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Siebentes Kapitel
Ein Sorgenkind

Es sitzt eine stille, blasse Frau
In meinem Gemach am Rocken,
Einen grauen Schleier webt sie geschwind,
Das Rädchen darf nimmer stocken;
Sie flüstert von Tränen und Jammer und Leid –
Die Sorge ist es, die gramvolle Zeit!

Sie droht: Der Schmerz ist stärker als du!
Der Kummer wird dich erdrücken!
Ich aber acht ihrer Seufzer nicht
Und such mich ins Herzleid zu schicken,
Ich weiß ein Sprüchlein, stark wie der Tod,
Das heißt: Wirf all deine Sorgen auf Gott!

 

»Bleiben Sie bei mir, chère maman, um Gottes willen, gehen Sie nicht hinaus! Die entsetzliche Angst bringt mich sonst um!«

Mit großen, weitgeöffneten Augen blickte Blanche der Marquise in das besorgte Antlitz und hielt krampfhaft ihre Hände fest.

»Sei ruhig, Blanche, ich bleibe hier,« erwiderte jene, über die braunen Locken streichend. »Armes Kind,« sprach sie leise für sich, die aufsteigenden Tränen gewaltsam zurückdrängend.

Die Tochter vernahm ihre Worte nicht, in ihrem Gehirn schien es zu arbeiten, ruhelos warf sie sich hin und her.

» Maman,« rief sie nach einer Weile aufs neue, »wissen Sie nichts, das mir jene furchtbaren Bilder verscheuchen kann? Wie sie mich ängstigen! Der Tod kann nicht härter sein – wissen Sie nichts, chère maman?«

Frau von Sérévan neigte sich über ihr Kind und legte die Hand auf die fieberheiße Stirn, Blanche aber fuhr, die Stimme zum Flüsterton dämpfend, in wachsender Erregung fort, »Ich sah einen blutroten Streifen um den Hals unserer geliebten Dauphine, sah überall Blut, wohin ich blickte, auf ihrem weißen Gewand, in ihren Locken – sie war unsere Königin und trug die Krone im Haar – und heute nacht,« fuhr sie, die Mutter zu sich herabziehend, zitternd fort, »heute nacht sah ich im Traum ein schwarz verhangenes Schafott – hilf, Himmel! sie kommen wieder, Mutter – jene furchtbaren Bilder – o Gott – meine Königin!« – Die Sinne schwanden ihr, sie sank zurück.

Wohl eine Stunde mochte vergangen sein, als es Frau von Sérévan und der herbeigeeilten Margot gelang, die Ohnmächtige zu erwecken. Aber der Bann, der auf dem jungen Gemüt lastete, war noch ungebrochen. Angstvoll blickte sie die Schwester an.

»Margot,« stöhnte sie endlich, »fliehe, so schnell du kannst! Sehen Sie nicht den Blutstreifen an ihrem Halse, maman?«

»Es ist die Rubinkette, die Margot immer trägt,« sagte die Marquise mit sanfter Stimme, »du kennst doch das alte Schmuckstück. der Urgroßmutter, Liebling! Tu die Kette ab, Kind,« wandte sie sich dann an ihre älteste Tochter, die sich schon abgewandt und das Halsband gelöst hatte. Dann trat sie an das Lager zurück.

»Siehst du, Blanche,« sagte sie, sich zärtlich über das junge Mädchen neigend, »jetzt ist alles gut – es war nur ein böser Traum, der dich beängstigt!«

Mit großen Augen blickte Blanche die Schwester an, dann schlang sie laut aufschluchzend die Arme um ihren Nacken. Margot legte sie sanft in die Kissen zurück und bat sie, sich ruhig zu verhalten. Sie hatte schon einmal einen günstigen, beruhigenden Einfluß auf die kranke Schwester ausgeübt. Auch heute legte sich Blanche gehorsam zum Schlafen nieder, und bald vernahm die Marquise ihre regelmäßigen Atemzüge. Sie warf einen langen, liebevollen Blick auf ihre Älteste, drückte einen Kuß auf ihre Stirn und ging schweigend hinaus.

*

Die bange Nacht nach dem Fest im Friedenssaale zu Versailles war endlich vergangen, hell und freundlich blickte die Wintersonne in Blanche Sérévans Gemach, wo Margot am Krankenbett saß. Sie hatte die Hände über den Knien gefaltet, und während sie gedankenverloren auf das feine, blasse Mädchenantlitz in den Kissen blickte, zog es durch ihren Sinn, wie seltsam Gott der Herr oft die Lose verteile. Hier die blühende Jungfrau, dem Ziel ihres Glückes so nahe; und schon zum zweitenmal legten sich jene finsteren Schatten auf das junge Leben und bedrohten seine helle, sonnige Zukunft. Warum war die Liebe in diesem Kindergemüt geweckt worden, wenn sie vielleicht binnen kurzem sterben und verderben sollte! – Wär's nicht besser gewesen, die liebliche Blanche wäre das Kind geblieben, das sich an Frühlingsblumen und Sonnenschein gefreut, dem Mutter- und Geschwisterliebe bis zu dieser Stunde alles gewesen? – Sie hatte lange geglaubt, es würde immer so bleiben, keines der Geschwister konnte sich die kleine Blanche, so hieß sie, obgleich sie ihre Schwestern längst überragte, als erwachsenes Mädchen vorstellen – und wie schnell war's gekommen, daß das zarte, stille Kind zur Braut geworden.

