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Mode und Tracht.

Die Mode liefert den Geschmack für jedermann. Auch für die Geschmacklosen. Sie uniformiert. Sie lebt für die Masse und von der Masse. Das befestigt ihre Herrschaft, ihre Tyrannei. Jeder will modern sein. Die meisten verzichten gern auf ein bißchen Individualität, wenn sie eine solche haben, und schließen sich der Masse an, der Mode. Man will nicht auffallen, man will nicht absonderlich erscheinen, und man fällt am wenigsten auf, wenn man mit der Mode geht. Freilich, das sind die Modernsten, die nicht nach der Mode fragen, sondern selbst bestimmen, was ihnen angemessen ist. Das sind die Rebellen von heute und die Führer von morgen. Doch die Mode kümmert sich nicht um die Persönlichkeit und um ihre Mündigkeitsrechte; sie hebt diese Rechte auf, vergewaltigt, macht unfrei und unselbständig und beglückt ihre Sklaven sodann mit ihren gleißenden Gaben. Der persönliche Geschmack hat zu schweigen, ob ihm die neue Mode paßt oder nicht paßt, ob sie schön ist oder unschön, geschmackvoll oder geschmacklos, ist keine Frage; man trägt sie und damit basta! Passend oder unpassend, schön oder unschön, geschmackvoll oder geschmacklos, das sind größtenteils rein persönliche Anschauungen, die von Mensch zu Mensch wechseln, und wenn sich die Mode danach richten würde, wäre sie schon keine Mode mehr. Verkörpert die Mode nichts Persönliches, keinen individuellen Geschmack? O doch! Ein König findet einen neuen Westenschnitt, ein populärer Schauspieler schafft eine neue Hutform, ein berühmter Dichter einen neuen Schlips. Freilich ganz individuell, selbständig, schöpferisch; es paßt ihnen vortrefflich, es ist auch schön, höchst geschmackvoll. Aber eben nur für ihre eigene Person! Sie haben so getan, wie jede selbständige Natur, die klar erkennt, was sie nötig hat, tun würde. Aber in einigen Tagen hat die neue Weste, der neue Hut, der neue Schlips, die Weltherrschaft angetreten und Tausende und Abertausende seiner Willkür unterworfen. Natürlich ist nicht jeder König Eduard, Lord Byron oder Girardi. Viele sehen in der neuen Mode greulich aus. Aber was! Alle sind hypnotisiert. Was modern ist, sieht immer gut aus! Woran es jedem fehlt, sieht zunächst keiner. Erst wenn neue Moden gekommen sind und man probiert die alten verjährten Formen, kann man es nicht begreifen, wie man jemals ein solches lächerliches, geschmackloses und unpassendes Zeug am Leibe haben konnte. Wie doch das närrisch, auffallend und absonderlich aussieht! Dagegen ist doch die neue Mode sehr vernünftig und geschmackvoll! Also schafft man sich geschwind die neue Mode an. Es wird uns zwar mit der neuen genau so ergehen, wie mit der alten, wenn die Zeit um ist und eine neue Neuheit die Herrschaft an sich reißt. Diese Despotien wechseln rasch, denn nicht immer hat eine geschmackvolle, oder auch nur originelle Persönlichkeit durch ihre persönlichen Bedürfnisse eine Mode vorgebildet. In den weitaus häufigsten Fällen entscheiden geschäftliche Gründe, den Modewechsel zu beschleunigen. Da wird die Sache noch bedenklicher. Sie ist nicht mehr unter der Kontrolle einer Persönlichkeit gestanden, die die Sache am eigenen Leibe erprobt und wenigstens für sich entwickelt hat.

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Tischtuch (¼ Teil), Schnurstich, weiß auf blauem Grund (Meißner). Dekorative Gebundenheit. Der gute Geschmack auch in der Maschinenarbeit möglich, wie hier ersichtlich. (Entw.: Frl.Peyfuß.)

