Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Immer wird es reichlich spät, ehe der Frühling sich des Brockens annehmen kann; in diesem Jahre kam er erst ganz spät dazu. Zu viel Arbeit hatte ihm unten im Lande der Winter gemacht. So wurde es spät im Mai, ehe der Frühling dazu kam, an den hohen Berg im Harz zu denken, und als er mit der frohen Botschaft dort anlangte, fand er wenig Gehör. Die Heidelbeersträucher wandten ein, daß es noch Nacht für Nacht friere, die Fichten meinten, es läge noch zu viel Schnee, das Wollgras fand das Tauwasser zu eisig, und die weiße Kuhschelle erklärte, ehe nicht der Hexensand um ihre Wurzeln auch des Nachts locker bleibe, denke sie nicht daran, zu blühen.
Vergebens redete der Frühling der Eberesche vor, daß ihre Geschwister im Tale schon im vollen Laube ständen: sie rührte sich nicht. Er suchte dem Ampfer und dem Wohlverleih klarzumachen, daß es nun Zeit sei, aufzuwachen; sie kümmerten sich nicht um ihn. Er sprach der Krähenbeere und der Goldrute zu, aber er hatte keinen Erfolg, und wenn er auch der Krüppelweide und der Zwergbirke die besten guten Worte gab, es war alles in den Wind gesprochen. Da stieg er zu Tale und holte sich Hilfe. Aus dem Brockenfelde brachte er den Birkhahn mit, und als der drei Morgen hintereinander im Brockenmoore die Lärmtrommel geschlagen hatte, da hing der Weidenbusch Gold an seine Zweige. Dann ging der Frühling zum Scharfensteine und bat einige Finken, ihn zu begleiten, und nahm vom Oderteiche einige Braunellen mit, und die schlugen und zwitscherten so kräftig, daß eine Wollgrasblüte neugierig ihr graues Köpfchen heraussteckte und an einem Heidelbeerbusche verwunderte grüne Augen auftauchten.
Aber das genügte dem Frühling noch nicht, und so wanderte er zum Eckerloche und bat den Steinschmätzer herauf und vom Torfhaus das Laubvögelchen, und da der eine so lustig sang und krähte und das andere so süß flötete und lockte, so ermunterten sich Ampfer und Goldrute, Habichtskraut und Lattich, Simse und Binse, durchbohrten das fahle Gras mit scharfen Blattspitzen, trieben üppiges Grün aus nassem Gras und spreizten sich über den braunen Flechten und dem gelben Torfmoose. Eines Tages, als ein Bussard auf Bitten des Frühlings die Langschläfer der Brockenkuppe mit gellendem Katzenschrei höhnte, und eine Krähe sich bereitfinden ließ, sie in rauher Weise zu verspotten, da schoben auch die Kuhschellen ihre blaugefrorenen Knospen zwischen dem moosigen Granitgerölle hervor, aber nur ein ganz klein wenig, daß der kalte Nachtwind sie nicht fassen konnte.
Schließlich wurde es dem Frühling denn doch zu langweilig, und er pilgerte zornentbrannt nach Wernigerode und Ilsenburg, Elbingerode und Harzburg, sprach lang und breit mit den Mauerseglern und erzählte ihnen, da oben auf der Brockenkuppe flögen sehr viele und ganz besonders fette und leckere Käferchen und Fliegen. Die schwarzen Schreihälse glaubten es ihm, sie erhoben ihr Gefieder, ließen den Buchenwald und die Schlüsselblumen hinter sich, sausten über schwarze Fichtenwälder und graue Steinhalden, und als der Frühling noch mühsam im nassen, braunen Moore bergan stieg, da lärmten die düsteren Gesellen schon um das Brockenhaus und schimpften fürchterlich, denn oben in der Luft flog nichts, und was dicht über den Steinen schwirrte, das lohnte die Reise nicht, und husch waren sie wieder da, wo sie hergekommen waren. Der Frühling aber lachte sich ins Fäustchen; er hatte seinen Zweck erreicht. Die blauen Knospen zwischen den grauen Steinen hatten das Gezeter der Turmschwalben vernommen, und was alles Reden des Frühlings nicht fertig gebracht hatte, das gelang den Seglern im Nu. Wenn der Segler auf der Brockenkuppe jagt, dann ist es Zeit, aufzuwachen. Das weiß man dort oben.
