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Zweites Kapitel
Aus den Memoiren Céciles de St. Hilaire

Eins bleibet mir im Sturm der Zeiten,
In Todesangst, in höchster Not:
Das alte, heilige Bekenntnis,
Der Glaube an den ew'gen Gott!

In Sturm und Wetter die Gewißheit:
Vor seinem Wort wird alles still!
Es fällt kein Haar von meinem Haupte,
Wenn Gott, mein Vater, es nicht will!

 

Paris, am 1. Juni 1789.

Wie lange schrieb ich nicht, und wieviel ist geschehen in der Zeit, wo meine Feder gerastet. Vor acht Tagen haben wir unsere teure Mutter begraben, und noch kann ich's nicht fassen, daß ihr Platz leer ward für immer, daß der Mittelpunkt unseres Lebens, die Krone unseres Hauses fehlt. Ich wünsche sie nicht zurück – um ihretwillen, aber um meinetwillen möchte ich die vielen stillen Stunden, die ich an dem fast siebenjährigen Krankenbett gesessen, zurückrufen, denn nie im Leben begegnete ich soviel Geduld, soviel Demut und Glaubenszuversicht, und der Segen dieser Jahre voll Schmerz und Abgeschiedenheit wird mir ein Schatz bleiben, ein teures Vermächtnis allezeit. Ich wünsche sie nicht zurück – die selig in dem Herrn Entschlafene – aber der schwere, einsame Weg voll Vermissen liegt vor mir wie eine Wüste. Kennte ich das Licht nicht, das jedes Dunkel mit seinem hellen Strahl erleuchtet, wüßte ich nur das eine, daß man mir die Mutter begraben, daß alle ihre Liebe dahin – der Schmerz würde mich erdrücken. Aber Gott sei Dank, so arm, so elend und verlassen bin ich nicht und werde es niemals sein. Das Wort: »Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet,« ist nicht umsonst geschrieben – durch Gottes Gnade.

Äußerlich hat sich unser Leben wenig verändert. Ich lebe mit dem Vater, der alt und still geworden, in den Räumen, wo einst soviel Frohsinn geherrscht, und hege und pflege das Letzte und Liebste, das ich auf Erden habe.

Aimée trägt das Leid leichter. Sie hat ihr eigenes großes, schönes Glück für sich, und zu zweien wandert's sich besser einen schweren Weg als allein.

Adalbert und Blanche sind mit ihren Kindern viel bei uns, und die blühenden Enkel sind des Großvaters ganze Freude, der Sonnenschein seines einsamen Lebens.

Blanche macht mir Sorge. In ihrem lieblichen Gesichtchen, das sonst immer vor Glück strahlt, zeigen sich wieder die dunklen Schatten, die ihre Brautzeit getrübt, und Adalbert vertraute mir an, daß sie zur Zeit der unglücklichen Halsbandgeschichte einen Anfall gehabt. Nachher habe sie sich zwar wieder erholt, aber Berthier habe ihn doch zur größten Vorsicht gemahnt und ihm geraten, ihr alles Aufregende fernzuhalten, insonderheit die dunklen Gerüchte, die über die Königin im Umlauf seien und die den Blick in die Zukunft immer mehr trübten. Wie schwer dies durchzuführen ist, läßt sich bei Blanches lebhaftem Sinn, bei ihrer Liebe, ihrem glühenden Interesse für das ganze königliche Haus leicht ermessen – es ist kaum möglich, ihr die Gefahr zu verheimlichen – auf Schritt und Tritt wird man ja daran gemahnt, daß man über einen Vulkan schreitet. Alles spitzt sich zu einem furchtbaren Ende zu; wenn nicht alle Anzeichen trügen, so stehen wir dicht vor dem Ausbruch einer Revolution. Und überall und bei allem wird der Name der Königin in Verbindung mit dunklem Gerücht und böswilliger Intrige genannt; sie ist an allem schuld, sie ist die Quelle des Unheils! – Daß sie längst eine andere ward, daß das schöne, leichtherzige Kind sich in ernster Prüfungszeit immer edler entwickelt und daß die elegante, verschwenderische Herrscherin zu einem charakterfesten Weibe geworden ist, das stolz der Gefahr gegenübertritt und entschlossen und treu die schwerste Pflicht zuerst erfüllt, das beobachtet keiner, das ignoriert die Masse und hält nach wie vor über die Österreicherin Gericht. Sie ist zu spät eine andere geworden – seit vierzehn Jahren betrachtet die Öffentlichkeit sie als eine Feindin des Reiches, und keine Macht der Welt vermag es mehr, den Namen der Königin von Frankreich vom Schmutz der Verleumdung zu reinigen – es ist zu spät.