Sie ist eine Angelegenheit des modernen Großbetriebes geworden, indem findige Schneider mit einem ganz gewaltigen Apparat von Zeichnern, Modeblättern, Modellen, vielgesehene Persönlichkeiten der Öffentlichkeit die neue Mode schaffen. Berühmte Namen treten in Verbindung mit der Modeneuheit auf, aber die Träger dieser Namen sind gewöhnlich auch nur die Träger der neuen Mode, nicht die Erfinder oder Anreger. Erfinden tut der Schneider. Er erfindet Formen an sich, Formen, die um jeden Preis anders sein müssen, als die der vorigen Saison, Formen, die das Publikum noch nicht hat, sondern die es erst haben wird. Es liegt bloß eine geschäftliche Notwendigkeit vor; die Neuheit wird gesucht, weil sie neu ist, nicht weil sie schöner, praktischer oder geschmackvoller ist. Der große Apparat braucht Nahrung, er muß im Schwung gehalten bleiben, das Riesenrad muß sich umdrehen und es dreht sich um so schneller, je mehr Wasser auf die Mühle kommt. Die Neuheiten sind der Antrieb und das Publikum arbeitet kräftig mit. Denn, wer ein halbes Jahr lang enge Ärmel getragen hat, sehnt sich nach weiten Ärmeln, nicht weil sie besser sind, sondern, weil sie einmal etwas anderes sind. Nun sind jeder Torheit die Tore offen. Ins Gigantische wächst sie sich in der Frauenmode aus; bei uns Männern sieht's zuweilen auch schlimm aus, aber doch niemals gar so schlimm. Das Beharrungsvermögen, eine von den physikalischen Eigenschaften des Publikums, bringt es mit sich, daß Paris in der Frauenmode noch immer als die Bezugsquelle des feinen Geschmacks gilt, obzwar die persönlichen und schöpferischen Kräfte, die diesen Ruhm im 17. und 18. Jahrhundert begründet haben, versiegt sind. L'Etat, c'est moi, galt auch für die Domäne des hochkultivierten Geschmackes.

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Tischtuch mit Schnurstich (Maschine). Rosen aus der Materialsprache entwickelt. Die Schnur vermeidet die Kreuzungen, was technisch und künstlerisch absolut richtig ist. Einwandfreies Beispiel. (Entwurf: Fräulein Peyfuß.)

An Stelle der persönlichen Herrschaft ist die unpersönliche getreten, und Paris denkt in seiner Mode nicht mehr an sich, sondern an die ganze Welt außerhalb, nicht an eigene, sondern an fremde Bedürfnisse. Wer fortwährend neue Moden für andere, nur der Neuheit wegen erfinden muß, verfällt unfehlbar in Torheiten. Aber an die Torheiten der Schneidererfindungen ist eine weitausgreifende weise Organisation geknüpft, die viel kaufmännisches Talent, geistige Arbeit und Tüchtigkeit und zahllose geschäftige Arbeitshände in Bewegung setzt. Reisen werden gemacht, der Zeichenstift und der Telegraph sind fieberhaft tätig, Berichte gehen in alle Welt, Textilienfabrikanten versorgen neue Muster und Stoffe, ganze Fabrikationszweige kommen durch eine einzige Modelaune zum Fall, andere zum Aufblühen, Vermögen stehen auf dem Spiel, Niederlagen werden erlitten und Siege erkämpft, und bis in den kleinsten Haushalt, bis in die geistigsten Regionen der menschlichen Geschlechterbeziehungen werden Erschütterungen durch diese Kraftwelle verspürt. Mancher wirtschaftliche Ruin, manche sittliche Entgleisung, mancher Aufstieg zu Glück oder Ansehen, manches gelungene Heiratsprojekt ist mittelbar oder unmittelbar Ergebnis des Modebetriebes. Helden und Märtyrer gibt es auf der ganzen Linie. So arbeiten Torheit und Weisheit einträchtig Hand in Hand und es wird nicht immer klar, daß in diesem anstrengenden und aufregenden Spiel eigentlich um Scheinwerte gespielt worden ist. Denn schon nach einem halben Jahr, oder nach einem Jahr, sicherlich aber in wenigen Jahren ist der Zauber gebrochen und nichts geblieben, als ein paar armselige wertlose Fetzen, um die so leidenschaftlich gearbeitet, gekämpft und mitunter gelitten worden ist, und die entgeistert und des Trugs entkleidet nur ein verächtliches Lächeln selbst von jenen empfangen, die am heißesten gestritten haben. Aber zum Nachdenken ist keine Zeit. Schon längst ist die neue Mode da und hat Sinn und Verstand in Beschlag gelegt. Besessenheit! Das schwindelerregende Spiel, wo Torheit und Weisheit ineinander verschlungen sind, hat von neuem begonnen und der Neuheitstaumel verstrickt die Menschheit wieder in wirre Kreise.