So wurde es Ende Mai, ehe am Brocken der Frühling sein Recht bekam. Die Buchenwälder unten im Harz standen schon im vollen Laube und hatten die ersten Frühlingsblumen schon vergessen; das Windröschen war von der Sternmiere, das Leberblümchen vom Günsel, das Milzkraut von der Waldnessel abgelöst. Auf den Wiesen drängten sich Schaumkraut und Knabenwurz, die Wolfsmilch vergoldete die Raine, die Obstbäume setzten schon Früchte an, und in den Gärten stritten sich Flieder und Goldregen um den Schönheitspreis, da fütterten die Spatzen schon über allen Dachrinnen ihre Brut, da tolpatschten schon flügge Amseln in den Gärten, und da erst wurde auf dem Brocken der Frühling Herr. Aber noch längst nicht überall, lange nicht am ganzen Brocken siegte im Mai der Frühling. Und es war eigentlich erst der Vorfrühling, der sich dort, wo die Sonne hinkam, neben dem Winter behauptete, der von den schattigen Stellen nicht weichen wollte. In den kalten Trümmerhalden und in den eisigen Schluchten ist es noch immer Winter, da blühen die Wintermoose, da springt der Gletschergast umher, hüpft der Schneefloh, liegen Larven und Raupen und Puppen und Käfer und Schnecken steif und starr unter Steinen vergraben, rührt sich noch keine Krüppelfichte, regt sich das zwergige Heidelbeergestrüpp immer noch nicht, da ist es noch voller Winter. Hart daneben aber ist es Vorfrühling und noch ein wenig weiter voller Frühling, und je nachdem es den kundigen Brockenfahrer gelüstet, kann er bis spät in den Juni hinein den Februar oder den März, den April oder den Mai hier wiederfinden und genießen, mit den Füßen im Nachwinter stehend, sich am Vorfrühling freuen und vom Frühling in den Winter hineinsehen.
Hier, wo die Sonne die Talflanke unter ihre Strahlen nehmen kann, ist lachendes Leben. Von den Fichten hängen weich und zart die jungen Triebe, das lustige Laub der Heidelbeere ist mit leuchtenden Korallen überstreut, kräftig streben Fingerhut und Tollkirsche empor, hinter den braunen Wurfböden der Fichten spreizen sich die jungen Wedel der Farne, und neben ihnen zittern schimmernde Simsen, von den Birken rieselt das neue Laub, die grauen Steine umflicht das winzige Labkraut, jeder Wasserfaden füllt sich mit schwellenden Moospolstern. Sobald die Sonne da ist, singt und klingt das ganze Tal. Von der Spitze der Wetterfichte flötet die Misteldrossel, und die Singdrossel sucht sie zu übertönen. Rundherum erschallt das selbstbewußte Geschnatter der Finken, und das schüchterne Gepiepse der Goldhähnchen zittert überall. Am Bachdurchlasse wippt lockend und zwitschernd die Bergbachstelze über das nasse Gerölle, und vom gischtumspülten Blocke im Bache gibt die Wasseramsel ihr Liedchen zum besten, während aus dem Gedämmer der Fichten der Minnesang der Tannenmeise hervorklingt und vom Windbruche der Braunelle und des Zaunkönigs Weisen herüberschallen, bis des Baumpiepers heller Schlag alle anderen Stimmen zurückdrängt.