In den Tagen der Reichsversammlung sind die Wege zwischen Versailles und Trianon voll von Fremden gewesen. Advokaten, Geistliche, Deputierte des Volkes, welche in ihren abseitsliegenden Landstädten und Dörfern die Schmählieder von dem kleinen Trianon der Königin gehört, wollten sich von der Wahrheit überzeugen. Sie drangen in die Gärten ein, forschten die königliche Dienerschaft aus, die nur zu bereitwillig alle Fragen beantwortete und nicht verfehlte, den Lebenswandel der hohen Frau in den schwärzesten Farben zu schildern. Die Gerüchte über Marie Antoinette sind aus den verschiedensten Geschichten zusammengesetzt, und wenn man einmal Hofluft geatmet hat und auch nur einen Einblick in die bestehenden tragischen Verhältnisse getan, so ist es nicht schwer, die einzelnen Bestandteile, daraus man die Verleumdung gewoben, zu erkennen. Heute sind's Fragmente der Verleumdung der Gräfin de la Motte, die einem begegnen, morgen der giftige Neid des Grafen von Provence, Madame Adelaides Bosheit, Graf Artois' leichtherzige Verehrung für die schönste Frau – endlich sie selbst, ihr ganzes Sein, ihre Spielsucht, ihre Edelsteine, ihre Freundschaften, ihr Stolz. Und die Werkstatt, wo das Material gesammelt wird, wo die Ränke geschmiedet werden, ist das Palais Royal, das Schloß der Orléans. Hier wurde der Sturm auf die Bastille beschlossen, der 20. Juni und der 10. August vorbereitet. Seit Generationen besteht der Haß zwischen den Orléans und den Bourbonen. Sterben die letzteren aus, so sind die ersteren die nächsten Thronprätendenten. Kränkungen verschiedenster Art, offenkundige Abneigung, der zügellose Lebenswandel einzelner Glieder des Hauses Orléans riefen eine Spaltung zwischen den beiden Familien hervor, die sich von Jahr zu Jahr verschärfte. Der Sohn des fünfzehnten Ludwig erzog seine Kinder in dem für die Orléans sehr verletzenden Gedanken, daß diese keine Mittel scheuen würden, um sich den Weg zum Thron zu ebnen. Ludwig dem Sechzehnten scheint dieser Glaube in Fleisch und Blut übergegangen zu sein, er haßt Philipp von Orléans und macht nirgends ein Hehl daraus. Der Königin ist er zuwider, seine unfeinen Manieren, sein zügelloses Leben stoßen sie ab, und das Bewußtsein, daß sie, soviel sie kann, seine habgierigen Pläne durchkreuzt, hat ihn zu ihrem bittersten Feinde gemacht. Vielleicht wäre es diplomatischer gewesen, wenn sie ihm ihre Abneigung verborgen hätte – aber sie konnte nicht anders. Ich verstehe, daß sich ihr Stolz dagegen aufbäumt, diese versunkene Existenz zur Stütze zu wählen – Gott gebe, daß sein Haß nicht allzu folgenschwer für sie wird!

Man sagt, Philipp von Orléans erinnere sich bisweilen, daß er ein Prinz von Geblüt sei, er bereue dann seine Verirrungen und nehme sich vor, ein treuer Untertan zu werden. Aber seine regierungsfeindlichen Freunde verhinderten ihn daran, indem sie seinen Haß wider die Königin aufs neue entfachten, und da er ein Schwächling sei, siege die Bosheit stets über seine guten Vorsätze. Ein eigentümliches Verhängnis will es, daß die meisten Verschwörungen wider das Königshaus in seinem Palais entstehen; sie tragen seinen Namen, ob er es will oder nicht – und ich fürchte, er will es meistens.

*

Den 12. Juni 1789.

Ich war mit der Prinzessin von Lamballe, deren Gast ich für einige Tage war, und der Gräfin von Lâge im Schloß Meudon, wo die beiden Damen den kleinen sterbenden Kronprinzen besuchten. Es war herzzerreißend, seine Leiden mit anzusehen, aber seine Geduld und Geistesklarheit hatten etwas Wunderbares. Als wir kamen, ward ihm vorgelesen. Er hatte die Idee gehabt, sich auf ein Billard betten zu lassen – wir sahen uns an und hatten wohl alle drei den gleichen Gedanken! der Anblick erinnerte an die Aufbahrung eines Toten.

Wenige Tage darauf empfing die Prinzessin die Nachricht, daß der Thronerbe von seinem Leiden erlöst sei.