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Jäckchen, Grund Silber, Goldschnur und grünlichblaue Steine. Beispiel der künstlerischen Möglichkeiten im Frauenkleid. (Entwurf: Frl. Jutta Sicka.)

Aber das ist's ja eben! Je größer der Plunder war, der in der vorigen Saison die Menschen am Narrenseil führte, um so heftiger ist das Verlangen, es so bald als möglich mit einem anderen, womöglich einem gegenteiligen Unsinn zu versuchen. Wenn also die Leute meinen, sie müssen mit der Mode gehen, um nicht aufzufallen, so irren sie sich. Die Mode sucht immer aufzufallen, sie sucht sich stets abzusondern, sich ganz ausdrücklich zu unterscheiden, um womöglich die zu blamieren und bloßzustellen, die bei der vorjährigen Mode stehen geblieben sind. Das tut sie aus Selbsterhaltungstrieb, nach dem spinozistischen Grundsatz, daß nichts beständiger ist, als der Wechsel. Der Reiz der Abwechslung schmeichelt auch dem Masseninstinkt. Wie kommt es aber, daß die Leute, die nicht aufzufallen lieben, alles auffallende und absonderliche einer neuen Mode mit rühmlicher Selbstverleugnung widerspruchslos hinnehmen? Es liegt daran, daß diese Absonderlichkeit nicht unter der persönlichen Verantwortung des Trägers oder vielmehr der Trägerin geht. Auch das ist eine Eigentümlichkeit des Masseninstinktes, daß er keine persönliche Verantwortung verträgt. Wir machen jede Torheit mit, wenn wir die Verantwortung abwälzen können. Die Mode ist eine abstrakte Person, die alle Verantwortlichkeit übernimmt und dennoch niemandem verantwortlich ist. Das ist sehr bequem. Durch diese Eigenschaft enthebt sie alle ihre Anhänger des eigenen Nachdenkens, Suchens und Forschens und gibt eine fertige Form, die sozusagen der allgemeinen Anerkennung schon von vornherein sicher ist. Auch das ist sehr bequem. Man geht der geistigen Anstrengung lieber aus dem Wege. Und was nun gar den strittigen Punkt Geschmack betrifft, Gott! Wer ist denn sicher, für seine Erscheinung das Rechte zu treffen und sich nicht zu blamieren? Wer einen guten Geschmack besitzt, kann es ja wagen, aber wie viele sind das nun eben? Wer will sich denn bloßstellen? Da ist nun auch die Mode Helferin in der schweren Not und macht jene geschmackvoll, die es sehr häufig gar nicht sind. Aber ist es denn wirklich immer guter Geschmack, den die Mode bringt? Wir sind nach dem Gesagten nun doch schon so weit, um die Sache kritischer aufzufassen.

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Plastron, weißes Tuch mit gelber Seide gestickt. Als Beispiel der künstlerischen Möglichkeiten im Frauenkleid. (Entw.: Frl. Jutta Sicka.)

