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Fünftes Kapitel
Emigranten

Ich blick in mein Herz und blick in die Welt,
Und vom Auge die brennende Träne mir fällt.
Und in tiefster Seele die Sorge erwacht –
Dein denk ich zitternd bei Tag und bei Nacht,
An dein weißes Haupt, an dein treues Herz,
An den hochgemuten, den freien Sinn –
Mein Vater gibt um Altar und Thron
Das Leben, die Ehre, sein alles hin.

Ich blick in mein Herz und blick in die Welt,
Wo die letzte schirmende Schranke fällt.
Ich blick in dein stilles, klares Gesicht
Und frag nach der eigenen heiligen Pflicht.
»Sei stark und treu,« ermahnt mich dein Aug,
Die Treue stählt und befreit dir den Sinn –
Mein Vater gibt um Altar und Thron
Das Leben, die Ehre, sein alles hin.

 

Im Hotel St. Hilaire, in ihrem alten Mädchenstübchen, saß Aimée am Fenster und ließ die Augen sinnend in den kleinen Vorgarten schweifen. Schnee lag auf den Bäumen und Büschen, eine schmale Bahn war zwischen den Rosenrabatten gefegt, dort wanderte ihre Jüngste, die kleine, achtjährige Adrienne, neben dem Großvater auf und nieder und plauderte und scherzte in ihrer frischen Kinderart, bis sie ein fröhliches Lächeln auf dem müden Antlitz des Royalisten hervorgezaubert.

Ein helles Leuchten zog über Aimées ernste Züge, als sie auf das Kind niederblickte, das in der Zeit der Not der Sonnenschein und die Freude ihres greisen Vaters geworden. Zögernd wandte sie sich von dem lieblichen Bilde ab und neigte das Haupt über die Arbeit; es war ein schlichtes, braunes Frauenkleid, das unter den geschickten Fingern entstand, das Gewand einer Bürgerin, wie es schien. Haufen von Tuch in unscheinbaren Farben lagen um sie herum, als wolle sie eine ganze Familie einkleiden.

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, sie hatte bisweilen hinabgeblickt, Großvater und Enkelkind wanderten noch immer im Schnee, und Adrienne schien es wahrhaftig erreicht zu haben, daß der Marquis ihr eine Geschichte zum besten gab. Erzählend hatte er den Arm um den Nacken des Kindes gelegt, und das Lockenköpfchen blickte lauschend zu ihm empor – befriedigt nähte Aimée weiter.

Aber es währte nicht lange, und das Märchen schien zu Ende zu sein. Eine helle Stimme dicht unter dem Erker des Jungfernstübchens rief: »Wir gehen jetzt hinein, chère maman!«

Sie nickte hinab, und dann flogen Kleid und Nähzeug in eine Truhe, der Schlüssel drehte sich im Schloß, verschwand in Aimées Tasche, und in einem Augenblick schaute der kleine elegante Salon aus wie früher, mit den rosaseidenen Rokokomöbeln, Céciles goldenem Arbeitskörbchen am Fenster und dem Gobelinstickrahmen daneben. Aimée seufzte. Nein, die rauhen, düsteren Kleider paßten wenig in das vornehme Haus des Aristokraten, und keiner durfte die Arbeit sehen, die sie tat; nicht um der Art derselben willen, die feinen Finger hatten sich oft für die ärmsten unter den Armen gemüht, sondern um ihres Zweckes willen – Aimée nähte Emigrantenkleider.

Die Angst und Sorge um den greisen Marquis, der Gedanke an ihre zarten Kinder ließen Gérard Sérévan und seiner Gattin keine Ruhe mehr. Aimées Vater war täglich in den Tuilerien, er scheute den Tod nicht, wo es galt, seinem König zu nützen, aber die drohende Gefahr, die er durch sein beständiges Aus- und Eingehen in dem alten Schlosse, das, ob auch unausgesprochen, längst das Gefängnis Ludwigs des Sechzehnten und seiner Familie geworden war, über sich und sein Haus heraufbeschwor, schien er zu verkennen. Er war zu offiziell, zu sehr mit Leib und Seele Royalist, um nicht in Gefahr zu geraten; in seinem großen edlen Charakter lag's, seine Königstreue offenkundig aller Welt zu zeigen, und jedermann wußte genau die Stunde, wenn das Coupé des Greises am Portal der Tuilerien hielt. Manch drohendes Wort war ihm schon gefolgt, Steine waren an seinem weißen Haupte vorübergeflogen – er lächelte darüber – und die wiederholten Bitten der Kinder und Schwiegerkinder, nicht immer zur selben Zeit und lieber gegen Abend in das Schloß zu fahren, blieben fruchtlos.