Schluchzend blickte Marie Thérèse auf die wenigen Worte, welche die Königin ihr mit zitternder Hand geschrieben: »Du bist glücklich, weil du nicht Mutter bist!«

Dann zog sie sich in ihre Gemächer zurück und kam erst am folgenden Tage wieder zum Vorschein. Ihr Antlitz war bleich, ihre Züge scharf, ein roter Streifen säumte die Augenlider, der Sturm, der über das Glück ihrer Königin dahingebraust war, hatte die »Rose unter dem Schnee« entblättert.

*

Am selben Tage.

Das Herz ist mir schwer. Die Tage im Leben, von denen es heißt: »Sie gefallen uns nicht!« haben für mich begonnen. Könnte ich in Ruhe und Frieden meinen Vater pflegen und mit Aimées Kindern spielen, träte vor allem nicht soviel in mein inneres Leben, das mich zerstreut und mir die Ruhe nimmt, es wäre ja alles gut. Die Enttäuschungen, die Gott mir sandte, kamen aus seiner Hand und wurden mir darum zum Segen. Mein Leid hat er mich tragen gelehrt und unter seinem Kreuz finde ich zu aller Zeit, was ich brauche – auch jetzt noch, es ist kein Zweifel in meiner Seele, wie ich handeln soll, aber der Druck der gärenden, unheilvollen Zeit liegt auf meinem Gemüt, und das unermüdliche, leidenschaftliche Liebeswerben eines Mannes, der mir weder Zuneigung noch Achtung abgewinnen kann, der Wunsch meines greisen Vaters, mich dem Vikomte, der sich ihm von der besten Seite gezeigt, der Christentum und Frömmigkeit vor ihm heuchelt, vereint zu sehen, dies alles stört mir meine Ruhe und erweckt Fragen in meiner Seele, auf die mir die Antwort schwer wird. Ich kann nicht – nein, ich kann nicht d'Alignolles Weib werden, sein alles zersetzender Verstand, sein Zynismus, seine ganze Vergangenheit richten eine Scheidewand zwischen uns auf. Und der Vater ist wie mit Blindheit geschlagen und wähnt, es sei das Glück, das vor der Tür steht – ein stolzes Glück, das den Spiegel des Wortes Gottes nicht verträgt, das das Haupt mit Entsetzen verhüllt, wenn's am Kreuz vorüberkommt.

Doch ich will nicht bitter sein, ich will dem Vater alles sagen, will ihm die Binde von den Augen nehmen – ich weiß es, er wird mir Glauben schenken. Daß mir überhaupt der Gedanke an eine Ehe ferneliegt, darf ich ihm freilich nicht verraten, die Aussicht, daß er mich über kurz oder lang allein auf der Welt zurückläßt, peinigt ihn, er erwähnt es zu oft.

Dann sage ich wohl scherzend: »Ich habe ja Aimée und die Kleinen, das beste wird's sein, ich werde eine alte Kindermuhme, dann kommt kein Vikomte mehr und macht mir unliebsame Anträge,« und ein schmerzliches Lächeln zieht über das teure Antlitz.

»Ja, du hast Aimée und Adalbert und die liebe kleine Blanche,« antwortet er sinnend und schaut mich ernst und forschend an. Und ich bring es nicht übers Herz und über die Lippen, daß noch einer da ist, den ich um Rat fragen, auf den ich mich stützen könnte, Gérards Name will mir nicht über die Lippen. Es ist mir, als lägen meine innersten Herzensgedanken vor dem Blicke meines Vaters ausgebreitet.

Ich meinte, ich hätte längst gesiegt, und ich habe auch gesiegt durch Gottes Gnade. Aber Kämpfen und Streiten bringen Wunden, und Wunden bringen Narben, und die Narben schmerzen, so oft das Wetter umschlägt.

So ist's im äußeren, so ist's im inneren Leben. Ich kann nicht lieben, weil die Liebe einmal verwundet ward, zum Tode verwundet, aber ich kann wachen und beten, kann mein Kreuz tragen und durch Gottes Gnade siegen, und wenn die einzige, geliebte Schwester vor mich hintritt, kann ich ihr klar ins Auge sehen, denn der große Meister hat mich das heilige Gebot gelehrt, welches das Menschenherz ohne sein Erbarmen nicht lernt: »Du sollst nicht begehren!«

*

Am 13. Juli 1789.