Dort aber, wo der Sonne der Weg zwischen den Fichten zu schmal ist, da ist es kalt und tot und still. Da zeigen die Tannen noch keinen frischen Trieb, dort sind die Heidelbeerzweige noch dunkel und dünn, der Sauerklee hat das Blühen noch nicht gelernt und die Farne schieben kaum einige goldbraune Knöpfe aus dem Moose, denn rundherum lagert zwischen brummigen Felsblöcken der böse Schnee und läßt sein bitterkaltes Wasser durch das Geröll sickern, und strenger Schatten wehrt aller Lebenslust. Sobald aber der braune, nasse, weiche Weg das düstere Tannicht verläßt und gelb und trocken und fest wird, ist das lustige Leben wieder da. Es brummt und summt über dem leuchtend grünen Kissen der Steinklumpen, es schwirrt und flirrt um die jungen Tannentriebe, stahlfarbene und bronzeblanke Schnellkäfer schweben bedachtsam dahin, silberne Motten blitzen einher, in dem Wasserloche wärmt sich der faule Bergmolch, rudern Schwimmkäfer, wimmeln Kaulquappen, und auf dem warmen Wegebord sonnt sich die schlanke Eidechse.
Und wieder verliert sich der Weg im kalten Dunkel des Tanns, und das junge Grün und das frohe Leben bleibt zurück. Unheimlich starren graue Blöcke aus gespenstigen Schneeflecken, unbarmherzig kalte Rinnsale schlüpfen über die verängstigten Farnstöcke, blutrote Wasseradern schleichen durch das schwarze Moos. Aber schon lacht ein Schneefleck hell auf im Sonnenlicht, ein Meisenruf zerbricht die beklemmende Stille, und des Kuckucks lautes Geläute verkündet, daß das Sonnenreich wieder beginnt. An bunte Steinblöcke geschmiegt lächeln rosige Windröschen zu den blühenden Heidelbeerbüschen auf den Felsen hinauf, saftiges Milzkraut sperrt des Wasserfadens Lauf, langbeinige, dürre Wanzen huschen über den Spiegel des Wasserloches und werfen unsinnige Schatten auf den klaren Kiesgrund, lustig kluckt und schluckt ein heimliches Wässerlein, alle Moospolster haben einen schimmernden Strahlenkranz, und jeder Fels macht sein freundliches Gesicht.
Im Gestrüpp raschelt es; es stiebt der gelbe Granitgrus. Breit, faul und behäbig nimmt der Urhahn dort sein Sandbad, ab und zu mit dem gewaltigen Hakenschnabel eine Ameise oder einen Käfer aufnehmend oder ein Blättchen rupfend. Dann leuchtet sein Hals wie ein Kunstwerk aus edelster Bronze. Jetzt reckt er den schweren Kopf. Das leise Brechen, das hinter ihm erklang, weckte ihn aus seiner Behaglichkeit. Die rote Maus, die an ihm vorüberschlüpft, die Eidechse, die über den Schotter zickzackt, sind nicht so laut. Er richtet sich auf, macht einen langen Hals und poltert von dannen, daß der gelbe Grus aus seinem Gefieder stäubt. Aus der Dickung schiebt sich ein langer, schmaler Kopf, läßt lange Lauscher spielen, zieht einen langen Hals nach und einen langen Rücken, und groß und grau steht ein Stück Wild in der lachenden Sonne und schiebt sich langsam zwischen den Felsblöcken weiter, bis es in den Tannen untertaucht, wo kein Weg und kein Steg störendes Menschenvolk herbeiführt. Jetzt läßt es sich hier schon wieder leben. Im Winter war es nur kümmerlich. Jeden Tag dasselbe: Tannenzweigspitzen und Heidelbeerkraut, das recht mühsam aus dem tiefen Schnee geschlagen werden mußte. Ein Glück, daß der Förster fütterte, sonst wäre es ganz schlimm geworden. So denkt das alte Stück, und so denkt auch das Reh, das in dem Bruche zwischen den Steinblöcken und Tannengerippen umhertritt und sich an dem jungen Grün äst. Und auch der alte Hase denkt so, der der Länge nach in dem trockenen Hexensande liegt und sich die liebe Sonne auf den Balg scheinen läßt, und der Fuchs nicht minder, der sich gar nicht weit von dem Hasen auf einer warmen Steinplatte rekelt und die Birkhenne verdaut, die