Dann schweiften ihre Gedanken weiter in das befreundete Haus, das Blanche ein zweites Elternhaus werden sollte. Dort, wußte sie, saß ein schönes, stolzes Mädchen am Fenster und blickte mit brennenden Augen hinaus, bis ein junger Gardedukorps die Straße heraufgeritten kam. Dann wendete sie sich ab und neigte sich über ihren Stickrahmen, aber drüben vom anderen Fenster spähten zwei lichte Augen hinab, und der Reiter grüßte die Braut. Margot Sérévan liebte Aimée wie eine Schwester, aber Cécile stand ihr im Alter näher, und sie hatte wie alle anderen geglaubt, ihr Bruder würde die ältere der Jugendfreundinnen heimführen. Warum mußten dem Glück stets die Schatten des Leides folgen – wahrlich, oft war's schwer im Erdenleben, Gottes leitende Liebeshand zu sehen und die dunklen, rätselvollen Wege als seine Gnadenwege zu erkennen.

Schritte nahten, leise öffnete sich die Tür, die Marquise betrat mit dem Hausarzt, einem alten treuen Freunde der Familie, das Schlafgemach ihrer Töchter.

»Sie schläft noch,« sagte Margot, sich erhebend, in gedämpftem Ton.

»Das Beste, das man ihr wünschen kann,« erwiderte ebenso leise Doktor Berthier, das stille, blasse Antlitz in den Kissen mit ernster Teilnahme betrachtend. Lassen wir die Kranke schlafen, bis sie erwacht, Madame,« wandte er sich dann an Frau von Sérévan, »ich komme gegen Abend wieder, dann können wir weiter beraten!«

Er reichte Margot die Hand zum Abschied und öffnete der Marquise die Tür.

»Geschehen muß etwas Ernstliches,« sagte er, an ihrer Seite das Krankenzimmer verlassend, »Ruhe und ganz andere Verhältnisse – schwer zu erfüllende Vorschriften für eine junge strahlende Braut – aber es muß sein! Wer hätte diesen zweiten schweren Anfall vorausgesehen!« fuhr er, die Hand über die Stirn legend, fort, »ich war so voller Hoffnung, daß das Übel nicht wiederkehren würde, und der Gedanke, Fräulein Blanche ein schönes, großes Glück zu zerstören, hätte mir das Herz gebrochen. Sie wissen, Madame, sie war von jeher mein Liebling! – Doch wir Menschen sind kurzsichtige, arme Toren, waltete kein Höherer über uns, es wäre in jeder Hinsicht schlecht um uns bestellt! Ich sehe die Sache ernst an, sehr ernst, und mahne Sie zur größten Vorsicht! Ich weiß, Sie werden das Geschick Ihrer Kinder als eine Fügung Gottes betrachten, das ist mein Trost.«

Sie nickte ihm still die Antwort, forschend weilte sein Blick auf ihr.

»Sie sehen mich so ernst an, lieber Freund,« sagte sie endlich, »sagen Sie, haben Sie noch eine bittere Wahrheit für mich, die Sie mir vorenthalten?« Sie blickte ihm fest ins Auge – »muß ich die Verlobung meines Kindes auflösen?«

»Nein,« sagte er, aber der Ernst seiner Antwort ließ sie erschrecken.

»Um Gott, verbergen Sie mir nichts!« rief sie, die Hand auf seinen Arm legend.

»Halten Sie mich für so gewissenlos?« klang seine Entgegnung. »Ich dachte, die Frau Marquise kennt den alten Berthier, der nun bald sein Jubiläum im Hotel Sérévan feiert,« setzte er mit einem Anflug zum Lächeln hinzu. »Nein – ich wiederhole Ihnen, ich sehe die Sache ernst an, halte sie aber vor der Hand nicht für bedenklich und rate Ihnen nur, die Hochzeit so lange als möglich hinauszuschieben und Fräulein Blanche bis zu dem Zeitpunkt in ganz andere, ihr bisher fremde Verhältnisse zu versetzen.« Er schwieg.

»Also Sie müssen nicht dagegen reden?« forschte sie.

»Ich muß es nicht,« entgegnete er, »heute nicht, und die Zukunft liegt in höheren Händen.«

»Ja, Gott sei Dank!« rief sie, die aufsteigenden Tränen mutig zurückdrängend.