Necker ist entlassen! zum zweitenmal entlassen mit dem Befehl, sofort heimlich das Land zu verlassen. 50 000 Mann liegen in der Nähe von Paris – für alle Fälle, heißt es, in Wahrheit aber, weil die Zusammenziehung der Truppen zur allgemeinen Sicherheit notwendig ist. Gestern hat Camille Desmoulins im Palais Royal das Volk zu den Waffen gerufen, in den Tuileriengärten ist es zu Tätlichkeiten gekommen, das Zeughaus ist geplündert, 1200 Gardisten haben sich dem Pöbel angeschlossen – die Verabschiedung des Ministers scheint das Volk aufs äußerste erbittert zu haben. Als uns heute früh die Sturmglocke weckte, als ich die wilden Volkshaufen durch die Straßen rasen sah, war ich auf alles gefaßt. Aber seit einigen Stunden ist es wieder ruhig – es wird die Stille vor dem Sturm sein. Und bei dem allen oder vielmehr trotz alledem findet heute abend ein großer Hofball in Versailles statt – eine unfaßliche Verblendung.

Mein Vater ist nicht von seinem Vorhaben, an der Festlichkeit teilzunehmen, abzubringen, er sagt, der Platz der Royalisten sei am Thron. Adalbert und Gérard folgen mit ihren Frauen aus demselben Grunde der Ansage, und ich bin stolz auf diese Familie von Edelleuten. Aber eine heimliche, unnennbare Angst hat sich meiner bemächtigt, seit ich in der Frühe die ersten Anzeichen der Revolte gesehen – Herr Gott, breite deine Hände über das greise Haupt meines Vaters!

*

Am 18. Juli.

O, Gott, was haben wir für Tage durchlebt!

Die Stimmung auf dem in der Nacht vom 13. zum 14. stattfindenden Ball war entsetzlich – bei den einen volle Erkenntnis der Gefahr, bei den anderen, und es waren die meisten, ein Leichtsinn, eine Sorglosigkeit, ein Scherzen über die Ereignisse der vergangenen Tage, wie ich es nicht für möglich gehalten.

Der Vikomte hielt es für angemessen, mir den dritten Antrag zu machen; ich ließ ihn stehen. Möchte er diese Antwort endlich verstanden haben. – –

Die Königin war schön, aber wie ein Marmorbild, ganz in weiß, die edlen Züge wie versteinert. Der König liebenswürdig, aber still. Warum das Fest stattfand, weiß ich nicht, ob das Herrscherpaar durch Abhaltung desselben seinen Mut zeigen wollte? – Ob ihre Sorglosigkeit sie die ernstesten Zeichen verkennen ließ?

Am Morgen nach dem Ball kam Adalbert zu uns. Sein Antlitz war bleich und verstört – mein erster Gedanke war Blanche. Ja – sie hatte in der Nacht einen Anfall. Die entsetzliche Vorstellung von dem Blutstreifen um den Hals der Königin ist aufs neue in ihrer Seele erwacht, stundenlang hat sie in Krämpfen gelegen – und dies alles in einer Zeit, da die zarte, schwache Frau doppelt der Ruhe bedarf, da ihr die kleinste Aufregung ferngehalten werden muß. Ich sah Adalbert seine Erregung an, aber trotz allem, was ihn innerlich drückt, vergißt er keinen Moment die großen Pflichten, die in diesen Tagen mit überwältigenden Forderungen an den Royalisten und Edelmann herantreten. Als er fünf Minuten bei uns war, stürzte Gérard herein, der Dienst bei dem König gehabt, und deshalb in der Nacht nach dem Ball mit Aimée in Versailles geblieben war, vor einer halben Stunde waren sie zurückgekehrt. Mein Schwager sah bleich und überwacht aus, die Spuren großer Aufregung waren in seinem Antlitz zu lesen. »Wir haben verspielt,« sagte er tonlos und ließ sich auf einen Sessel nieder – »die Bastille ist erstürmt!« Er barg das Antlitz in den Händen und stöhnte laut. Einer blickte scheu zum andern hinüber, jeder sagte sich, was diese Tat der Volkswut bedeute. Das alte Staatsgefängnis, dies vom Volk verfluchte Gebäude mit seinen peinlichen Erinnerungen an den Despotismus und die Grausamkeit tyrannischer Monarchen, die Festung von Paris, das Bollwerk der Souveränität und der Königsmacht, war gefallen. Die erste Tat der Volkserhebung war die Vernichtung dieser verhaßten Mauern, die so zahllose Märtyrer des freien Gedankens beherbergt – das war keine Warnung mehr, es war leidenschaftlich aufbegehrendes Handeln – Revolution.

