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Der Eisenbahndamm

Als häßlicher gelber Wall zog sich anfangs der neue Bahndamm durch das Wiesenland vor der Stadt. Es dauerte aber gar nicht lange, so begrünte er sich, und als der Frühling kam, sah er längst nicht mehr so kahl und so nackt aus.

Der Boden, aus dem er aufgebaut war, und der teils aus den großen Ausschachtungen neben ihm gewonnen, teils von weither angefahren war, enthielt eine Unmenge von Samenkörnern, auch Wurzelstöcke und Knollen, und die keimten oder trieben aus. Die Vögel, die gern auf den Leitungsdrähten sitzen, bringen in ihrem Kote allerlei unverdaute Sämereien dahin, und aus den mit Getreide, Wolle, Häuten und Kohlen beladenen Güterwagen fiel manches Körnlein heraus, wie denn auch der Wind allerlei leichtes Gesäme antrieb.

Kaum ist der März in das Land gekommen, so überziehen sich die kahlen Stellen mit den zierlichen Blütchen des winzigen Hungerblümchens und des Zwergsteinbrechs, das Marienblümchen erhebt seine weißen, der Huflattich seine gelben Sterne. Schießt das Gras höher, ist der Huflattich greis geworden, so strahlen überall die goldenen Sonnen des Löwenzahnes, und Taubnesseln mit roten und weißen Blütenquirlen bilden weithin sichtbare bunte Flecken an den Abhängen. Darüber hinaus ragt der Hahnenfuß, an den Abflüssen wuchert das Schaumkraut und neben ihm später auch hellrote Kuckucksnelke, bräunlicher Ampfer, blauer Beinwell sowie massenhaft die Wucherblume, ganz und gar mit großen weißen Strahlblumen bedeckt.

Ist eine Blumenart abgeblüht, so tritt eine andere an ihre Stelle, um den Bahndamm zu schmücken, bis er im Sommer wie ein künstlich angelegtes Blumenbeet aussieht. Labkräuter verhüllen ganze Flächen mit weißen und gelben Blütenschleiern, die Hauhechel schmückt sich rosenrot, bis zur Manneshöhe reckt sich weißer und gelber Steinklee, die wilde Reseda bildet ganze Bestände, blau schimmert der rauhe Natterwurz, und die stolze Nachtkerze, eine echte Eisenbahnpflanze, die aus Amerika kam, wie der unscheinbare, aber in Unzahl auftretende Kuhschwanz, sucht mit ihren großen, hellgelben Blumen die heimische Königskerze um ihr Ansehen zu bringen.

Dann sind Stellen da, ganz rosenrot von Weidenröschen, blau von Kornblumen und Rittersporn, feuerrot von Feldmohn, weiß von Hundskamille und strahlend gelb von Färberkamille. Rote Flockblumen und weiße Schafgarben bringen wieder andere Töne in die Farbenpracht, die Rasen des blühenden Quendels oder die goldgelb besternten Polster der Fetthenne. Darüber nicken hohe Gräser, erheben stolze Disteln ihre purpurnen Köpfe, reckt protzig der Rainfarn seine flammenden Dolden und der Riesenampfer seine mächtigen braunen Rispen über all dem unscheinbaren Gekräut und Graswerk, das den Boden überzieht: Melde und Knöterich, Gundermann und Hirtentäschel, Schachtelhalm und Wegerich und allerlei Kleearten, wilden und zahmen, und den Moosrosen, die alle feuchten Stellen überziehen.

Die vielerlei Pflanzen bieten allerlei kleinem Getier Nahrung und Obdach. Es krimmelt und wimmelt am Boden von Käfern, Ameisen, Spinnen, Heuhüpfern und Wanzen; es summt und brummt von Fliegen, Bienen, Wespen und Hummeln um die bunten Blumen. Und es flittert und flattert von Füchsen, Pfauenaugen, Schwalbenschwänzen, Weißlingen, und dazwischen huschen blitzschnell die glühäugigen, mit prachtvollen Metallflecken geschmückten Eulenfalter umher, oder ein Karpfenvögelchen saust reißenden Fluges dahin. Wenn aber ein Zug über die Geleise donnert, flattern Tausende von kleinen, bleichen Motten aus dem Grase heraus, werden von dem Luftzuge mitgerissen und hin und her gewirbelt und fallen schließlich wieder in das Gekräut zurück, wo Raubkäfer und Laufspinnen über sie herfallen oder einer der Vögel sie aufschnappt, die sich dort aufhalten.

