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Das Genist

Vorgestern sah der Bach rein und klar aus und rann bescheiden zwischen seinen Ufern dahin.

In der Nacht gingen gewaltige Regengüsse in den Bergen nieder und gestern früh war der Bach trübe und lehmig; er polterte ungestüm dahin, stieg über seine Ufer und überschwemmte ein gutes Stück der Wiesen.

Nun fällt er bereits. Nicht mehr so wild wie gestern strudelt er dahin, führt nicht so viel Spreu mit sich, und tritt auch schon langsam wieder von den Wiesen zurück, einen bräunlichen Streifen da hinterlassend, bis wohin gestern die Vorflut gereicht hatte.

Das ist das Genist, ein Sammelsurium von Grummetresten, dürren Stengeln, trockenen Zweigen, Grasrispen, Fruchtkapseln, Rindenstücken, Wurzeln, Samenkörnern, Blättern, Beeren, Käferflügeln, Schneckenhäusern, Puppenhüllen, Kerbtierleichen, Steinchen, Federn, Haaren, Moosflöckchen, Muschelschalen, Knochen und hunderterlei anderen Dingen, teils aus dem Haushalte der Natur herstammend, teils aus Trümmern von Gegenständen bestehend, die der Mensch anfertigte.

Ganze Mengen von Grasblättern und Wurzeln sind in den Weidenbüschen hängen geblieben, um deren Zweige die Flut sie fest herumgewickelt hat. Nun hängen sie da wie die Reste verwitterter, zerschlissener Wimpel und flattern im Winde. Dunkelköpfige graue Vögelchen, Sumpfmeisen und Weidenmeisen, schlüpfen daran herum und pflücken heraus, was sich in dem Gewirre an Körnern und Kleingetier gerettet hat.

An der Vorflutmarke aber, wo der Bach feineres Genist als ununterbrochenen Streifen abgesetzt hat, sind die Krähen dabei, herauszusuchen, was ihnen gut zu fressen dünkt, die schwarzen Rabenkrähen und die zur Hälfte aschgrauen Nebelkrähen aus Ostland, ferner eine Anzahl der blanken Saatkrähen sowie einige Dohlen. Auch etliche Stare, die infolge der milden Witterung vorläufig hiergeblieben sind, stöbern dort umher, desgleichen zwei Bergbachstelzen und einige nordische Pieper, die eigentlich weiter zum Süden reisen wollten, aber wegen der Stürme der letzten Tage diese Absicht aufgeschoben haben.

Sie finden alle überreiche Nahrung, denn es krimmelt und wimmelt nur so aus dem halbnassen Geniste hervor, zumal da jetzt die Mittagssonne so hell scheint und das Gespreu abtrocknet und anwärmt. Überall schlüpfen schwarze Laufkäfer aller möglichen Gattungen und der verschiedensten Größe hervor und streben dem trockenen Lande zu, dazwischen sind grünliche und hier und da ein gleißend kupferroter, der hier sonst nicht vorkommt und den das Wasser aus den Bergen mitgerissen hat, winzige, die wie blanker Stahl aussehen, bräunliche mit gelben Flecken, rote mit schwarzer Kreuzzeichnung, und ein gelblicher, grüngezierter, rund wie ein Marienkäferchen, dem man es nicht ansieht, daß er zu den Laufkäfern gehört.

Dann sind Halbflügler da, größere, glänzend schwarze, kupfrige, grünliche und blaue, kleinere, die gelbrot und blau gemustert sind, andere mit roten Halsschildern, und unzählige ganz winzige, die an schönen Abenden gern über den Landstraßen schwirren und den Radfahrern verhaßt sind, weil sie ihnen in die Augen fliegen und sie durch ihren beißenden Mundsaft zum Tränen bringen. Ferner gibt es noch größere und kleine Mistkäfer, stattliche und unglaublich winzige Rüßler, Blattkäfer, Erdflöhe, die kaum sichtbaren Haarflügler, seltsame Ameisenkäfer, Stutzkäfer, blank wie Erz, Borkenkäfer, Schnellkäfer und wer weiß noch welche Käferarten, solche, die hier in der Ebene leben, andere aus dem Hügellande da hinten und wieder andere oben aus dem Gebirge.

Die drei Sammler, die dort eifrig an der Arbeit sind, das Genist durchzusieben und ganze Mengen von Kleinkäfern in ihre Gläser zu füllen, werden zu Hause beim Aussuchen manches sehr seltene Stück finden, ebenso wie der andere Sammler, der die Rückstände nach Schneckenhäusern durchsiebt, denn die liegen zu Tausenden hier. Da sind einzelne Weinbergschnecken, rote, gelbe, braune, gesprenkelte und gestreifte große Schnirkelschnecken mit weißen oder braunen Mundsäumen, kleinere, bräunliche mit seltsam gefalteten Öffnungen, spitze Schließmundschnecken, viele Arten von Moospuppen, darunter ganz seltene Arten, halb und ganz durchsichtige Hyalinen, Vitrinen und Dauderbardien, winzige Schneckchen mit Haaren, Rillen und Stacheln, die häufigen Bernsteinschnecken und allerlei große und kleine Posthörner und andere Wasserschnecken, mit Kiemen atmende kleine Deckelschnecken, darunter eine nadeldünne, braunrote, glänzende, die auf dem Lande lebt und sehr selten ist, ferner ein weißes, bleiches, zartes und kleines Schneckchen, das kaum anders als auf diese Weise gefunden wird, weil es eine unterirdische Lebensweise führt, noch kleinere Deckelschnecken aus den Quelltümpeln des Gebirges und das noch viel kleinere schneeweiße Ohrschneckchen, das wie ein Grassamenkorn aussieht. Auch kleine Müschelchen finden sich vor und ab und zu Nacktschnecken, besonders eine kleine Verwandte der Ackerschnecke, die wie ein junger Blutegel anzusehen ist.

In solchen Unmengen setzt das Hochwasser mehrere Male im Jahre die Schneckenhäuser und Muschelschalen hier ab, daß der Boden rechts und links von dem Bache viel kalkhaltiger und fruchtbarer ist als weiterhin. Auch hat er eine ganz andere Pflanzenwelt, denn das Wasser führt aus dem Gebirge eine Masse von Samen solcher Gewächse mit, die hier in der Ebene nicht vorkommen. In den dürren Stengeln, die das Wasser mitführt, in den Grasbüscheln, Rindenfetzen und Holzstücken findet sich noch manches lebensfähige Ei, manches Fliegentönnchen, manche Larve oder Puppe, die im Frühling auskommen, und so siedelt sich an der Grenze der Flutmarke den Bach entlang allerlei kleines Leben an, das von Rechts wegen der Ebene nicht angehört.

Die meisten Menschen gehen gleichgültig an dem Streifen von Spreu vorüber, den das Wasser hier angespült und zurückgelassen hat, ohne zu ahnen, welche Bedeutung er hat. Wenn sie sich aber einmal bückten, eine Handvoll von dem Geniste aufnähmen, es auseinanderzupften und alles das betrachteten, woraus es besteht, so würden sie staunen über die Fülle von Leben, das darin verborgen ist.


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