»Es ist nicht zu fassen, daß gestern noch der Ball stattfand,« brach Gérard endlich das Schweigen. »Der Cercle war eben beendet und man war kaum zur Ruhe gegangen, als die Nachricht in Versailles eintraf. Der Herzog von Liancourts ließ uns alle wecken und ging selbst direkt zum König, der schon schlief. Ich hörte im Vorgemach, wie er ihm die Schreckensbotschaft brachte.

» Mon Dieu, c'est une révolte!« rief Ludwig erschrocken, und dann hörte ich die tiefe Stimme Liancourts antworten: » Non, Sire, c'est une révolution!«

Ich vergesse den Augenblick nie, das furchtbare Schweigen, das den letzten Worten folgte, das aschfahle Antlitz unseres unglücklichen Königs, als er in das Vorzimmer trat und uns stumm die Hand reichte. Ich muß nach Versailles zurück, und Aimée wird mich begleiten,« fuhr er nach einer Pause fort. »Madame Elisabeth hat den Wunsch ausgesprochen, sie einige Tage bei sich zu haben. Dürfen wir Ihnen die Kinder schicken, lieber Vater?« wandte er sich an diesen.

Ein freundliches Kopfnicken antwortete ihm. In den klaren Augen lag ein feuchter Glanz. Müde stützte er sich auf den Krückstock und sagte: »Wenn mich mein König ruft, wird Cécile meinen Enkeln Vater und Mutter ersetzen, solange es not tut!«

Eine halbe Stunde später hielt das Sérévansche Coupé im Portal, Aimées goldlockige Töchterchen hüpften in ihren hellblauen Sammetmänteln wie zwei gute Geister ins Haus und trugen Frohsinn und Sonnenschein in unsere stillen Räume. Ja, fast schien's mir, als hätte der ehrwürdige, weißhaarige Vater eine kurze Weile den Jammer seines Königshauses vergessen – Gott schickt doch immer zur rechten Zeit den rechten Trost, und ich möchte sagen, in den schwersten Tagen hat jeder so heißersehnte Strahl seiner Freundlichkeit einen sonderlich hellen Glanz, der uns der Zeit gemahnt, da die Hoffnung Erfüllung wird, da uns Zions goldene Lichter leuchten werden ohne Ende.

*

Am 19. Juli 1789.

Paris ist in eine Schmiedewerkstatt umgewandelt. Überall Waffenrüstung, überall Barrikaden, und der Pöbel lärmt und schreit dazu und zieht, von Blut besudelt und von Pulverdampf geschwärzt, durch die Stadt und erklärt sich als des Vaterlandes Verteidiger. Halbbetrunkene Furien reizen das Volk noch mehr auf, rohe Lieder klingen auf den Straßen, das königliche Haus und den Adel verhöhnend. Ohne männliche Begleitung ist es für Frauen unmöglich, das Haus zu verlassen, und selbst dann muß man auf alles gefaßt sein.

Der König hat am 15. mit seinen Brüdern die Nationalversammlung besucht. Obgleich Mirabeau eben vor seinem Erscheinen die Deputierten in leidenschaftlicher Rede wider das Königtum fortgerissen, soll der Monarch die Versammlung vertrauensvoller verlassen haben, als er es zu hoffen gewagt. Ovationen wurden ihm unterwegs bereitet, und als die Königin ihn auf dem Balkon erwartete, ihr Töchterchen an der Hand, den kleinen Karl Ludwig auf dem Arm, in rührender Haltung, die schönen Augen voller Tränen, da sollen die drohenden Gesichter sich erhellt und alles dem Herrscherpaar zugejubelt haben.

Doch wo gibt es jähere Wechsel als in der Seele eines leicht entflammten Volkes – ich traue diesem Lachen schon lange nicht mehr!

*

Am 20. Juli 1789.

In der Nacht vom 17. auf den 18. Juli haben der Graf von Artois und seine Söhne, Prinz Condé mit Sohn und Enkel, Prinz Conti, Broglie, Lambesc und viele andere, die nur an die eigene Sicherheit dachten und vergessen haben, daß sie Royalisten sind, Frankreich verlassen. Gott lohne ihnen ihre Untreue – das ist mein Abschiedsgruß an die Flüchtigen – ich kann nicht anders!

*

Am 25. Juli 1789.

