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Fahrzeuge.

Vom Stellmacher kann der Künstler was lernen. Ein elegantes Fahrzeug ist im höchsten Grade modern. Was Kunstgewerbe und Architektur heute erst ersehnen, vollendete Sachlichkeit und Gediegenheit, organische Durchbildung und Wohlgefälligkeit, ist im Wagenbau längst verkörpert. Wie konnte man die wundervolle Tradition übersehen, die den Stellmacher in seiner Arbeit führte und ihn fortwährend auf ein Lebendiges hinwies, auf den Zweck und auf den Menschen, der das Maß der Dinge ist? Waren nicht alle Kunstgesetze in jenen entzückenden Wagengebilden ausgedrückt, die in den Tagen des Wiener Kongresses, in den 20iger und 30iger Jahren, entstanden sind und an die der heutige Wagenbauer noch immer mit heimlicher Sehnsucht zurückdenkt? Zwar steht der Wagenbau handwerklich noch in hohen Ehren, als eines der seltenen Gewerbe, die selbst in der heutigen Zeit noch nicht die guten Grundlagen ihres Könnens und ihres Geschmackes eingebüßt haben. Was sie zum großen Teil eingebüßt haben, das sind die Kenner und Liebhaber. Wie viele sind noch, die ein edles Fahrzeug zu schätzen wissen? Was wissen die Heutigen noch von einer richtigen Attelage? Zwar halten auch die Sattler und Riemer gleich den Stellmachern treu zu dem ehrenfesten Bestand ihrer Handwerkskunst. Wenn es diese beiden, Stellmacher und Riemer mit ihrer Kundschaft besonders gut meinen, dann legen sie ihnen die Lithographien jener unvergleichlichen alten Wagenbespannungsformen vor, die auf Grund englischer Sporteinflüsse in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts auf dem Wiener Boden zur höchsten Eleganz ausgebildet worden waren. Aber diese Kundschaft ist heute rar. Der Tischler jener biedermeierlichen Zeit hatte nach verwandten Grundsätzen gearbeitet. Bedarf es dafür noch umständlicher Beweise? Wer die Vielheit gediegener, sachlicher, altheimischer Möbelformen kennt, spürt ohne weiteres den Zusammenhang. Aber der heutige Tischler fühlt sich als Kunstgewerbler und der Möbelzeichner nennt sich Architekt. Es ist schön, wenn die Leute was auf sich halten. Ich muß aber fragen, warum sich nicht auch der Stellmacher Architekt nennt? Er hätte eigentlich noch mehr Recht darauf als die anderen. Die feingeschwungene Kurve eines Wagenprofils ist nicht etwa Ausdruck einer müßigen Laune, sie ist das Ergebnis eines Gestaltens, das den Adel der Form aus der reinsten Zweckmäßigkeit und aus sinnreichen Konstruktionen entwickelt, im Prinzip dasselbe, was der Architekt auf seine Art tun müßte. Wenn sich der Stellmacher Architekt nennt, darf sich der Sattler und Riemer Kunstgewerbler nennen, denn sein Gestalten steht an sachlichem Denken nicht nach. Aber beide haben das zu ihrem Glück nicht getan. Während die Architekturbrille nach Paris, Rom oder Hellas zeigt, hat sich auf diesen Gebieten, frei von jeder überflüssigen Kunstmacherei ein gesundes, sachliches Formprinzip erhalten, das nur deshalb übersehen werden konnte, weil die Kunstbildung unserer Zeit die akademische Binde vor den Augen hat. Ein wahres Glück, daß sich die Kunst noch nicht mit den Fahrzeugen befaßt hat. Hier bleibt nichts zu verbessern und zu verbösern, hier gibts nur zu lernen.

