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Vierzigstes Kapitel

Von der Einsetzung der Dezemvirn in Rom und was dabei zu bemerken ist, unter vielem andern auch, wie eine Republik durch ein und dasselbe Ereignis gerettet oder unterdrückt werden kann.

Da ich die Vorfälle, die in Rom aus der Einsetzung der Dezemvirn entsprangen, im einzelnen erörtern will, so erscheint es mir nicht überflüssig, zuerst alles zu erzählen, was auf diese Einsetzung folgte, und das Bemerkenswerteste zu besprechen. Es ist mancherlei und von großer Bedeutung, sowohl für die, welche die Freiheit einer Republik erhalten wollen, wie für die, welche die Absicht haben, sie zu unterdrücken. Denn man wird dabei viele Fehler sehen, die vom Senat und vom Volke zum Nachteil der Freiheit begangen wurden, und viele Fehler des Appius, des Hauptes der Dezemvirn, zum Nachteil der Tyrannei, die er in Rom aufrichten wollte.

Nach vielen Zänkereien und Streitigkeiten zwischen Volk und Adel über neue Gesetze, die die Freiheit des Staates dauernd befestigen sollten, kam man überein, den Spurius Posthumius und zwei andre Bürger nach Athen zu schicken, 454 v. Chr. Vgl. Livius III, 31 ff. um Abschriften der Solonischen Gesetze zu holen, die zur Grundlage für die römischen Gesetze dienen sollten. Nach ihrer Rückkehr schritt man zur Wahl derer, die die genannten Gesetze prüfen und abfassen sollten, und ernannte zehn Bürger auf ein Jahr, unter ihnen den Appius Claudius, einen verschlagenen, unruhigen Mann. 451 v. Chr. Damit sie diese Gesetze ohne jede Rücksicht geben konnten, hob man alle andern Ämter in Rom auf, namentlich das der Tribunen und Konsuln, ferner das Recht der Berufung an das Volk, so daß die zehn Männer völlig Herren von Rom waren. In Appius vereinigte sich durch die Volksgunst die ganze Macht seiner Amtsgenossen, denn er hatte sich durch sein äußeres Benehmen so beliebt gemacht, daß es ein Wunder schien, wie rasch er seine Natur und Gesinnung verändert hatte, da er doch vorher für einen grausamen Verfolger des Volkes gegolten hatte.

Die Dezemvirn benahmen sich anfangs sehr gemäßigt; sie hielten sich nicht mehr als zwölf Liktoren, die ihrem jeweiligen Oberhaupt voranschritten. Obwohl sie unumschränkte Gewalt hatten, stellten sie doch einen Bürger, der wegen Totschlags bestraft werden sollte, vor das Volk und ließen ihn von diesem aburteilen. Ihre Gesetze schrieben sie auf zehn Tafeln und stellten sie vor der Bestätigung öffentlich aus, damit jeder sie lesen und erörtern konnte, so daß man etwaige Mängel entdecken und vor der Bestätigung abändern konnte. Inzwischen ließ Appius in Rom ein Gerücht aussprengen, daß die zehn Tafeln durch Hinzufügung zweier weiterer Tafeln ganz vollkommen sein würden. Dies gab Veranlassung, die Zehn für ein zweites Jahr zu ernennen. Das Volk verstand sich gern dazu, denn erstens wurden auf diese Weise keine Konsuln gewählt, und zweitens glaubte es auch ohne Tribunen auszukommen, da es, wie oben gesagt, Richter in Rechtssachen war.

Als dieser Beschluß gefaßt war, setzte der Adel alles in Bewegung, um jene Ehrenstellen zu erlangen, allen voran Appius, der bei der Bewerbung solche Leutseligkeit gegen das Volk zeigte, daß er seinen Mitbewerbern verdächtig zu werden begann. Credebant enim haud gratuitam in tanta superbia comitatem fore. Livius III, 35. (Sie glaubten nämlich, diese Leutseligkeit sei bei solchem Hochmut nicht umsonst.) Da sie sich scheuten, ihm offen entgegenzutreten, beschlossen sie, es durch einen Kunstgriff zu tun, und übertrugen ihm, obgleich er der Jüngste von allen war, die Befugnis, die künftigen Dezemvirn dem Volke vorzuschlagen. Sie nahmen dabei an, er werde sich nach dem bisherigen Brauche nicht selbst vorschlagen, was in Rom etwas Unerhörtes und Schimpfliches war. Ille vero impedimentum pro occasione arripuit Livius III, 35. (er aber ergriff das Hindernis als Gelegenheit) und ernannte sich selbst zum Erstaunen und Mißfallen aller Adligen zuerst; dann ernannte er neun andre nach seinem Gutdünken.

