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Der Märchenwald

Ich weiß einen Wald, den niemand kennt.

Gar nicht weit von dem breiten Bruchwege ist er gelegen; viele Menschen kommen an ihm vorbei; doch keiner betritt ihn. Dorn und Dickicht hegen ihn ein, Moder und Morast befriedigen ihn an drei Seiten, und an der vierten ein tiefes Wasser.

Auch steht der Busch in bösem Ruf; man sagt, es gehe darin um. Eine weiße Gestalt läßt sich nachts dort sehen, ringt die Hände und seufzt und stöhnt, und glühende Augen starren den Wanderer an, der um diese Zeit dort vorüber kommt. Kein Mädchen und keine Frau geht abends an dem Busch vorbei, und selbst am Tage blicken sie scheu zur Seite, führt sie ihr Weg dort entlang.

Ich liebe das kleine Holz, denn seltsam und eigen ist es darin und kühl und schattig, selbst an den heißesten Tagen, wenn ringsum über den Heidbergen und auf den Wiesen die Luft sichtbarlich bebt. Schöne Blumen und stolze Sträucher stehen dort, und manch seltenes Kraut. Auch ist nirgendswo das Getier so vertraut wie hier. Deshalb nannte ich das Gehölz bei mir den Märchenwald. Im Dorfe heißt es das Mühlenholz.

Auch heute bin ich in meinem Walde eingekehrt, als ich vom Hähneverhören aus dem Moore kam, und habe mich im Moose lang gemacht. Auf der Heide ging ein kühler Wind; aber hier ist es warm und still. Das Sonnenlicht fällt durch die Wipfel der Fichten, zerspringt auf dem dunklen Efeulaube, das die grauen Eichenstämme umsponnen hält und prallt in tausend silbernen Blitzen von den zackigen Stechpalmenblättern zurück, ehe es den Boden erreicht und die freundlichen Osterblumen streichelt, die wie Sterne im alten Moose stehen. Die Quelle zu meinen Füßen gluckst, der Täuber über meinem Haupte ruckst; im schneeweiß blühenden Schlehenbusch singt das Rotkehlchen ganz leise sein verträumtes Lied.

Der Wind bewegt die Zweige der Fichten gemächlich hin und her; wunderliche Schatten laufen über das tote Laub und das junge Gras. Ab und zu stiehlt er sich bis in das Unterholz hinein, und dann wehen die fahlen Wedel des Königsfarn unwillig hin und her. Auch kommt einmal eine Wolke vorüber und verdrängt das Sonnenlicht; dann ist es kalt und trübe ringsumher. Der Efeu verliert seinen Schimmer, die Stechpalme ihren Glanz, und die Osterblumen stehen da, als frören sie. Wenn die Wolke aber vorübergezogen ist, blitzen und funkeln die dunklen Blätter und die Blumen lächeln von neuem.

Rund um mich her tönt ein verworrenes Rieseln und Rauschen, klingt ein Sprudeln und Strudeln. Die vielen, vielen Quellen sind es, die zwischen den knorrigen Wurzeln aus dem Boden springen, und deren klare Wellen sich hier vereinen und dort trennen, wenn ein Baum sie dazu zwingt, sich wieder zusammenfinden und abermals auseinanderlaufen, in engen Schluchten dahinpoltern oder in breiten Becken sich dehnen, in denen der weiße Sand quirlt und wirbelt.

Niemals kommt er zur Ruhe, nicht bei Tage und auch nicht bei Nacht; weder wenn ringsumher alle Tümpel trocken liegen, darf er rasten, noch zur Winterszeit, wenn der Frost auch die schnellsten Gräben bändigt. Immer laufen die Quellen im Holze und treiben mit ihm ihr Spiel. Darum ist es ein gefährliches Gehen hier; bis an die Hüften saugt der Schlemmsand den Menschen ein und hält ihn solange fest, bis er matt und müde und halb tot vor Angst sich herausarbeitet und gelobt, nie wieder einen Schritt in den tückischen Wald zu tun. Es blühen schöne Blumen in ihm und süße Beeren wachsen hier; aber kein Mädchen gelüstet es, die einen zu brechen, und kein Kind pflückt die anderen, der Quellhexe wegen, die unter den Wurzeln lauert, wie es die Großmutter winterabends bei der offenen Flamme erzählt hat.