Es ist die Frage, ob eine Sache auch schön ist, weil sie zweckmäßig ist. Ein edles Fahrzeug, leicht und doch solid gebaut, aus Mahagoni, Nußholz, sinnreich konstruiert und raffiniert bequem, im höchsten Grade zweckmäßig, wer würde es nicht schön heißen? Es befriedigt unser ästhetisches Empfinden in so ausreichendem Maße, daß wir diesem Gebilde zu seiner Vollkommenheit weder etwas hinzugeben, noch wegnehmen möchten. Zwar hatten die Galawagen früherer Jahrhunderte auch reichliches ornamentales Zubehör, das eigentlich nicht unbedingt zum Wesen der Sache gehörte. Die spanische Hofetikette hat manche Spuren in den höfischen Galaerscheinungen, selbst bis in die heutige Zeit hinterlassen. Aber seitdem wir selbst nicht mehr die Allongeperücke tragen, haben wir keinen Anspruch, diese ornamentalen Zutaten als das Wertmaß der Schönheitsbegriffe zu wählen. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß auch jene Prunkwagen in ihrer wesentlichen Erscheinung von der Konstruktion bedingt waren, die im XIX. Jahrhundert unverhüllt in die Erscheinung getreten ist und in dieser Form erst der Schlichtheit und Sachlichkeit unseres Wesens, unserer Kleidung und dem Hausrat, wie ihn die bodenständige Tradition vorgebildet hat, angemessen ist. Aus dem gleichen Grunde verdient das Fahrrad als schön bezeichnet zu werden. Schön ist auch das Automobil, eine gute Schnellzugslokomotive, ein trefflich eingerichteter Eisenbahnwagen, ein Dampfschiff, ein Rennboot. Was an einem Ruderboot weiter daran ist? Es ist nichts weiter daran. Nehmen wir ein Achterboot: ein schmales leichtes Gehäuse, mit Zedernholz geplankt, ca. 10 m lang, ferner mit breiten Auslegern für Riemen oder Ruder, mit Roll- oder Gleitsitzen, um die Armmuskeln durch die Arbeit der Beinmuskeln beim Rudern zu unterstützen, eine höchst sinnreiche, organische Verbindung der Kräfte nach dem Prinzip des kleinsten Mittels, wodurch die Muskelleistung durch die Steigerung des Auftriebes und die Verminderung der Reibungswiderstände nicht nur weise geschont, sondern zugleich zur stärksten Kraftäußerung befähigt wird. Dieses sachliche Denken hat die Fahrzeuge zu Organen ausgebildet, die geradezu menschlich beseelt sind. Unsere Fahrzeuge verkörpern ein Stück unseres Nervenlebens. Es ist ein Irrglaube, daß Sachlichkeit zur Unpersönlichkeit führe. Im Gegenteil. Die Sachlichkeit allein gewährt weitgehende persönliche Differenzierung. Von dem primitiven, ungelenken Einbaum bis zu dem nervös beweglichen Rennboot liegt eine ungeheure Summe geistiger Arbeit, die den Dingen unsere menschliche Physiognomie nach dem Grade unserer Geistesfähigkeiten aufdrückt. Nicht in der Architektur, sondern in den Fahrzeugen, in der modernen Verkehrstechnik spiegelt sich unsere Kultur. Wenn wir nach dem Stil unserer Zeit fragen, hier haben wir ihn. Hier ist eine Sachkunst entwickelt, die unsere Wesenheit unvermittelt ausdrückt. Im Wagenbau ist die Porträtgalerie von individuell ausgebildeten Typen kaum zu übersehen. Zwischen dem