Diese Neuwahl für das zweite Jahr öffnete dem Volk und dem Adel die Augen. Denn sofort Appius finem fecit ferendae alienae personae Ebd. 36. (legte Appius seine Maske ab), zeigte seinen angeborenen Hochmut und erfüllte seine Amtsgenossen in wenigen Tagen mit der gleichen Sinnesart. Um das Volk und den Senat einzuschüchtern, nahmen sie statt der 12 Liktoren 120 an. Einige Tage war die Furcht allgemein, bald aber begannen sie den Senat hinzuhalten und das Volk zu mißhandeln. Wenn ein von einem Dezemvir Bedrückter sich an den andern wandte, erging es ihm bei der Berufung noch schlimmer. Das Volk erkannte nun seinen Irrtum und wandte seine Augen voll Betrübnis auf die Patrizier. Et inde libertatis captare auram, unde servitutem timendo, in eum statum rempublicam adduxerant. Ebd. 37. (Und es erhoffte von ihnen ein wenig Freiheit zu erhaschen, wo es doch den Staat aus Furcht, von ihnen geknechtet zu werden, in diese Lage gebracht hatte.) Dem Adel aber war die Betrübnis des Volkes erwünscht, ut ipsi, taedio praesentium, consules desiderarent Ebd. 37. (damit es aus Überdruß an den jetzigen Männern Konsuln verlangte). Das Ende des Jahres rückte heran; die beiden Gesetzestafeln waren fertig, aber noch nicht veröffentlicht. Das benutzten die Dezemvirn, um im Amte zu bleiben. Sie begannen die Regierung gewaltsam zu führen und sich eine Leibwache aus der adligen Jugend zu bilden, der sie die Güter der Verurteilten schenkten. Quibus donis iuventus corrumpebatur, et malebat licentiam suam quam omnium libertatem. Livius III, 37. (Durch solche Geschenke verdorben, wollte die Jugend lieber ihre eigne Ungebundenheit als die öffentliche Freiheit.)

Zu dieser Zeit erklärten die Sabiner und Volsker den Römern den Krieg. In ihrer Bedrängnis begannen die Dezemvirn die Schwäche ihrer Regierung einzusehen. Denn ohne den Senat konnten sie keinen Krieg führen, und versammelten sie den Senat, so schien ihnen ihre Herrschaft verloren. Trotzdem taten sie notgedrungen das letztere. Das folgende nach Livius III, 39, 41, 44 ff. Als aber der Senat versammelt war, sprachen viele Senatoren, besonders L. Valerius und M. Horatius, gegen den Übermut der Dezemvirn, und ihre Herrschaft wäre völlig zu Ende gewesen, hätte der Senat nicht aus Mißgunst gegen das Volk vermieden, sein Ansehen geltend zu machen. Hielt er es doch bei freiwilliger Amtsniederlegung der Dezemvirn für möglich, daß die Volkstribunen nicht wiedergewählt würden. Der Krieg wurde also beschlossen, und zwei Heere unter Anführung eines Teils der Dezemvirn zogen aus. Appius blieb zur Regierung der Stadt zurück und verliebte sich in Virginia. Als er sie mit Gewalt entführen wollte, wurde sie von ihrem Vater Virginius erstochen, um sie zu befreien. Aufstände in Rom und bei den Heeren waren die Folge. Diese vereinigten sich mit dem Rest des Volkes und zogen auf den Heiligen Berg, wo sie lange blieben, bis die Dezemvirn ihr Amt niederlegten, Tribunen und Konsuln gewählt wurden und Rom seine alte Freiheit zurückerhielt.

Bei diesen Ereignissen ist zunächst zu bemerken, daß in Rom das Übel einer Tyrannenherrschaft aus denselben Ursachen entsprang wie in den meisten Freistaaten, nämlich aus dem übermäßigen Verlangen des Volkes nach Freiheit und dem übermäßigen Verlangen des Adels nach Herrschaft. Können sie sich über ein Gesetz zugunsten der Freiheit nicht einigen, sondern eine von beiden Parteien verfällt darauf, einen Mann zu begünstigen, dann ist sogleich die Tyrannei da. Das Volk und die Patrizier von Rom waren übereingekommen, die zehn Männer zu ernennen und sie mit so großer Machtbefugnis auszustatten, weil beide Teile den gleichen Wunsch hatten, der eine das Konsulat, der andre das Tribunat abzuschaffen. Da es nach der Wahl den Plebejern erschien, daß Appius volksfreundlich geworden sei und den Adel bedrückte, wandte ihm das Volk seine Gunst zu. Läßt sich aber ein Volk zu dem Fehler verleiten, einem Manne Ansehen zu geben, damit er die bedrückt, die es haßt, und dieser eine ist klug, so wird er allemal Tyrann dieser Stadt werden. Denn mit Hilfe der Volksgunst wird er danach trachten, den Adel zu vernichten, und erst dann zur Unterdrückung des Volkes schreiten. Wird dieses dann seiner Knechtschaft gewahr, so hat es niemand mehr, zu dem es seine Zuflucht nehmen kann. Für diesen Gedankengang vgl. Aristoteles, Politik, VIII, 8,1.