Nicht wenige Vögel sind es, die dort ständig wohnen, denn da der Bahndamm mit einer Hecke und einem Drahtgitter umsäumt ist, so haben sie Ruhe vor den Menschen. Der erste Vogel, der sich ansiedelte, als Schwellen und Schienen lagen, die Blockstellen gebaut waren und die Arbeiter abzogen, war die Haubenlerche. Erst war es ein Pärchen; jetzt sind es viele, die sich die Strecke geteilt haben. Ehe die Bahn gebaut wurde, kam die Haubenlerche in dem Wiesenlande nur da vor, wo die Landstraße es berührte. Sie will trockenen, festen Boden haben, und so kam ihr die Bahnanlage wie gewünscht. Sie lebt fast nur auf dem Damm. Den ganzen Tag rennt sie zwischen den Geleisen umher und sucht nach Körnern und Gewürm. Ihr Nest hat sie in die Lücke unter einer Schwelle zwischen struppige Meldebüsche gebaut, und sie bleibt ruhig auf den Eiern sitzen, wenn ein Zug über ihr hinwegrattert. Selbst im Winter bleibt sie dem Bahndamm treu.

Das tut der Rotschwanz nicht, obgleich er sich ganz an die Bahn gewöhnt hat, dieser Klippenvogel aus dem Süden. Er hat sein Nest in der oberen Blockstelle über dem Ausguck des Wärters, der gut Freund mit ihm ist und an regnerischen Tagen, wenn die Fliegen sich verkriechen, die Bäume in dem Gärtchen schüttelt, um den Rotschwänzen das Leben leichter zu machen. Sofort sind die Vögelchen da, umflattern, ohne sich vor dem Manne zu scheuen, die Zweige und haschen die Kerfe, die herausfliegen. Auf der untern Blockstelle hat ein weißes Bachstelzenpaar Wohnung gefunden, das sich mit dem Wärter ebenso gut steht und ruhig seine Jungen füttert, wenn er am Fenster steht und sein Gesicht dicht bei dem Neste hat. Ab und zu kommen die Rotschwänze oder die Bachstelzen, die weiter an der Strecke brüten, zu Besuch, und dann gibt es ein heftiges Gekrätsche und wildes Gejage, bis die Eindringlinge abziehen, denn jedes Paar duldet keinen seiner Art in seinem Gebiete.

Wenn aber die gelbe Kuhstelze, die unten an dem Damme brütet und meist auf der Wiese lebt, sich auf dem Geleise zeigt, so kümmern sich die Bachstelzen um sie ebensowenig wie um die Goldammer, die ihr Nest unter dem Brombeerbusche hat und sich auch auf das Geleise traut und nach Körnern sucht. Auch die Dorngrasmücke und der Hänfling, die in der Hecke wohnen, bleiben unbehelligt, desgleichen der Grünfink und die Grauammer, die irgendwo in der Nähe ihre Nester haben und sich gern auf den Leitungsdrähten niederlassen. Hier ruhen sich mit Vorliebe auch Spatzen, Schwalben und Stare aus und häufig auch der schmucke Steinschmätzer. Auch der ist erst hier eingezogen, als die Bahn angelegt wurde, denn so sehr sein Vetter, der niedliche Wiesenschmätzer, die Wiese liebt, so zieht er den kahlen Boden vor. Während sein Weibchen in der Steinritze über der Landstraßenüberführung auf den Eiern sitzt, rennt er hurtig und viel knicksend über die Schwellen, und wenn er recht guter Laune ist, steigt er seltsam flatternd in die Luft und schwatzt im Fliegen auf sonderbare Art.

Wenn von all den bunten Blüten am Bahndamme nur noch einzelne Flockblumen und der Rainfarn blühen, wenn die Schwalben sich auf den Leitungsdrähten zur Reise sammeln, dann zieht der Steinschmätzer fort, die Bachstelze folgt ihm und schließlich verschwindet auch der Rotschwanz, und von all den Vögeln, die in der schönen Zeit auf dem Bahndamme lebten, bleibt nur die Haubenlerche zurück, trippelt zwischen den Geleisen umher und ruft ab und zu wehmütig. Aber Tag für Tag kommen Scharen von Ammern, Hänflingen, Grünfinken, Stieglitzen und Spatzen angeschwirrt und lassen sich dort nieder, denn den ganzen Winter über bieten ihnen der Damm und seine Abhänge reiche Nahrung durch die Samen der Unkräuter und die vielen Körner, die aus den Güterwagen herausfallen, und die Abfälle, die die Reisenden aus den Fenstern werfen.

Und wenn eine dicke Schneedecke die Felder und Wiesen verhüllt, so fristet der Bahndamm manchem Vögelchen, das sonst Not leiden würde, das Leben und hilft ihm über die schwere Zeit hinfort.


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