»Wir sind doch auch Kavaliere unseres Königs und stehen treu zum Thron, Vater,« sagte Adalbert. »Bedenken Sie es, wie groß die Gefahr ist, und daß man dem Pöbel heute nicht mehr durch ein offenes Hervortreten imponiert, sondern sich selbst und anderen nur dadurch schadet. Der Anblick Ihres Wagens mit dem Adelswappen am Schlag genügt schon, um einen Volkshaufen wild zu machen.«

Aber der alte Royalist war nicht zu überzeugen, und die Gefahr wuchs von Tag zu Tage.

Da kam Adalbert eines Tages heim und berichtete, daß die vielgeschmähten Emigranten im fremden Lande für ihren König tätig wären, Gesinnungsgenossen um sich zu sammeln und anderen Höfen Sympathien für das unglückliche Herrscherhaus zu erwecken.

»In den nächsten Tagen geht wieder eine Anzahl Emigranten über die Grenze,« fuhr er fort, »viele ehrwürdige Männer sind darunter, die glauben, ihrem König besser auf diese Weise als durch ihr Bleiben zu dienen.«

»Bist du toll geworden, Adalbert?« brauste der Greis in ungewohnter Heftigkeit auf, und Aimée gab dem Bruder ein leises Zeichen. »Mög' sie allesamt der Teufel geleiten! In Wien lernt keiner, für Marie Antoinette zu streiten, und die freie Schweiz – und Koblenz? Wer fragt auf fremdem Boden nach dem Lilienbanner? Mode ist's, zu emigrieren, Modesache, und jeden dieser Modenarren heiß ich einen Lump!«

»Es sind viele unserer Getreusten gegangen,« sagte Aimée entschuldigend. »Ich kann's mir nicht denken, daß diese Männer und Frauen Frankreich verlassen hätten, wenn nicht in der Hoffnung, draußen um Hilfe zu werben. Sie denken noch immer an die Polignacs, mon père, gewiß, die Flucht dieses Paares und vieler ihrer Genossen ist ein Schandfleck in der Geschichte unseres Adels. Aber wie mancher Kavalier, wie manche edle Frau haben, blutenden Herzens, aus den besten Motiven die Heimat verlassen, um aus der Ferne zu helfen, wo sie an Ort und Stelle machtlos waren. Irrten sie – so wird Gott ihnen ein gnädiger Richter sein!«

Der alte Herr hatte seine Ruhe wiedergefunden. »Komm her, Aimée,« sagte er, »du weißt, was ich vom Auswandern halte. Meine Grundsätze kann ich nicht ändern, sie mögen dem jungen Geschlecht unvorsichtig erscheinen – ich glaub's – aber an einem alten Royalisten ist nichts mehr zu ändern, der steht und fällt zu den Füßen des Thrones und ist stolz, wenn sein Blut den Purpur netzt. An eine Königstreue aus der Entfernung kann ich mich nicht mehr gewöhnen, mein Gewissen ist zu alt, um solche Neuerungen zu lernen – aber ich geb's euch zu, ich war schroff, und gern will ich an die guten Absichten jener Männer und Frauen glauben, wenn ich auch die Ausführung ihrer Pläne für unmöglich halte. Wir finden keine Hilfe mehr bei Menschen, Frankreichs Zukunft kann allein durch Gottes Gnade wieder licht werden. Und darum sage ich mir: Harre aus bei deinem König, es ist vielleicht sein letzter irdischer Trost, seine letzte Freude, von seinen Getreuen umgeben zu sein.«

Aimées schöne Augen schimmerten feucht, Adalbert neigte sich still über die Greisenhand und küßte sie – sie wußten es beide, daß ihr Plan unausführbar war, daß der alte Royalist an den Stufen des Thrones sterben werde. Cécile, die während dieses Gesprächs hereingekommen war, hatte sich stumm an den Tisch gesetzt. Sie hatte es vorher gewußt, daß es unmöglich sein werde, den Vater umzustimmen, daß jeder Versuch, ihn zur Flucht zu bewegen, ihn nur reizen werde, und mischte sich nicht in die Sache, obwohl sie voll Angst und Sorgen in die Zukunft sah und sich täglich sagte, daß es so nicht weiter gehen dürfe. Die treue Dienerschaft hatte sie bereits gewarnt, die nächsten Freunde ihres Hauses hatten sie gebeten, den Greis zur Vorsicht zu mahnen, aber was halfen die guten Ratschläge, seit dem Tage, da Ludwig und Marie Antoinette in die Tuilerien einzogen, wußte sie's, daß nicht nur dem Königtum, sondern dem gesamten treuen Adel das Grab gegraben würde, und die Hilaires würden unter den Fallenden die ersten sein. Wer in solcher Zeit so offenkundig Altar und Thron die Treue hielt, wie der Senior ihres Geschlechts, der mußte diese Treue besiegeln mit seinem Blut, es hätte sonst kein Danton im Präsidium der Pariser Anarchisten gesessen.