Diesen Weg schlugen alle ein, die eine Tyrannenherrschaft in einer Republik aufgerichtet haben, und hätte Appius so gehandelt, so hätte seine Tyrannis mehr Fuß gefaßt und wäre nicht so bald zu Ende gewesen. Allein er tat genau das Gegenteil und konnte sich nicht unklüger benehmen. Denn um die Herrschaft zu behalten, machte er sich die zu Feinden, die sie ihm verliehen hatten und sie ihm erhalten konnten, und stellte sich gut mit denen, die nichts dazu beigetragen hatten und sie ihm nicht erhalten konnten. Er verlor also seine wirklichen Freunde und suchte die zu Freunden, die seine Freunde nicht sein konnten. Denn wenn auch die Adligen nach Alleinherrschaft streben, ist doch der Teil des Adels, der von dieser Herrschaft ausgeschlossen ist, dem Tyrannen stets feindlich gesinnt. Und dieser kann den Adel wegen seiner großen Herrschsucht und Habsucht nie ganz gewinnen, da der Tyrann nie über so viele Reichtümer und Ehrenstellen verfügt, um alle zufriedenzustellen. So machte denn Appius, indem er das Volk im Stiche ließ und sich zum Adel schlug, den augenscheinlichsten Fehler, sowohl aus den angeführten Gründen wie deshalb, weil der Zwingherr, um etwas mit Gewalt zu halten, mächtiger sein muß als der Bezwungene. Daher kommt es auch, daß die Tyrannen sichrer sind, die die Menge zum Freund und die Großen zu Feinden haben, weil ihre Gewalt eine stärkere Grundlage hat, als wenn sie das Volk zum Feinde und den Adel zum Freunde haben. Daß der Tyrann das Volk gewinnen und die Großen unterdrücken müsse, lehrte Aristoteles, Politik, VIII, 8,7. Das rechte Verhältnis zwischen Zwingherr und Bezwungenen bei Thukydides, V, 89 und 105. Denn im Besitz der Volksgunst genügen die eignen Streitkräfte, um sich zu behaupten, wie sie für Nabis, den Tyrannen von Sparta, hinreichten, als ganz Griechenland und das römische Volk ihn angriffen. 195 v. Chr. S. Kap. 10 und Livius XXXIV, 22 ff. Nachdem er sich vor einigen Adligen gesichert hatte, verteidigte er sich mit Hilfe des Volkes, das er zum Freunde hatte. Das hätte er nicht tun können, wenn es sein Feind gewesen wäre.

Im umgekehrten Falle, wo man nur wenige Freunde im Innern hat, genügen die eignen Streitkräfte nicht, sondern man muß sie auswärts suchen. Diese können von dreierlei Art sein: Erstens man nimmt eine fremde Leibwache; zweitens man bewaffnet das Landvolk, das dann an Stelle des niederen Volkes tritt; drittens man schließt ein Schutzbündnis mit mächtigen Nachbarn. Wer diese Wege einschlägt und sie genau innehält, dürfte sich, auch wenn er das Volk zum Feinde hat, einigermaßen sichern können. Allein Appius konnte das Landvolk nicht für sich gewinnen, da die Land- und Stadtbevölkerung dasselbe war, und was er hätte tun können, verstand er nicht, so daß er schon gleich im Anfang zugrunde ging. Auch Senat und Volk begingen bei Ernennung der Dezemvirn die größten Fehler. Wir haben zwar oben über den Diktator gesagt, S. Kap. 34. daß die Behörden, die sich selbst dazu machen, der Freiheit schädlich sind, nicht die, die das Volk ernennt. Nichtsdestoweniger muß das Volk, wenn es Behörden einsetzt, dafür sorgen, daß sie einige Scheu davor haben, Böses zu tun. Anstatt ihnen Wächter zu bestellen, damit sie gut bleiben, nahmen die Römer diese fort, indem sie den Dezemvirn alle Macht übertrugen und alle andern Behörden aufhoben. Der Senat tat dies, weil er, wie wir oben gesehen haben, darauf brannte, die Tribunen abzuschaffen, das Volk, weil es darauf brannte, die Konsuln abzuschaffen, und dies Verlangen machte beide Teile so blind, daß sie zu der allgemeinen Verwirrung beitrugen. Denn die Menschen machen es, wie König Ferdinand Vermutlich Ferdinand I. von Neapel (1458-94). sagte, wie gewisse kleine Raubvögel, die mit solcher Gier ihre Beute verfolgen, daß sie den großen Vogel nicht sehen, der über ihnen schwebt, um sie zu töten. Dies Kapitel zeigt also, wie ich zu Anfang gesagt habe, die Fehler des römischen Volkes, als es seine Freiheit retten, und die Fehler des Appius, als er sich der Alleinherrschaft bemächtigen wollte.


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