Adalbert hat den schweren Entschluß gefaßt, Blanche, die von Tag zu Tag kränker und erregter wird, mit den Kindern zu ihrer alten im Harz wohnenden Freundin zu bringen. Frau von Sérévan will die Tochter ebenfalls begleiten, um ihr in den kommenden Tagen zur Seite zu stehen, denn Adalbert kann nicht dort bleiben, mehr denn je hält ihn der Dienst des Königs fest. Berthier hat auf die Abreise meiner Schwägerin gedrungen. Er hat sich der Marquise gegenüber sehr ernst geäußert, als ob unter den obwaltenden Umständen und den fortwährenden äußeren Unruhen und Gefahren das Schlimmste zu befürchten wäre. Blanche fügte sich still dem Wunsche des Arztes. Ich war gerade bei ihr, als Adalbert ins Zimmer trat und sie langsam auf die Trennung vorbereitete. Einen Augenblick senkte sie das Köpfchen, dann schmiegte sie sich, wie um Kraft zu suchen, an die Brust ihres Mannes. Ich ging leise hinaus, die beiden mußten allein sein – und setzte mich zu den Kindern.

Aus der Ferne klang wüstes Geschrei. Der Bürgerkrieg tobte durch Paris, und sein grausiger Schlachtruf tönte bis in das stille Aristokratenviertel herüber. Der kleine Marcel saß auf meinem Arm und blickte auf die Straße hinab. Glühend lag die Julihitze über den Häusern, Wetterwolken drohten am südlichen Himmel. Da schrie das Knäblein plötzlich auf und umklammerte mich zitternd. Ich neigte mich vor, und das Entsetzen lähmte mich, fast hätte ich das Kind fallen lassen. Von einer wilden Weiberhorde gefolgt, schritt ein Jakobiner in der Mitte des Fahrwegs, ein blutüberströmtes Haupt auf der Pike – es war Foulons, des greisen, vierundsiebzigjährigen Ministers, Antlitz. –

Die Sinne wollten mir schwinden, ich preßte das bebende Körperchen fester an mich und hörte die Kinderlippen in Todesangst flüstern: »Lieber Heiland, lieber Heiland!«

Da kehrte mir die Kraft zurück. Ich übergab den Kleinen der Wärterin und schloß das Fenster. Dann griff ich nach Hut und Mantel, um, von Adalberts Diener begleitet, zu meinem Vater zurückzueilen. Mit verstörtem Blick trat mir mein Bruder auf der Schwelle entgegen, sein todbleiches Weib stützend.

»Foulon,« stammelte ich.

Er winkte mir mit der Hand, zu schweigen. »Du kannst jetzt nicht gehen, Cécile,« sprach er, mühsam seine Bewegung verbergend.

»Ich muß!« erwiderte ich.

»In diesem Augenblick darfst du es nicht,« sprach er ernst, »Gérard und Aimée sind bei dem Vater, er würde es mir nie vergeben, ließe ich dich gehen.«

Ich rang die Hände; da klang ein Laut an unser Ohr, der uns in der letzten Zeit ein bekannter geworden war; ich sah, wie meine Schwägerin wankte, wie Adalbert sein Weib in den Armen hielt, und hörte die Sturmglocke oben in den Lüften den Aufruhr verkünden.

»Lieber Heiland, lieber Heiland!« rief Marcel, der in seinem Gitterbettchen saß, die kleinen Hände gefaltet, mit zitterndem Stimmchen, »lieber Heiland.« – – –

Und der Pöbel jagte vorüber, seine furchtbaren Spuren hinterlassend. Aus fernen Straßen klang ab und an der Schrei des Todes herüber, schwächer und schwächer tönte der Trommelwirbel, dann war alles still.

»Lieber Heiland, lieber Heiland,« rief's noch einmal wie verhaltenes Schluchzen vom Bettchen her, dann schlossen sich die blauen Augen, und das Büblein atmete so ruhig, als hätt' es niemals Angst und Schrecken gekannt. Gedankenvoll blickte ich in das friedliche Gesichtchen, und durch meine Seele zog der Vers jenes schönen Nachtliedes, Nun ruhen alle Wälder. Paul Gerhardt. 1648. das Blanche aus Deutschland heimgebracht und so oft an der Wiege ihrer Kinder gesungen:

»Breit aus die Flügel beide,
O Jesu, meine Freude,
Und nimm dein Küchlein ein!
Will Satan mich verschlingen,
So laß die Englein singen,
Dies Kind soll unverletzet sein!«

*

Am 26. Juli 1789.

Die Polignacs haben Versailles verlassen. Über Basel sind sie nach Rom geflüchtet. Man sagt, das Königspaar habe sie angesichts der ihnen drohenden Gefahr gedrängt, zu gehen. Fersen und Pisani, der Gesandte Venedigs, haben die Flucht bewerkstelligen helfen. Kein treuer Royalist wird dies Intrigantenpaar, das nichts als Glanz und Gewinn gesucht sein Leben lang, zurückwünschen, möchte es jenseits der Grenze lernen, was Königstreue ist! –

*

Am 10. August 1789.