Aber obgleich Cécile und Aimée es einsehen mußten, daß sie vor der Hand keine Anstalten zur Flucht treffen durften, so bereiteten sie doch heimlich alles für den entscheidenden Moment vor. In dem verschwiegenen Mädchenstübchen, das die beiden Schwestern wie einst miteinander teilten, entstanden die dunklen Verkleidungen aus derbem Stoff, der unscheinbaren Tracht des Volkes nachgebildet, in welchen die Royalistenfamilie im Augenblick der höchsten Gefahr Paris verlassen sollte. Obgleich sie sich sagten, daß er es nie anlegen werde, hielten die beiden Frauen für den Vater das Gewand eines Bauern bereit; heute hatte Aimée die letzte Hand an die Kleider von Schwestern und Kindern gelegt, letztere sollten unter allen Umständen in den nächsten Wochen Paris verlassen, und Cécile hatte den Geschwistern versprochen, ihre kleinen Töchter nach Blankenburg zu begleiten, wo sie in Blanches Obhut bleiben sollten, bis die Ruhe in Frankreich wiederhergestellt war. Der alte Marquis hatte diesen Plan selbst angeregt und unterstützt, ja sogar den Wunsch ausgesprochen, daß Cécile in Deutschland bleiben sollte, aber dem hatte die Tochter sich kräftig widersetzt, und mit einem stillen Lächeln hatte er endlich nachgegeben.

Fast täglich verließen Emigranten das Land, Cécile de Saint Hilaire sollte sich ihnen mit Aimées Kindern anschließen. Die Marquise von Sérévan war vor einigen Tagen aus Blankenburg, wo Blanche nach schweren Wochen ein liebliches Töchterlein wiegte, zurückgekehrt und hatte ihren Sohn gemahnt, seine Kinder bald außer Landes zu schicken; so wurde der Tag der Abreise bestimmt. Aimée selbst dachte nicht daran, ihren Gemahl zu verlassen. Sie wußte, es wäre ein Wunder, wenn sie diese Zeit überlebte, wenn sie ihre Kinder wiedersehen und ans Herz drücken durfte, aber sie wollte ihren Posten, den Platz an der Seite des Mannes, den sie liebte, nicht verlassen, ob ihr auch das Herz im Gedanken an die Scheidestunde brechen wollte – sie war und blieb das Weib des Royalisten.

So war alles bereit, neben den braunen Kleidern seiner Enkelkinder lag der Bauernrock für den Aristokraten, ohne daß er es ahnte, in den Herzen seiner Töchter aber lebte die leise Hoffnung fort, daß ihre Bitten und Tränen im Augenblick der höchsten Gefahr den Greis bewegen würden, ein Auswanderer zu werden.

Langsam gingen die Tage dahin, die Tage und Nächte, denn an Schlaf wagte man nicht zu denken. Jeder fremde, ungewohnte Laut gemahnte an Tod und Blutvergießen, jeder Feuerschein redete von Sturm und Revolte, wie war's da menschenmöglich, sich still zum Schlafen niederzulegen, wie war's möglich, die Augen zu schließen, ohne den fiebernden Gedanken: du erlebst nicht den Morgen, du darfst nicht einmal in Frieden auf deinem Bette sterben, dein Tod bedeutet Rache – Blutrache eines ganzen Volkes! Ein schwerer Druck lastete auf Stadt und Land, eine dumpfe Gewitterschwüle voll kommenden Unheils, und die tausend verlassenen Stätten, welche die Auswanderung geschaffen, verschlimmerten die Stimmung und steigerten das Bewußtsein eines grenzenlosen, allgemeinen Jammers. Im September waren im Laufe von vierzehn Tagen sechstausend Pässe für die reichsten Bewohner des Landes ausgeschrieben worden. Wenige Wochen später war die Schweiz von französischen Flüchtlingen überfüllt, England und Italien gewährten den Trägern der vornehmsten Namen Obdach.