nordischen Karriol und der Stoolkjärre bis zu den eleganten Char-à-bancs und den ländlich vornehmen Mailcoaches liegt eine ganze Welt künstlerischer Phantasie, die lediglich nach Notwendigkeiten arbeitet, und ausschließlich auf sachlichen Grundlagen persönliche Unterscheidungsmerkmale ausbildet. Hier ist gesundes organisches Wachstum. Ganz ähnlich hat die Automobilindustrie zahlreiche Typen von Kraftfahrzeugen entwickelt, den verschiedenartigsten persönlichen Bedürfnissen Rechnung tragend. In groben Umrissen angedeutet vereinigen sich im Automobil drei bekannte, selbständige Erscheinungsformen zu einem neuen Gebilde, der Wagenbau mit seinem formalen Wesen, das Prinzip der Kettenradübersetzung des Fahrrades und die Dynamik des Motors, als willkommener Ersatz animalischer Muskelkraft. Die hochentwickelte Tradition des Wagenbaues kommt dem Automobil in ästhetischer Hinsicht ungeheuer zu statten. Auf dieser Grundlage war es möglich, daß das Automobil in wenigen Jahren seine Form ausbildete, die heute schon als einwandfrei gelten kann. Hier sehen wir wieder, wie die formal ästhetische Ausbildung genau wie bei allen anderen Verkehrseinrichtungen sich aus sachlichen Notwendigkeiten ergibt. Die ersten Automobile machten noch den unbefriedigenden Eindruck von Wagen, denen die Pferde ausgespannt worden. Bald aber gewann das Kraftfahrzeug die Form, zu der es sich im Interesse der Schnelligkeit und zur Überwindung der Luftdruckwiderstände auswachsen mußte, indem sich der Motor in einen schmalen vorderen Bau hinausschob und das Ganze die Form der schnellen Bewegungskörper, wie des Vogels, des Fisches und der Schiffe bekam. Auch die Luftschiffe müssen sich notgedrungen zu ähnlichen Formen ausbauen, die aus Notwendigkeit entstanden, durchaus ästhetisch empfunden werden können. Das Problem des lenkbaren Luftschiffes war formal der Lösung längst nahe; zur effektiven Durchführung fehlte nichts, als daß der Motor in der Luft leicht genug sei, um nicht zum Auftrieb in einem zu argen Mißverhältnis zu stehen. Die Analogie mit dem Vogelbau ist ganz leicht zu finden, wenn wir etwa die Möven beobachten, die von der Nordsee längs der Wasserstraße bis hierher an das Dresdener Elbgelände streichen, oder die auf einem anderen Wege die Wasserlandschaften der Donau beleben. In der heutigen Form erweckt das Automobil nicht mehr die störende Empfindung, daß eine Vorspannung fehle. Hierzu kommt noch der nicht zu unterschätzende Gewinn des in der ganzen Verkehrstechnik entwickelten Erfordernisses der Gediegenheit in Material und Arbeit. Der Châssis des Automobils, auf dem der Motor und das Gehäuse ruht, muß von ganz außerordentlicher Beschaffenheit sein und die Anforderungen, die in dieser Beziehung an die Stahlindustrie gestellt werden, sind ganz enorm. Das hat sein Gutes, wenn man die wirtschaftliche Tragweite bedenkt, die die qualifizierte Arbeit für die Arbeiterschaft enthält. Schundindustrie mit ihren demoralisierenden Folgen ist hier absolut ausgeschlossen.

