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Die letzten Lieder

Es könnte noch Sommer sein, aber es ist schon Herbst. Der Himmel ist grau, und der Regen rieselt. Wenn einmal die Sonne durch die schmutzigen Wolken kommt, dann sticht sie. Weiße Wetterköpfe schieben sich hinter den Häusern her, wachsen immer weiter und zerfließen in graue Massen. Die Sonne geht weg, und es regnet wieder aus grauem Himmel.

Grau ist es draußen, auf der Straße, grau ist es drinnen im Zimmer, und im Herzen der Menschen ist es ebenso grau. Alles ist ihnen langweilig an solchen Tagen. Es ist ihnen, als wäre keine Hoffnung mehr für das Leben, und als hätte alle Arbeit keinen Zweck. Ich stehe am Fenster und sehe in den Garten. Der ist naß und häßlich. Aus den Wegen wächst Moos, gelbe Blätter liegen im Rasen, die letzten Blumen faulen, ehe sie noch recht aufgeblüht sind. Träge Schnecken kriechen über die Efeuranken. Heute morgen, als es hell wurde, war der Garten schöner. Ich war früh aufgewacht von der Sonne, die durch die Vorhänge fiel und goldene Kringel an die Wand malte. Halbwach lag ich da und sah auf die Sonnenflecken. Und da hörte ich es draußen singen und pfeifen und zwitschern und flöten, und schlaftrunken, wie ich war, dachte ich: es wird Frühling, die Stare sind da. Schnell sprang ich auf und zog den Vorhang zurück. Da saßen sie vor ihrem Häuschen, die beiden. Sie schlüpfte ein und aus, putzte sich und schlüpfte wieder ein, steckte den Kopf heraus und zog ihn wieder zurück, und er saß auf dem Dach, klappte mit den Flügeln, hielt den Schnabel in die Höhe, sträubte die Kehlfedern und sang und sang und sang.

Sein Lied brachte den Frühling in den Garten. Der Nachtregen blitzte auf dem Rasen wie Frühlingsmorgentau, der Efeu glänzte wie Silber, die letzte Rose streckte sich der Morgensonne entgegen, und die große goldene Sternblume strahlte und leuchtete. Ich war so froh, daß ich die gelben Blätter im Rasen nicht sah und die toten Blütenstiele; ich hatte der faulenden Knospe nicht acht, und die verkümmerten Waldrebenblumen störten mich nicht. Ich lachte, als wäre es Frühling.

Weit vor das Tor ging ich hinaus, durch die Felder. Über die winzigen Blümchen zwischen den Stoppeln freute ich mich, als wenn es die ersten Frühlingsblüten wären. Der goldene Hederich aus dem Felde lachte mich an, und im Graben die gelbe Kettenblume war mir wie die erste, die unter blühenden Schlehen sich zeigt. Auf dem Wegepfahl sang ein Goldammerhahn dieselbe Weise, die er im Frühling singt. Der Text ist anders als im Herbst. »Wie, wie hab' ich dich lieb,« singt er im Mai. Wenn es aber Herbst wird, dann klagt er: »Mein Nest ist weit, weit, weit.« Ich hörte den Frühlingstext heraus heute morgen. Das kam davon, daß die Sonne schien. Und die Stieglitze auf den Kletten am Schutthaufen, die Hänflinge auf dem Sturzacker sangen Frühlingslieder, und der Hahn vor dem ersten Hof krähte, als schiene heute die Sonne zum ersten Male.

Hinter dem Dorf auf den Telephondrähten war ein Gewimmel, schwarz und weiß, und ein Gezwitscher, bunt und lustig. Alle die Schwalben aus dem Dorfe und von den Nachbardörfern saßen da und sangen und sangen, als wären sie gerade wieder heimgekommen nach der langen Fahrt über Land und Meer. Sie zwitscherten und flogen auf und setzten sich wieder, putzten sich und schnäbelten sich, und dann nahmen sie sich alle auf, teilten sich und flogen nach ihren Ställen.

Im Gasthof an der Straße kehrte ich ein und setzte mich an den runden Tisch in dem Grasgarten in die Sonne. Goldene Georginen nickten über den Zaun, die Hühner kratzten im Kiese, Mücken tanzten auf und ab. Etwas Buntes schwirrte heran, schnurrte vor meine Füße und hüpfte kopfnickend über den Kies. Ein Finkenhahn war es. Nicht so bunt war er als im Mai. Nicht so hellblau war sein Schnabel, nicht so grün der Rücken, nicht so leuchtend rot die Brust. Aber das Lied, das er aus seinem Kehlchen schmetterte, es klang ebenso froh und so frisch wie im Mai.

Das fällt mir alles so ein, wie ich hinausstarre in den nassen Garten, auf den der graue Regen fällt, mißmutig und übelgelaunt. Gleichmäßig grau ist der Himmel und unablässig rieselt es aus ihm heraus, und der Tag geht früh zu Ende. Es klappert auf die Blätter und klatscht auf den Weg, läuft an dem Birnbaumstamm herab und fließt aus der Dachrinne, tropft von der Gartentischecke und klingelt auf die Gießkanne. Die letzte Rose läßt den Kopf hängen, die goldenen Sternblumen hängen schwer herab, und die silberne Eberwurz hat ihren Kelch geschlossen und sieht grau und grämlich aus.

Da klingt ein helles Stimmchen in das langweilige Getröpfel, ein Stimmchen, froh und klar. Vom First des hohen grauen Hauses kommt es, das schwarz und schwer gegen den grauen Himmel steht. Das Rotschwänzchen singt sein Abendlied. Es ist kein kunstgerechtes Lied, es ist nicht schulgerecht. Das ist dem kleinen Vogel aber ganz gleichgültig. Er singt, und wenn er zu hoch kommt mit der Stimme, dann räuspert er sich und kräht sein Lied zu Ende. Ihm ist es gleich, ob die Sonne scheint oder nicht. Seinetwegen kann es ruhig regnen, er singt doch. Jeden Morgen und jeden Abend singt er, froh darüber, daß er lebt. Der Star und die Schwalbe, die Goldammer und der Fink singen Herbstlieder, Scheidelieder, Meidelieder, denn Wanderangst sitzt ihnen im Herzen, und unstete Bange plagt sie. Die einen ziehen weit fort, die anderen streichen weit umher, fern von Heimat und Frühling. Rotschwänzchen weiß von Scheiden und Meiden nichts. Heut' singt es noch und morgen noch, und wenn die andern schon lange das Singen verlernten auf der Wanderschaft, dann singt es immer noch vom Dachfirst sein Lied jeden Morgen und jeden Abend, bis auch es fort muß. Das ist das einzig wahre. Einmal muß jeder fort. Für jeden kommt der Herbst. Dann ist es Zeit, mit dem Singen aufzuhören.

Bis dahin aber soll man singen, wie auch das Wetter ist. So lehren es uns die letzten Lieder.


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