Blanche ist fort, Adalbert noch nicht zurück, sie werden langsam gereist sein, weil meine Schwägerin der größten Schonung bedarf. Gott gebe, daß diese Reise zu ihrem Besten ausschlägt und schenke ihr eine fröhliche Heimkehr! Es ist kein leichtes, ruhig in die Zukunft zu blicken, und das Vertrauen auf die höchste Fürsorge ist das einzige, das uns emporhebt über die Wirrsale der letzten Zeit, über die Angst der Tage, die noch kommen sollen.

*

Am 28. August 1789.

Necker ist zurückgekehrt. Jubel und Begeisterung begrüßen den ersten Minister allerorten. Wenige Tage nach seiner Rückkehr ist der Vorschlag des Grafen von Noailles, die Fronpflicht der Bauern abzuschaffen, von der Reichsversammlung bestätigt worden, und in der Nacht vom 4. auf den 5. August trug man das alte Lehnswesen zu Grabe. So sinkt ein Abzeichen der Königsherrlichkeit nach dem anderen dahin, eine kurze Spanne Zeit noch und Frankreichs letzte hundertjährige Tradition liegt zertreten im Staube, und der Sturm fegt über ihre Stätte dahin, als sei sie nimmer gewesen.

*

Am 5. September 1789.

Die Unruhen wachsen mit jedem Tage. Man muß stündlich darauf gefaßt sein, daß der Pöbel einem das Haus stürmt, daß ein bekanntes Antlitz, auf die Pike gespießt, an den Fenstern vorübergetragen wird. Mein Platz im Erker, wo ich sonst am Stickrahmen gesessen, ist seit Wochen leer geblieben, und die Vorhänge bleiben geschlossen, um Aimées Kindern die entsetzlichen Schauspiele auf der Straße zu verbergen. Aber das Fluchen und Toben hören sie wie wir, und oft kommt die kleine goldhaarige Marie Antoinette, die unsere schöne Königin über die Taufe gehalten, und fragt mich scheu, warum die Leute unten so böse Dinge reden. Und das Herz wird mir schwer, wenn ich in das unschuldige Gesichtchen blicke, und es will mir nicht über die Lippen, daß unser Volk Gott und sein heiliges Gebot vergessen hat.

*

Am 20. September 1789.

Der Vater ist fast täglich in Versailles. Meine Sorgen müssen zurücktreten, ich weiß es, aber wenn der Wagen mittags im Portal hält, wenn die Tür des Wohngemachs sich öffnet und sein liebes, ehrwürdiges Antlitz zum Abschied hereinschaut, dann wird mir jedesmal das Herz schwer, und ich muß die Gedanken, die auf mich einstürmen, mit aller Gewalt bannen. Oft schon habe ich mich um meiner Angst willen gescholten, er ist ja noch immer wiedergekehrt, obschon sein Leben mehr als einmal bedroht gewesen, und wieder und immer wieder sag ich's mir, daß ich nicht nur das Kind eines Royalisten bin, sondern ein Gotteskind, dem Verzagtheit und Mutlosigkeit übel anstehen. –

Der Abt Edgeworth war gestern bei uns. Durch Madame Elisabeth ist er bis ins kleinste orientiert. Er sagte, es sei höchste Zeit, daß das Herrscherpaar dem Beispiel der zahllosen Emigranten folge und das Land verlasse, aber Ludwig und Marie Antoinette schienen vor der Hand nichts davon wissen zu wollen.

»Gott gebe, daß es nicht zu spät ist, wenn sie in einiger Zeit dennoch nach diesem Mittel greifen – der Ernst der Lage ist größer, als es trotz allem, was sich in den letzten Wochen abgespielt, bekannt ist,« fügte er hinzu. »Der König hat jede Macht verloren, die Hungersnot wächst, es bedarf nur eines geringen Anlasses und alles steht in Flammen. Die grenzenlosen Unvorsichtigkeiten, welche beide Majestäten täglich begehen, lassen daher das Schlimmste befürchten. Die fortwährenden Desertionen der Mannschaften haben Versailles nach und nach fast von Truppen entblößt, so daß auch die unbedeutendste Volksbewegung nicht mehr zu dämpfen ist. Der Graf von Saint Priest, der einzige im Ministerium, der noch entschlossen handelt, hat daher das Regiment Flandern nach Versailles beordert, um die Stadt vor dem Ärgsten zu schützen. Möchte diese Vorsichtsmaßregel das Volk nicht noch mehr erbittern und zu einer neuen Gefahr für den Herrscher werden. Das Regiment soll übrigens eines der wenigen sein, auf dessen Königstreue man noch bauen darf.«

In diesem Augenblick ließ sich Graf Fersen melden, der in Valenciennes steht, seit den Tagen der Gefahr aber häufig in Versailles und Paris zu sehen ist. Er bestätigte Edgeworths Bericht.