Der Bau der modernen Schnellzugslokomotive ist von den gleichen formalen Rücksichten bestimmt. In der Nürnberger Ausstellung 1906 stand eine Maffeische Schnellzugslokomotive, in die sich nicht nur Techniker, sondern auch die künstlerisch geschulten Ästhetiker verlieben mußten. Sie war für Geschwindigkeiten bis zu 150 km pro Stunde gebaut, weshalb der Führerstand, die Rauchkammertür und die Verkleidungen vom Dom und von den außenliegenden Zylindern als Windschneiden ausgebildet waren. Ihr Profil glich am Vorderteil der Brust eines Vogels, man konnte auch an den zum Flutstich eingerichteten Bau eines Schiffes oder eines Fischkopfes denken. Sie war augenscheinlich zum Fliegen, wenn auch auf ebener Fläche bestimmt. Ihre Bestimmung war so sinnfällig, daß es zu ihrer Schönheit nichts mehr bedurfte. Was hätte ihr die angewandte Kunst geben können? Die angewandte Kunst kann hier nur empfangen. Auf diese Art haben sich in unserer Zeit neue Schönheitsbegriffe entwickelt, die wesentlich aus der Vorstellung harmonischer Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit entspringen. Wir können unmöglich einen noch so geschmückten Gegenstand schön heißen, wenn er seine Zweckbestimmung verfehlt oder unvollkommen ausdrückt. Dagegen wirkt der Ausdruck der Wahrhaftigkeit und der Gediegenheit immer wohltuend und je vollkommener und reiner dieser Ausdruck ist, desto befriedigter wird unser Schönheitsempfinden sein. Es spricht dabei vielleicht ein ethischer Grundsatz mit, der die Lüge und Maskerade verabscheut und im letzten Grunde auch in der Kunst und in der Kunstfreude mitwirkt. Großartige Bahnhofkonstruktionen, wie der Hauptbahnhof in Dresden und in Frankfurt sind für uns auch Gefühl und ästhetischer Genuß. Instinktiv wird selbst der unbefangene Beschauer beim Anblick dieser kühnen Konstruktionsformen ergriffen und erhoben. Dagegen läßt in der Regel die äußere Bahnhofarchitektur, die an kunstgeschichtliche Vorbilder anklingt und allerlei Nebengedanken erwecken will, den Betrachter kalt. Woher kommt der Mißklang, der sich immer ergibt, wenn eine stagnierende Architektur und ein ebenso beschaffenes Kunstgewerbe in Verbindung mit den lebensvollen Gebilden der Technik auftritt? Es kommt wohl daher, weil die Architektur und das von ihr abhängige Kunstgewerbe aufgehört hatten, organisch zu bilden und sich damit begnügten, fertige Schmuckformen und Stilmotive abzuwandeln und schematisch anzuwenden. Das mächtige Übergewicht, das vor allem die Ingenieurkunst und die Verkehrstechnik in dem öffentlichen Interesse erlangt hat, erklärt sich zum großen Teil daraus, daß auf diesen Gebieten fortwährend geistig gearbeitet und um den Fortschritt gerungen wurde. Die Stellmacher oder Wagenbauer, die Fahrradtechniker, die Bootbauer, die Maschineningenieure, die Automobilfabrikanten, die Schiffskonstrukteure, sie haben alle geistig gearbeitet, was sich in dem gleichen Umfang hinsichtlich der Architektur nicht sagen läßt. Es ist wesentlich bequemer, überlieferte stilistische Motive spielerisch anzuordnen, anstatt das Leben in so intensiver Weise nach seinen unerschlossenen Bedürfnissen zu befragen, als es durch die moderne Technik geschieht, die das menschliche Dasein tatsächlich durch eine große Zahl wundervoller Organismen reicher gemacht hat. Die Technik hat nicht nur unsere Erkenntnisse, sondern auch unsere Fähigkeiten, kurz den menschlichen Machtbezirk erweitert und uns Kräfte gegeben, die noch vor fünfzig Jahren Märchenträume waren. Was hat uns dagegen die Architektur gegeben? Die ist nicht einmal mit sich selber fertig geworden; sie sucht noch den »Stil« und kann ihn nicht finden, weil sie glaubt, ihn um jeden Preis in der Vergangenheit finden zu müssen. Sie hat noch kaum eine Ahnung, daß inzwischen die moderne Verkehrstechnik den Stil mit aller logischen und sachlichen Folgerichtigkeit entwickelt hat. Im Anfang des XIX. Jahrhunderts, als die zahllosen organisch durchgebildeten und sachlichen Möbelformen auftraten, hatte die Architektur, oder zumindest das Kunstgewerbe noch den lebendigen Zusammenhang mit dem Geist der Technik.