Ich hätte nun ein Leichtes, wenn ich mir die Sache billig machen wollte, all den Widersinn gewisser Moden ins Lächerliche zu ziehen. Es ist schon lächerlich genug, und alle Klugen wissen es, wenngleich mit den Waffen des Spotts eine Narretei nur verscheucht wurde, daß sie einer anderen Platz mache. Ich erinnere an die Mode, die eine übermäßige Behängung des Frauenkleides mit Posamenten aufbrachte. Was ursprünglich kunstvoll geknüpfte Fransenendigung war, wurde gleichsam als Ding an sich eigens hergestellt, um willkürlich überall aufgenäht zu werden, wo sie nicht hingehörte und sicherlich nicht hätte entstehen können bei einer organischen Durchbildung von Material und Form. Die Sache kam verdientermaßen in Verfall und mit ihr die künstliche Steigerung der Posamentenfabrikation, die sich bis heute noch nicht erholt hat, woran nicht wenig der Mangel an Sachlichkeit schuld ist. An Stelle der überwundenen Modeverirrung ist im Wechsel der Erscheinungen kaum ein Besseres getreten. Sind die Blumen- und Küchengärtlein auf den Hüten etwa zweckmäßiger geworden, weil die Formen à la Gainsborough stilisiert wurden? Die Hüte waren zu der Zeit, als Gainsborough die liebenswerten Damenbildnisse malte, hinlänglich vernünftig gebaut, um aufgesetzt zu werden. Können die heutigen Damenhüte à la Gainsborough im eigentlichen Sinne des Wortes aufgesetzt werden? Ich fürchte, sie können es nicht. Sie werden nur scheinbar aufgesetzt, sie sind nur mehr ein Dekorationsstück. Ich glaube nicht, daß die Damen zur Zeit des Gainsborough soviel Nadeln, Geduld und Geschicklichkeit aufwenden mußten, wie die heutigen Frauen, die auch dann nur mit großer Vorsicht das schwankende Phantasiegebilde auf ihren Haaren erhalten. Dekoration und kein Ende! Hunderte von Gaukeleien, die in anderer Form schon da waren und immer wieder aufs neue durchschlüpfen, Maschen die nichts knüpfen, Bänder die nichts binden, Schließen die nichts schließen, Knöpfe die nichts knöpfen und anderer Kram! Wozu? Weil es etwa schön ist? Nun ja! Eine neue Mode verhieß 1907 der erwartungsfreudigen Weiblichkeit als neuen Reiz z. B. den japanischen Ärmel. Der Ärmel ist weit und reicht nur bis zum Ellbogen. Er hat in der Tat eine vage Ähnlichkeit mit dem japanischen Ärmel und geht in einem Stück ohne Naht über die Achsel. Während diese Form beim japanischen Kleid organisch notwendig ist und sich aus dem sackartigen Kleiderschnitt ergibt, ist er in der europäischen Form nur eine dekorative Zutat, die keine sachliche Bestimmung erfüllt. Hier liegt der wurzelhafte Unterschied, der das Wesen des Männerkleides vor der Frauenmode auszeichnet. Das Männerkleid ergibt sich bis auf kleine Extravaganzen aus der Zweckmäßigkeit, die keine allzugroßen Bocksprünge erlaubt. Die Frauenmode dagegen geht den praktischen, konstruktiven und funktionellen Forderungen geflissentlich aus dem Wege und überbietet sich lediglich in der Abwandlung und Häufung rein ornamentaler Einfälle. Was hat doch die Mode beispielsweise aus der Bluse gemacht? Die Bluse hat sich aus dem Hemd entwickelt, ihre Bestimmung weist sie auf sachgerechte Schlichtheit, die sich mit stofflicher Qualität und mit dem Schmuck edler Handarbeit wohl verträgt, was uns die kunstvoll bestickten, gebauschten und reich gefältelten Oberhemden der altbäurischen Kostümpracht vieler Gegenden deutlich zeigen. Aber was für ein Schaustück abenteuerlicher Phantastik ist die Modebluse mit dem an sich ziemlich wertlosen Aufputz geworden? Das Bedürfnis nach einer konstruktiven Reform zugunsten der Sachlichkeit und der Hygiene hat seit einigen Jahren viele Frauen und Künstler beschäftigt, aber die Mode ist nicht mitgegangen. Und weil die Mode versagte, hat auch die Masse versagt. Kurz, die Frauen haben es nicht vermocht, eine vernünftige Reform ihres Kleides durchzuführen. Dafür liegt noch ein anderer, sehr triftiger Grund vor: die Schundmäßigkeit. Sie ist zwar ein allgemeines Gebrechen unserer Zeit und liegt in verhüllter Form auch in der Mode vor. Aber an dem nüchternen Reformkleid kam sie in Reinkultur zum Ausdruck. Die schlechten Stoffe und die häßlichen Farben erschienen in der nüchternen Kleiderform natürlich noch schlechter und noch häßlicher. Das mußte abschreckend wirken. Gerade die schlichte sachliche Form verlangt gediegenes Material, solideste Arbeit und schöne Farbe. Die schöne Farbe als Labsal für die Augen ist nicht zu entbehren. Das Reformkleid ist Mode geworden, seit es aus Paris als der Zwitter Reform-Empire kam. Aber es ist so wenig Reformkleid, wie der japanische Ärmel japanische Form ist; die Mode hat aus dem einigen guten des Reformkleides einen dekorativen Aufputz gemacht; im wesentlichen aber ist alles beim Alten geblieben.