Doktor Berthier reichte ihr die Hand. »Ich komme heute abend wieder; bis dahin, denke ich, ist mein Plan fertig! Verlieren Sie nicht den Mut, Madame, und wenn der junge Marquis fragen sollte, was der alte Berthier gemeint, so antworten Sie ihm, der habe gesagt, der Herrgott werde schon helfen!«

Dankbar drückte Frau von Sérévan dem Freunde die Hand, und dann war er auch schon hinaus.

Sinnend blickte sie ihm nach. »Armes Kind,« sprach sie leise, »dein Glück wird manch schwerem Hindernis begegnen, Gott erhalte es dir in Gnaden!« Seufzend stieg sie die Treppe hinan in das stille Gemach, wo Margot noch immer am Lager der Schlafenden saß, das Antlitz über die aufgeschlagene Bibel geneigt. – – –

Wenige Wochen später hielt ein geschlossener Reisewagen vor dem Hotel Sérévan. Wieder und immer wieder drückte Adalbert de St. Hilaire die Braut ans Herz, die schluchzend an seinem Halse hing; liebevoll ermahnte er sie, mutig in die Zukunft zu blicken und auf Gott zu vertrauen, die Heimkehr werde dann um so schöner sein. Über ihr blasses Gesichtchen zog's wie Sonnenleuchten, sie raffte sich auf und umschlang ihn aufs neue, dann wandte sie sich hastig ab, und er hob sie in den Wagen, darin die Marquise schon Platz genommen. Als letzter bestieg Doktor Berthier die Kalesche, er hatte es sich in seiner Sorge um Blanche nicht nehmen lassen, die Damen ins Ausland zu begleiten. Mit ihm zusammen wollte die Marquise auch, nachdem sie ihre Tochter gut aufgehoben wußte, nach Paris zurückkehren. Eine lange Trennung stand dem jungen Paar bevor. Auf unbestimmte Zeit sollte Blanche auf des Arztes Rat die Heimat verlassen; von ganz fremden Verhältnissen und vor allem von vollständiger Ruhe hoffte der treue Berthier viel für seine Patientin, und ihm selbst war der Mut gewachsen, als Frau von Sérévan den Gedanken aussprach, ihre Jüngste einer in Blankenburg am Harz lebenden Jugendfreundin anzuvertrauen. Bald war alles eingeleitet, Frau von Schüler schrieb, sie erwarte das Kind ihrer geliebten Adrienne mit offenen Armen, und die Vorbereitungen zur Reise wurden getroffen. Das größte Übel, das dieser so fein ersonnenen Kur nach Berthiers Ansicht leicht zum Hindernis werden konnte, war und blieb der Umstand, daß Blanche verlobt war.

»Wenn die Liebe nicht wäre!« hatte er in seinem letzten Gespräch mit der Marquise, mit beiden Händen durch sein dichtes, weißes Haar fahrend, gerufen – » c'est un malheur, qui gâtera tout!« und selbst die sorgende Mutter hatte bei seiner düsteren Vorstellung von dieser »Einrichtung«, wie er sich ausdrückte, lachen müssen. Aber er hatte nicht so unrecht und kam, wenn auch stillschweigend, immer wieder zu seiner Meinung zurück. Es ward ihm ganz weich ums Herz, als die kleine Braut ihm mit großen glänzenden Augen und zusammengepreßten Lippen mutig gegenübersaß, den Blick unverwandt auf das Antlitz des stattlichen Gardedukorps gerichtet, der ihr das letzte Liebeszeichen, einen Strauß herrlicher Rosen, an die Kalesche gebracht. Und dann neigte er sich noch einmal über die Mädchenhand, die zitternd auf dem Wagenschlag ruhte, ein letzter, leiser Gruß klang herein, der die blassen Wangen erröten ließ, den aber Berthier nicht verstand, die Pferde zogen an, und das tapfere Kind drängte gewaltsam die Tränen zurück.

Ja, es war ein eigen Ding um die Liebe, wenn er in seinem einsamen Junggesellenstande auch nicht viel mitreden konnte. Sie mochte ihr Gutes haben, er wollte es gewiß nicht abstreiten, aber das stand ihm fest: in Krankheitszeiten war sie ein Faktor, mit welchem man rechnen mußte. In manchen Fällen war sie vielleicht ein gutes Heilmittel, aber das waren sicherlich Ausnahmen – er blickte mitleidig auf das blasse Gesichtchen, das mit geschlossenen Augen in den Kissen lehnte, und seine alte Ansicht bestätigte sich aufs neue.

» C'est un malheur, qui gâtera tout!«zog es wie so oft schon durch seinen Sinn, aber er sprach seine Gedanken diesmal nicht aus – die kleine Blanche hätte ihm ja doch nicht geglaubt.


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