siehe Bildunterschrift

Konventionelle Kinderphotographie mit süßlich geschleckter Umrahmung. Das ist der »Geschmack« im Alltag, der sich allen Gegenbeispielen würdig anschließt und auf allen Linien zu bekämpfen ist. (Siehe Kap.: Kodakgeheimnisse.)

Von dem Mißverhältnis zwischen den eleganten und sinnreichen Fahrzeugen und der Wohnungsgestaltung konnte damals nicht die Rede sein. Wie groß heute der geistige Abstand zwischen der hochentwickelten Technik und der Architektur ist, können wir im Alltag auf Schritt und Tritt erfahren. Ein drastisches Beispiel liefern die großen modernen Schiffe des norddeutschen Lloyd und der Hamburg-Amerika-Linie. Der beliebte Ausdruck »schwimmende Paläste« hat unfreiwillig einen argen Mißstand gekennzeichnet.

siehe Bildunterschrift

Übler Kunsthändler-Rahmen. Nein, der Rahmen soll schlicht sein, aus geraden Leisten geschnitten; diese falsche »Sezession« wirkt sehr übel.

Wenn man den auf rationellste Raumausnützung hin konstruierten Schiffsorganismus eines Salondampfers betritt, ist man nicht wenig überrascht, in den Salons eine Raumausstattung im Varietéstil anzutreffen. Während das ganze Schiff in seinen wesentlichen Teilen auf Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit gestellt ist, haben es die Passagierräume der ersten Kajüte auf eine Wirrnis von Stilbrocken abgesehen, auf einen ornamentalen Überfluß, der nichts weiter ist als verhüllter Mangel an organischer Gestaltungskraft. Die Schiffseinrichtungen waren vor fünfzig Jahren noch ausnahmslos gut. Im Sund verkehren kleine Vergnügungsdampfer, die namentlich in den Passagierräumen zweiter Klasse ausgezeichnete sachliche, schlichte und raumsparende Einrichtungen haben. Es muß allerdings gesagt werden, daß der norddeutsche Lloyd im Begriffe steht, jene edle Sachlichkeit und Gediegenheit zu geben, die den Schiffskörper in seinem rein technischen Teil auszeichnen. Denn nach manchen Erfahrungen und nach Überwindung des abschreckenden Jugendstiles hat sich das deutsche Kunstgewerbe befähigt gezeigt, Aufgaben zu lösen, die lediglich auf Qualität und auf zweckmäßiger Durchbildung beruhen. Soweit das deutsche Kunstgewerbe diesen Forderungen entspricht, hat es sich wieder auf die eingangs erwähnten Grundsätze gestellt, die im XIX. Jahrhundert eigentlich nur von der Technik konsequent durchgeführt worden sind. Indem das deutsche Kunstgewerbe diesen bedeutsamen Schritt unternimmt und sich von den Fesseln einer stagnierenden Architektur befreit, erobert es sich wieder neben der Technik das geistige Interesse des Volkes, weil es selbst wieder geistig tätig wird. Um ein Gewerbe auf der Höhe der Zeit zu halten, ist unaufhörlich intensive Denkarbeit nötig, darum meine ich, daß sich nur die besten Kräfte des Volkes dem Handwerk und dem Gewerbe widmen sollen. Um nur einen anständigen Reitsattel herzustellen, muß der Sattler zusehen, daß die Trachten des Stahlbaumes derart organisch sitzen, daß sie auf dem Pferderücken weder die Wirbelsäule beengen, noch die schutzlosen Nierenpartien oder die falschen Rippen belasten. Der Mann arbeitet mit seiner Denkkraft, indem er das Leben fortwährend befrägt, wie es in allen Fahrzeugindustrien und -gewerben geschieht. Diese Art zu denken ist für das Kunstgewerbe vorbildlich. Schon liegt eine Nutzanwendung vor. Es ist unschwer zu sagen, wo die größere geistige Arbeit liegt, in dem ganz schlichten amerikanischen Herrenkleiderschrank und dem amerikanischen Schreibtisch, mit dem allen Anforderungen des Lebens entsprechenden sorgfältig ausgedachten inneren Mechanismus, oder in den mehr oder weniger äußerlichen Kopien alter Möbelstile? Wir dürfen nicht vergessen, daß dieser organisch durchgebildete amerikanische Herrenkleiderschrank oder Schreibtisch zwar von dem modernen technischen Ingenium gezeugt, aber von der amerikanischen Empire- und Biedermeierform, dem Kolonialstil geboren ist. Haben wir die sachlich technischen Grundlagen unseres Empire- und Biedermeierstiles im Kunstgewerbe auch nur annähernd folgerichtig ausgebaut? Wir haben höchstens Stilmätzchen daraus gemacht. Folgerichtig ausgebaut hat diese Grundlagen lediglich die Technik in den Fahrzeug- und Verkehrseinrichtungen.