»Die Flamme des Aufruhrs hat sich längst bis in die entferntesten Provinzen verbreitet,« erzählte er. »An eine Wiederherstellung der Ordnung ist heute nicht mehr zu denken, das vermag kein Mensch – auch kein Necker. Der Armee fehlt die Disziplin, der Nationalgarde die Stärke, dem König die Macht. In Montmartre und im Palais Royal hausen 50 000 Landstreicher, Paris zittert vor ihnen und die Nationalversammlung zittert vor Paris. Die Aufhebung der Lehnsrechte, welche im Verlaufe von drei Stunden so rasch beschlossen ward, hat dem Königtum den Hals gebrochen. Wir mußten gerecht sein, aber nicht schwach; Nachgiebigkeit aber war in diesem Falle Schwäche – nun mögen wir sehen, wie wir mit dem Volk fertig werden.«

»Ich fürchte, es wird nur allzu früh mit uns fertig sein,« sprach mein Vater, und ich erschrak, als ich in sein Antlitz blickte. Es war von leichenhafter Blässe überzogen. Schon wollte ich mich erheben, als er, meine Sorge bemerkend, abwehrend mit der Hand winkte: »Laß gut sein, Kind, es ist nichts,« und gleich darauf saß er mit Fersen, in politische Dinge vertieft, am Kamin.

Edgeworth hatte uns Grüße von Aimée gebracht, die noch immer bei der Madame de France weilt, welche sich nicht entschließen kann, die Freundin mit dem fröhlichen Sinn und dem starken Herzen wieder von sich zu lassen. So sind aus Tagen Wochen geworden, und Aimée wird noch länger bleiben. Wenn es morgen einigermaßen ruhig wäre, ließ sie uns durch den Abt sagen, würde sie für einige Stunden zu uns kommen, die Sehnsucht nach ihren Kindern ließe ihr keine Ruhe mehr.

Zum Schluß brachte Edgeworth das Gespräch auf Alignolle und erzählte mir, daß er einer der niedrigsten Intriganten sei, der jemals den Ruf der Königin gefährdet.

»Ich weiß es, mit was für Absichten er immer wieder an Ihre Tür pocht,« sagte er, »und als der Freund Ihres Hauses kann ich's nicht lassen, edles Fräulein, Sie vor diesem Manne zu warnen. Verzeihen Sie mir, daß ich dies Thema berühre, aber da ich nicht weiß, wie Sie zu der Sache stehen, ist es meine Pflicht, zu reden! Von Alignolle kann man im vollen Sinne des Wortes sagen: ›Er stellt sich als ein Engel des Lichts‹ – Er hat viele durch seine Heuchelei überlistet, auch ich habe ihm eine Zeitlang geglaubt. In den wenigen alten Royalistenfamilien, die das Wort Gottes noch hochhalten, fand er Eingang; warum er diese Anknüpfung suchte, weiß man nicht, ich behaupte, er horcht die Menschen aus und benutzt das empfangene Material zur Intrige!«

»Sie halten ihn für ...«

»Für einen Anarchisten,« unterbrach er mich fast rauh; »ich halte ihn nicht nur dafür, ich habe Beweise, daß er es ist.«

Fersen brach auf.

»Ich danke Ihnen für diesen Freundschaftsdienst, Hochwürden,« sagte ich, mich an Edgeworth wendend, während wir uns den übrigen näherten, »aber seien Sie unbesorgt, eine Hilaire reicht weder dem Gottesverächter noch dem Königsfeinde die Hand.«

Ein Lächeln ging über seine edlen Züge: »Ich wußte es,« sagte er, sich über meine Hand beugend, »aber oft fordert, trotz aller Erkenntnis, das Gewissen ein klärendes Wort. Und noch eins: Sollten Sie in den kommenden Tagen des Rates und der Stütze eines Mannes bedürfen, so vergessen Sie Henri Allen Edgeworth nicht!« Er verneigte sich tief und ging.

Ich blickte ihm gedankenvoll nach, und das Bewußtsein, einen Freund gefunden zu haben, dessen klarer Geist über den Wirren und Gefahren der Zeit steht, und der in Gott seine Kraft sucht und findet, hob mich empor. Dankbar ging ich zur Ruhe. Ich erfuhr's ja stets aufs neue: Durch Sturm und Wetterwolken bricht immer wieder die Sonne.


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