In Koblenz sammelte Graf Artois seine Landsleute um sich, die Auswanderung des Bruders des Königs sanktionierte in den Augen der französischen Edelleute gewissermaßen ihre eigene Fahnenflucht. In Koblenz trug der ausgewanderte Offizier den Kopf hoch, im blauen Rock, roter Weste, gelben Beinkleidern und Lilienknöpfen – den Kennzeichen des Emigrantenheeres. Hier schmähte ihn keiner der alten Royalisten, die lieber romantisch an den Stufen des Thrones verbluteten, als im Ausland Männer für ihren Souverän zu werben – im Gegenteil, hier trug jeder Emigrant einen Heiligenschein ums Haupt, als der Flüchtige, Heimatlose, dem Martyrium Entronnene. In Koblenz entschuldigte man sein Tun mit Artois' Handlungsweise; wenn des Königs Bruder geglaubt habe, sich in das Ausland begeben zu müssen, so sei das auch für den treuen Adel das Rechte, hörte man sagen.

So fand das, was man in Paris so tief verachtete, eine mildere Beurteilung jenseits der Grenze.

Im fremden Lande verkannte man nicht die verzweifelte Lage des französischen Adels in jenen Tagen. Diejenigen Familien, welche im Lande blieben, wurden verdächtigt und gingen dem gewissen Tode entgegen; wer unter den Fahnen seine Zuflucht suchte, fand auch dort keine Freistätte, und im besten Fall starb er den Soldatentod für seinen König. Die Emigranten endlich verloren als solche ihre Güter und waren, wie es in Frankreich hieß, lebenslang verbannt. Die Edlen unter ihnen taten im fremden Lande so viel in ihren Kräften stand, um für ihren unglücklichen Herrn Sympathien zu erwecken. Sie wanderten von Hof zu Hof, und je nutzloser ihr Werben war, um so härter verurteilte die zurückgebliebene, treue Aristokratie die Landesflucht ihrer einstigen Genossen und Waffenbrüder. Und in manchem Herzen jenseits des Rheins erwachte der Zwiespalt – es war zu spät.

Düster und drohend brach das Jahr 1790 an, in den Provinzen leuchtete die Brandfackel, Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung in der Königsstadt an der Seine, das Blut vieler Tausend schrie zum Himmel, aber kein rächender Arm brachte die Mörder um, kein Feuer fiel verzehrend vom Himmel auf Sodom und Gomorra nieder, und manches Herz verlor in der Hitze der Anfechtung seinen Gott.

Es war an einem kalten Januarnachmittage. Die Sonne war hinunter, weiß lag der Nebel über der Stadt, auf zehn Schritte Entfernung war nichts mehr zu erkennen, geisterhaft huschten frierende, vermummte Gestalten über die Straße.

Da öffnete sich im Hotel St. Hilaire geräuschlos eine Seitentür, unterdrücktes Schluchzen klang durch die Winterstille, tränenerstickte Kinderstimmen, die der Mutier das letzte Lebewohl zuriefen, leise gesprochene Segensworte von den Lippen des greisen Hausvaters – dann Totenstille, die Pforte hatte sich geschlossen, ein kleiner, düsterer Zug bewegte sich über den verschneiten Hof, durch Hinterstraßen und Gäßchen bis zu der Stelle, wo ein geschlossener Reisewagen die Flüchtlinge aufnahm. Adalberts alter Diener, der ihnen in unscheinbarer Kleidung gefolgt war, setzte sich neben den Kutscher auf den Bock, und fort ging's in die weiße, stille Winternacht hinaus.

Kein Stern flimmerte am Himmel, kein Licht leuchtete durch den Nebel, es war gut für die Flucht der Emigranten, und doch war's Cécile in diesem Augenblick ums Herz, als versänke sie mit allem, was ihr lieb war, in Nacht und Dunkelheit. Gewaltsam drängte sie die Tränen zurück, sie war ja nicht allein, rechts und links an ihrer Seite lehnten Aimées blondlockige Kinder, die sich über den ersten großen Schmerz ihres jungen Lebens in den Schlaf geweint.

Sie faltete die Hände; sie war den Weg der Pflicht gegangen, und die treue Erfüllung derselben war ihr Gebet; ihre Gedanken aber waren in dem stillen Hause im Faubourg St. Germain geblieben, wo der alte Royalist am Kamin saß, darüber nachsinnend, wie er dem Unglücklichsten unter den Königen das harte Leben erleichtern, wie er ihm eine Bahn brechen könne zur Freiheit. Und es war ihr, als müsse sie umkehren und ein letztes Mal an der Seite des Greises niederknien, als müsse sie ihn noch einmal umschlingen, fest, fest, wie einst als kleines Mägdlein, wenn er im goldgestickten Hofkleide davonging, und schmeicheln und flehen wie einst: Bleib bei mir, lieber Vater!


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