siehe Bildunterschrift

Auch so eine falsche »Sezession«. »Kunsthändlerrahmen«, der zu vermeiden ist. Es gibt allerdings noch schlimmere Rahmenprodukte, als dieses. Käuferregel: Gerade Leisten ...

Hier also, auf dem technischen Gebiet liegen die Keime einer neuen kommenden Architektur. Denn, um was es sich in der Technik im letzten Grunde handelt, ist die Herstellung von Kontakten mit der Natur außerhalb uns, die Erweiterung des Machtbezirkes unserer Organe und Nerven. Unsere Stimme und unser Arm wollen über den Ozean reichen, wir wollen Länder verbinden, räumliche und zeitliche Entfernungen verkürzen, durch das Kabel, die Schnelldampfer, die Kraftfahrzeuge durch mannigfache Verkehrseinrichtungen, durch Schienen-, Brücken-, Tunnelbauten, durch Organismen aller Art, deren Form aus der Notwendigkeit und der sachlichen Bestimmung hervorwächst, durch keinerlei vorgefaßten Stilbegriff aus der Vergangenheit belastet. Hier also ist Leben. Ein neuer Begriff der Raum- und Formgebung entsteht, ein neuer Architekturbegriff, ein neuer Schönheitsbegriff.

siehe Bildunterschrift

Schlichte, anständige Umrahmung. (Am.-Phot. R. Dührkoop-Hamburg.)

Ist dieses Prinzip wirklich so absolut neu? Es war immer da und immer wirksam, wo eine unakademische Kunst entwickelt wurde. Auch in der Architektur der Vergangenheit sind die konstruktiven Merkmale das Maßgebende. Noch im Biedermeiermöbel ist dieses technisch architektonische Prinzip ausgedrückt, in den sinnvoll konstruierten verschließbaren Schreibtischen, in den Bewegungsmechanismen der Sofas, den schmiegsamen, der Körperform angepaßten Stühlen, in dem Hunderterlei der durchgeistigten Möbelformen. Der Mensch ist das Maß der Dinge, was schon der berühmte Epheser erkannt hat. Wir wollen in lebendiger, organischer Übereinstimmung mit unserer sachlichen Umgebung leben, sie muß unsere Bewegungen und Gebärden maßvoll aufnehmen, sie muß gleichsam ein Echo zurückwerfen, und ihre Bestimmung klar erkennen lassen. Das ist zuguterletzt auch eine Angelegenheit der Architektur. Ja, Architektur im weitesten Sinne ist alles lebensvolle Bilden dieser Art. Ich betrachte eine Schnellzugslokomotive, eine Eisenbahnhalle, ein Automobil, ein Luxusfuhrwerk ebensogut als Architektur, wie ein amerikanisches Maschinenmöbel, ein schlicht und zweckmäßig gebautes Bauernhaus, oder jedes andere, nach den gleichen Grundsätzen der höchsten Sachlichkeit und Gediegenheit errichtete Gebäude. Aber wo finde ich ein solches? Was ist der Architekt, der die mächtigen Stilbildungen unserer Zeit verkennt, und die Architektur als eine bloße Stilübung, als Anwendung von dekorativen Motiven betreibt? Er ist das fünfte Rad am Wagen.


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