er sich heute früh zu Gemüte führte. Im Winter hatte er sich mit Mäusen begnügen müssen, denn mit Fallwild steht es hier schlecht; die Grünröcke füttern zu gut. Aber nun gibt es bald dies, bald das, und das Leben läßt sich schon wieder ertragen, zumal der Abfallplatz hinter dem Brockenhause jetzt ganz angenehme Abwechslung in die Kost bringt, abgesehen von den Wursthäuten und Käserinden, die man heute wieder an allen Wegen findet. Es läßt sich wirklich jetzt schon ganz gut hier leben. Das meinen die Finken auch, die in den Zwergwäldern mit dem Laubvögelchen und der Braunelle um die Wette singen, und die beiden Pieperarten, die sich oben auf der Kuppe und an ihren Geröllabhängen mit Flugspiel und Lied vergnügen, und der Steinschmätzer, der über dem Alpengarten herumflattert und seine Schalksnarrweise ertönen läßt, und der Kuckuck, der hier die Pieper mit seinen Eiern beglückt. Es kriecht und krabbelt allerlei Kerbtierzeug zwischen dem Grase, und es surrt und burrt vielerlei Volk, und seitdem sich die Nessel an den Schuttplätzen ansiedelte, fliegt sogar ab und zu ein bunter Falter hier. Auch der Segler kommt Tag für Tag herauf und erschreckt die Menschen, die vom Turm aus die Städte und Dörfer zählen, mit seinem schallenden Fittichschlage, und die weiße Brockenblume blüht zwischen allen grauen Steinen.
Die wenigsten Menschen aber, die die Bahn hier heraufführt, und die bis zum nächsten Zuge hier verweilen oder die Nacht über, um die Sonne aufgehen zu sehen, lernen den Brocken und seinen Frühling so recht kennen. Kaum einer klettert in eins der kalten Löcher, wo der Schnee noch hart und fest liegt, und wo sich zwischen dem wilden Felsengepolter noch keine Spur eines neuen Pflanzenlebens zeigt, während dreißig Schritte davon, unterhalb des toten Zwergwäldchens, das seine vom Rauhreife zerbissenen, vom Schnee entkleideten, vom Tauwasser zerbeugten silbergrauen Stämmchen anklagend emporreckt, die Heidelbeeren abgeblüht sind und die Eberesche ihre Silberknospen aufgrünen ließ, das Wollgras sich eifrig betätigt, und die Farne stolz in Erscheinung treten, auch an gemütlich brummenden Hummeln, giftig summenden Wespen, blitzenden Käfern und schimmernden Motten kein Mangel ist, und sogar eine Schnecke ihr braunes Häuschen über den Stein schleppt.
So viel Leben ist jetzt dort oben, daß sogar eine Krähe dort einmal Rast macht, und auch der Strauchdieb von Sperber läßt sich mal zu einem Abstecher über die Kuppe verlocken und streicht mit einem bunten Finken in den Fängen talabwärts seinem Horste zu, und die roten Kreuzschnäbel lassen sich in den Krüppelwäldchen an den Abhängen der Kuppe mit ihrer flüggen Brut auch bisweilen sehen, reisen aber bald wieder ab, wie denn auch das Rotwild, wenn es nächtlicherweile über die Kuppe zieht, weil da allerhand Kraut gedeiht, das weiter unten nicht vorkommt, vor Tau und Tag wieder in die Dickungen unterhalb der Kuppe zurücktritt.
Leicht hat es aber das Leben nicht, sich am Brockenkopfe zu behaupten; allzu kalt sind die Nächte, und zu oft geht da ein messerscharfer Bitterwind. Wenn der Himmel grau ist und die Luft kalt weht, dann decken die Brockenblumen die goldenen Perlen ihrer Kelche fest zu und drücken sich fest an den Boden, die Käfer und Motten, Fliegen und Spinnen verschwinden unter den Steinen, Pieper und Steinschmätzer rennen stumm durch das Gestrüpp, der Fink ruft trübselig, und die Braunelle läßt sich nicht vernehmen, und tot und öde, wie im Nachwinter, ist es um das Brockenhaus.
Fährt aber der Wind mit den Wolken zu Tale, bekommt die Sonne wieder Vorhand, dann lachen überall die weißen Blumen, dann ist der Frühling wieder da auf der Kuppe.