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Mode vor 100 Jahren. Nicht ohne Vorteil anzusehen im Interesse des Einfach-Schönen, das sich in großer ungeteilter Form und in guter Qualität gibt.

Das also ist die Frage, ob Schönheit und Geschmack Bestand hat, wenn die sachliche Rechtfertigung fehlt. Ferner, ob es nicht richtiger ist, der Mode gegenüber selbständig zu verfahren und das Kleid auf eine individuelle Grundlage zu stellen, d. h. dem Modekleid hygienisch und ästhetisch einwandfrei das Eigenkleid entgegenzusetzen. Das setzt freilich persönliche Betätigung und einen hochgebildeten Geschmack voraus. Aber gerade das ist ein erstrebenswertes Ziel. Dann wird möglicherweise das individualisierte Kleid Mode werden. Die Mode wird herrschen, weil sie die Geschmacksbildung verkörpert, die in der Masse ruht, gleichviel, ob dieser Modegeschmack gut oder schlecht ist. Die Mode wird sich ändern, wenn die in der Masse ruhenden Voraussetzungen sich ändern. Sie wird sich veredeln, wenn die edlen Geschmacksbegriffe von vollendeter Sachlichkeit und Materialschönheit allgemein werden. Wenn in einem Volke klares und sachliches Denken ist, so wird es sich auch in der Tracht ausdrücken. Die Überlegenheit der englischen Frau wird ganz unzweideutig in dem gediegenen englischen Kostüm offenbar. Da und dort, wie z. B. in Wien, machen sich lokale Einflüsse geltend, um den Überschwang der Parisermode zu brechen. Das Wiener Schneiderkleid bewegt sich auf dem von England vorgezeichneten Weg. In der feinen englischen Gesellschaft wird es immer mehr Sitte, dem reichen Gesellschaftskleid den Adel edler Stoffe, kunstgewerblicher Handarbeit, echte Farben, kurz innere Gediegenheit und Kostbarkeit bei vornehm einfacher Gestaltung zurückzuerobern. Zahlreiche kunstgewerbliche Hausindustrien, deren Wiedererweckung auf den Einfluß von Ruskin zurückgeht, Handwebereien für Seide und Leinen, handgearbeitete Spitzen und die prachtvollen lichtechten Libertyseiden im langen schönen Wurf, zahllose künstlerische Arbeiten am Webstuhl und mit der Nadel, als Ergebnis des wiedererwachten Kunstfleißes im Volke, bilden die gesuchten und gut bezahlten Mittel für eine veredelte Modetracht. Schließlich ist eine Regung zur Selbständigkeit in gewissen Frauenberufsklassen nicht zu verkennen, die ihre Tracht aus dem Arbeitsgewande entwickelt und sich von Modelaunen unabhängig gemacht haben. Englische Kinderwärterinnen und russische Studentinnen, Krankenpflegerinnen haben eine Tracht entwickelt, die durchaus kleidsam, praktisch und eigenartig ist. Sie wechselt nicht mehr in der Form, sondern kann höchstens eine Veränderung in der Qualität vertragen. Dieses Zivil in Uniform übt der unterjochenden Mode gegenüber wenigstens als Berufsklasse Persönlichkeitsrechte und macht sich dadurch frei.

