und der schönen Königin zu Füßen gelegen. Ob ich auch früher eine Lanze für die Flüchtlinge gebrochen, die Untreue ist zu kraß, der Undank zu groß! Ich wollte vor sie hintreten und ihnen das Wort meines greisen Vaters, des Treusten unter den Treuen, ins Gesicht schleudern: Lumpen heiße ich euch alle miteinander, die ihr Vaterland und Ehre vergessen konntet! Und sollt es mich mein Leben kosten, ich sagt es ihnen, sagt es jedem einzelnen, wollt er's wissen oder nicht!

*

Den 20. April 1793.

Seit drei Tagen sind neue Gäste bei uns eingekehrt. Zwei junge Offiziere, entfernte Verwandte Frau von Schülers, erholen sich in unserem alten Waldhause von den Strapazen des Krieges. Beide stehen im Heer des Preußenkönigs, beide wurden schwer verwundet, sind aber jetzt in der Genesung, nur etwas blaß noch, etwas hohläugig, aber frisch und lebensmutig, als ginge es trotz blessiertem Kopf, trotz dem Arm in der Binde frühmorgens ins Feld. Und doch ist der Urlaub ein langer, und der Oberstabsarzt soll von Dienstunfähigkeit geredet haben – sie glauben's beide nicht, der schlanke, geschmeidige Graf von Hertzberg, dessen Gewandtheit an eine Wildkatze erinnert, so wenig, wie der ehrliche, blauäugige Landjunker, der Itzenplitz – die Harzluft scheint Wunder zu tun. Fröhlicher Reitermut! Gott bewahre die beiden jungen Recken vor Enttäuschungen!

Morgens, wenn kaum die Sonne ihre Goldfäden um die Berge webt, treibt sie es hinaus in den Harzwald, und unsere jungen Demoiselles müssen mit oder zum wenigsten an Eidesstatt versprechen, nachzukommen. Ich gebe ihnen, als dame d'honneur und würdige Tante, das Geleit und werde wieder jung mit den Jungen. Und dann denke ich, wie es einstens war! Ein unbeschreiblicher Zauber liegt über dieser Zeit, diesen sonnigen Maitagen, die nie im Leben so wiederkehren! Alles gemahnt mich daran, die veilchenblauen Gründe, das Treiben und Springen der Knospen in allen Wipfeln, das stumme Nebeneinanderherschreiten im grünen Walde, das Leuchten junger Augen, der jubelnde, neckische Ruf über Fels und Kuppe: Holdrihoh!

Wie jung hat Aimée gefreit; kaum kannte sie das Leben, da kam er, der Mann, den ich nie vergesse, und nahm sie im Sturm! Und so anmutig, so weiß und rot wie einst meine junge Schwester, sind ihre beiden Kinder – die letzte holde Erinnerung, die sie uns hinterlassen.

Marie Antoinette ist das Ebenbild ihrer Mutter in den Tagen ihrer Brautzeit, schön wie eine Waldfrau, wie Gérard seinen goldhaarigen Schatz nannte; und wenn sie neben dem Grafen Hertzberg durch die Tannen schreitet, und die Sonne das schlanke, vornehme Paar mit ihren glänzenden Lichtern umspinnt, da denke ich daran, wie es einst im Mai gewesen! Möchte das junge aufblühende Glück keinen Schatten auf ein anderes Leben werfen – möchte es kein Herz zerbrechen – wie dazumal!

Wie alt bin ich geworden! Als er einst in Schärpe und Pallasch kam und das zarte, blonde Kind in seiner Leidenschaft fast zerdrückte, da meint ich: nun liegt ein Leben vor dir, so lang und einsam, daß du es nie durchlebst! Und wie schwanden nach dem ersten harten Kampf die Jahre! Eine kurze Spanne Zeit noch, und es war alles still, Glück, Liebe und Leidenschaft – in ein fernes schmuckloses Grab, das ich nie geschaut, legte man sie, und der Tod heiligte die Erinnerung und nahm ihr den letzten Stachel! Durch mein Haar ziehen silberne Fäden, das hat die Zeit getan, die Zeit, die auch die blendende Schönheit unserer unglücklichen Königin verwischte und ihre lichten Locken bleichte, sie hat wohl keinen ziehen lassen, ohne ihm ihr eisernes Siegel aufzuprägen. Und doch schmeichelt Adrienne, das lose Mägdlein: »Herzliebste Tante, wie sind Sie schön!« und Marie Antoinettes glockenhelle Stimme zwitschert unter meinem Fenster:

»Wär ich ein Kavalier,
Ich ritte stracks zu dir!«

Was Tanten alles ertragen müssen! – –


 << zurück weiter >>