Den Tieren des Waldes tut die Tückefrau aber nichts, und deshalb sind sie hier viel zutraulicher als anderswo. Eine ganze Zeitlang trat der alte, heimliche Bock bei mir herum, labte sich an den jungen Himbeerschossen und an dem frischen Grase, äugte mich groß an, als die Luft mich ihm verriet, stampfte mit den Vorderläufen und zog dann dem Mühlenkolke zu. Nach einer Weile kam ein Hase an, hoppelte, die Nase am Boden, unruhig hin und her, bis er an meine Stiefel geriet, die er verdutzt beschnüffelte, ohne sich zu erschrecken, und suchte darauf weiter hinter der Häsin her, auf deren Spur er war. Eine Singdrossel ließ sich auf dem Steine nieder, der keine drei Fuß weit vor mir in dem blühenden Sauerklee liegt, zerschmetterte die Schnecke, die sie im Schnabel hielt, fraß sie auf, blieb ein Weilchen sitzen, und sah über mich hinweg, als sei ich ein Baumstumpf.

Es ist wirklich ein Märchenwald, dieses Holz; tausend Wunder sind um mich. Auf den Zweigen der Eberesche brennen silberne Lichter, an der Birke funkeln grüne Flämmchen, die Porstbüsche sind rote Fackeln. Sind das wirklich drei gelbe Zitronenfalter, die dort über dem reichblühenden Dotterblumenstocke umhertollen, oder Sonnenelfen, die Schmetterlingsgestalt annahmen? Der Machangel da, der mit so bösem Gesicht hinter der alten Eiche hervorschaut, ist ein Gespenst, das den späten Wanderer mit rauhen Fingern über den Nacken streicht. Aus der unheimlich gekrümmten Wurzel, unter der die Quelle hervorhüpft, wird, wenn die alte Kirchenuhr im Dorfe die Mitternacht ansagt, eine feurige Schlange, die sich über einem vergrabenen Schatze ringelt und kringelt.

Doch auch der hellichte Tag hat hier seine Geheimnisse, Wunder und Zaubereien. Wäre es sonst zu glauben, daß das Blaukehlchen, dieses bescheidene Vögelchen, das seine kornblumenfarbige Brust niemals dem Menschen zeigen mag, stolz damit prahlt, dieweil es zwischen den leuchtenden Blüten des Milzkrautes nach Würmern stöbert? Nun hüpft es sogar auf einen alten Stumpf, der ganz von glänzendem Moose berankt ist, macht einen Diener nach dem andern und trägt mir sein schnurriges Liedchen vor. In der Zwille der Eiche, hinter der der Machangelbusch hervorblickt, baut ein Schwanzmeisenpaar ohne Scheu sein Nestchen; unter dem Wurzelgeflecht desselben Baumes fliegt der Zaunkönig hin und her, mit Moosfäserchen in dem Schnabel, und unter dem Wipfel der Fichte meißelt sich ein bunter Specht eine Höhle für sein Weibchen. Sie alle tun, als sei ich gar nicht da; obgleich ich mich hin und wieder rege. Sogar die vorsichtigen Tauben, die sonst lange Zeit warten, ehe sie zur Tränke fallen, besinnen sich kein bißchen; eine nach der anderen flattert aus den Kronen herunter, läßt sich auf dem angeschwemmten Sande nieder und trinkt sich satt, ohne sich erst viel umzusehen.

Die Quellen rauschen und die Bäche schwatzen, die Finken schlagen und das Rotkehlchen singt; Schatten und Lichter laufen über Blumen und Gras, und überall im Moose rührt sich das junge Leben. Ein heller Schmetterling, der die Spitzen seiner Schwingen in das Morgenrot tauchte, spielt um die zarten Schaumkrautblüten, die sich in dem klaren Wasserbecken besehen; die jungen Triebe des Königsfarns, wie Bischofsstäbe gerollt, wickeln sich langsam auseinander; eine Blindschleiche, stolz auf ihr neues, veilchenblau gesprenkeltes Kleid, dehnt sich in der Sonne; immer noch hämmert der Specht, Hummeln läuten, und von den weißen Wolken am blauen Himmel kommt der Lenzruf des Habichts herab.

Die Augenlider werden mir schwer und warm. Viele goldene Schmetterlinge schweben dahin, die Quellen reden mit Zungen und die Bäche plaudern so deutlich, daß ich jedwedes Wort verstehe. Ich kann hören, was der Täuber sagen will, ich fühle, was die Zweige der Fichten meinen, und weiß, was die Osterblumen wollen, wenn sie mir zunicken.

Und die Augen werden mir immer müder. Mein Märchenwald will mir sein schönstes Märchen schenken, den Traum von dem, was nicht werden wird.


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