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Frauenmode vor 100 Jahren als Vorbild für das Reformkleid. Schöne Farbe und gute Qualität, passende, ungeteilte, sinngemäße Form, Vermeidung des überflüssigen Aufputzes, sparsame Anwendung eines edlen Schmuckstückes, eines schönen Gürtels, einer künstlerisch vollendeten Stickerei: das ist alles was die moderne Frauentracht soll, wenn sie Geschmack zeigen will.

Die Mode kann ebensowenig wie die Masse, sich aus einem Tiefstand erheben und Kultur bekommen, wenn der Anstoß und das Vorbild nicht von der Persönlichkeit ausgeht. Was an Bildungswerten und Geschmacksbegriffen in der Allgemeinheit lebt, sind hervorgebrachte Werte der Persönlichkeit, die Gemeingut geworden sind. Was sich in der Dichtung, in der Kunst und in der Wissenschaft abspielt, geht auch in allen anderen Lebensangelegenheiten der Kultur vor sich. Der Tyrannei der Mode gegenüber gibt es nur das eine Mittel, das aufrecht erhält und vorwärts bringt: die Stärkung der persönlichen Kraft, das Selbstprüfen, das Selbstwählen, das Selbstdenken und das Selbstgestalten. Aus vielen einzelnen persönlichen Potenzen setzt sich das zusammen, was wir eine geistige Bewegung nennen. Eine Idee kommt aus einem einzelnen Gehirn, sie löst die gebundenen Ideen, die in anderen Gehirnen des Weckrufes harren, und wie sich aus vielen Wässerlein ein Strom bildet, so ist eine solche geistige Bewegung da, die schließlich auch alle seichten Gelände überspült und Gemeingut wird. Der Einwirkung dieser geistigen Kraft kann auch die tyrannische Mode standhalten, sie ändert sich mit dem Zeitgeist. Aber sie bleibt. Denn ihr Bleiben heißt wechseln.

Einige Proben volkstümlicher Arbeiten, Klöppelspitzen und Bauernstickereien, die Beachtung und Verwendung verdienen, folgen in den Bildern. Interessant ist die volkstümliche Vorstellung, die den technischen Elementen der Klöppelmuster zugrunde liegt. Das ganze Spitzengewebe ist dichterisch, Symbol an Symbol gewoben. Nach den Forschungen des Lehrers Blau im Böhmerwald haben die Spitzenelemente in den folgenden zwei Bildern diese Namen, die alles wesentliche besagen:

Zum Verständnis dieser volkskünstlerischen Erzeugnisse seien außer den obigen Namen, die sich auf die skizzierten Spitzenelemente (Seite 69) beziehen, auch die Benennungen verzeichnet, mit denen die fertigen Erzeugnisse (Seite 68) von den Herstellern genannt werden. Auch die Benennungen drücken die Symbole aus, die in den Elementen vorliegen, und zwar: a) Landsträßlein, b) Spinnlein, c) die beiden Grobfäden bilden Aderngänglein, d) Gekräuselte mit Spinnen und Gänsekräglein, e) Neue Uhren, f) Flecklein mit Spinnen, g) Breite Muschlein oder Hörnlein, h) Minadist- (Modist-)Spitzen, i) Perlen, Aderngänglein, k) Ausgeschweifte Landstraße, Messerspitze, Stern, Ewigkeitsrand.

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Klöppelspitzen nach ihren technischen und symbolischen Elementen erklärt. Siehe Seite 67.

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Elemente von Spitzenmustern; siehe die nebenstehenden fertigen Formen und Erklärung auf Seite 67.

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Polnische Bauernstickerei. Teile eines Hemdes als Beispiel des Kunstsinns in der Volkstracht.


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