Heinrich Lersch
Hammerschläge
Heinrich Lersch

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Flucht

Als ich nach Haus kam um meinem Bruder zu helfen, war der ganze Wald abgeholzt.

Am Abend schlief ich schon früh ein und erwachte um Mitternacht. Ich konnte nicht mehr schlafen. Die Leichen der erschlagenen Bäume lagen nun in der Nacht, ich sah jeden schlanken Stamm, jede nackte Wurzelstockfläche. Eine Stunde hielt ich das aus, dann zog ich mich an und nahm den kleinen Rucksack, den ich noch nicht ausgepackt hatte und schlich mich hinaus. Ich sah die Verwüstung und dahinter schon die neue Ordnung der aufgestapelten Reisighaufen, der Äste und geschlagenen Stämme, da wußte ich, daß ich ohnmächtig und arm war. Den Eigentümer hätte ich erwürgen können.

Ich sah nicht weit vom Waldrand, an der Straße, eine Strohdieme. Ich sah mich um, lauschte: kein Laut zu hören. Ich schleifte Bürden Stroh zwischen die Reisigbündel, schleifte Reisigbündel zwischen die Knüppel und Schieren, verband die Haufen mit Strohbürden, schleppte mich müde und hatte eine heilige Lust im Leibe. Endlich konnte ich annehmen, daß ein gut Teil des Holzes abbrennen würde. Ein Streichholz flammte auf, ein Strohwisch flackerte als Fackel von Haufen zu Haufen; ich konnte gehn, meine Arbeit war gut.

Im nächsten Dorf sah ich noch nichts, ich erstieg einen Eisenbahndamm: mit jedem Schritt sah ich die Flamme meines Hasses höher lodern. Eine Viertelstunde saß ich, da hörte ich das Brandhorn gellen, sah die Fackeln der Feuerwehr die Straße hinrasen. Was wollte die Wehr, es war ja kein Wasser in der Nähe! Wie die reine Flamme in die Nacht hineinloderte! Nicht einmal die Menschen sah ich, die sicher in respektvoller Entfernung standen. Ich saß, bis die ersten Strahlen der Sonne über die Stadt glitten, dann lief ich durch die Feldwege, die Straße zu dem See, die ich vor vielen Jahren gekommen war. In einer Stunde ging ich über die holländische Grenze. Sand und Heide bis an den Himmelsrand. Ich mußte lange nach einem Weg über die Maas suchen, fand eine Brücke zwischen zwei Dörfern und wurde von einem Polizisten auf die Wache gebracht. Meinen Papieren trauten sie nicht, als sie aber das Wanderbuch des Gesellenvereins sahen, darin als erstes Blatt der Heilige Josef segnend die Hand erhob, da brachte mich der Bürgermeister unter höflichen Entschuldigungen in ein Gasthaus und bezahlte Abendessen und Nachtlager für mich. In dem Wanderbuch war auch eine Landkarte, ich suchte mir die schmalen Wege zwischen den kleinen Städten aus und hatte die grimmige Freude, bei Dorfschmieden und kleinen Schiffbauern an den Kanälen Urväterschmiedwerk zu finden. Unser Dialekt glich der Sprache, ich hatte keine Schwierigkeit, fuhr mit Rollwagen und auf alten Segelschiffen nordwärts, bezahlte mit kleinster Münze und kam bald an den Rhein, der aber hier Waal hieß. Salt-Bommel hieß die Stadt, ich ging über die Eisenbahnbrücke und wurde am andern Ende von einem Mann angesprochen, der vor seinem kleinen Häuschen saß. Der Mann war ein Deutscher; als er hörte, daß ich Kesselschmied war, stelzte er auf mich zu und brachte mich ins Haus. Er befahl seiner Frau, das Beste aufzutischen, denn seit drei Jahren hatte er keinen deutschen Kollegen mehr gesprochen. Es dauerte einen ganzen Tag, eh die Familie ein wenig zutraulich wurde, dann aber fuhr ich mit den beiden großen Mädchen und dem Fahrrad der Frau zu Verwandten, die einen Bauernhof hatten. Dort sollte ich bleiben, die landwirtschaftlichen Maschinen reparieren und den Dampfkessel der Molkerei bedienen. Ich lebte einen herrlichen Tag nach dem andern, aber hatte keine Lust, immer auf dem Hof zu sitzen. Wenn ich arbeiten wollte, dann auf keinen Fall an den Maschinen, ich wollte Pflügen und Säen, mit den Pferden umgehn, lieber noch Kühe hüten und melken. Der Kollege sah mich erstaunt an, als ich die Arbeit von mir abwies. Ich wurde heftig, wußte selbst nicht warum und wollte noch in der Nacht fort. Der Kollege saß auf der Holzbank, sah finster drein und wurde auch während des Abendessens nicht friedlich. Die Kinder, er hatte vier Mädchen zwischen zehn und zwanzig Jahren, nahmen mich zwischen Tag und Dunkel noch mit in ein Nachbardorf; sie gingen fast keinen Schritt zu Fuß, das Fahrrad war ihnen nötiger als die Schuhe. Auf dem Rückweg karambolierten wir, zu dritt lagen wir im Straßengraben, die übermütigen Mädchen schleiften mich an den Füßen fort in den Grummet. Ich spielte »Leiche«, sie versuchten, mich mit kitzeln lebendig zu machen. Den Jüngeren war dies Spiel bald langweilig, sie radelten fort. Vom Raufen und Wühlen müd, legte sich die Große neben mich, ich hörte ihren Atem und ihr harmloses Lachen, wenn sie mich mit einem Grashalm in die Nase kitzelte und ich niesen mußte. Plötzlich fuhr ich hoch, griff sie um den Leib und küßte sie. Ich glaubte, sie triebe nun das Spiel wie ich, markierte »Leiche« – denn sie hing in meinen Armen wie ein Bündel Stroh, ließ sich hinfallen und lag mit offenen Augen, wehendem Atem und sah in die Sterne.

Ich kniete neben ihr, strich ihr über das Gesicht, hob sie bei den Schultern, sie ließ sich wieder fallen; ich hörte die Schwestern mit ihren Glocken trillern und rufen. Da bat ich, sie möge doch mitkommen – aber wortlos, lautlos blieb sie liegen. Ehe die Kinder bei uns waren, wühlte ich mein Gesicht in das Haar und drückte sie an mich.

Nun sprangen die Kinder herbei und rissen sie an den Füßen fort, ich mußte sie an den Schultern packen, wir schleiften sie an die Straße. Plötzlich sprang sie aufs Rad, und ehe wir unsere Maschinen hatten, war sie fort.

Die Mädchen sangen und machten lustigen Krach, wir kamen nach Hause; Lisbeth, Liebeke, genannt, war noch nicht da. Erst um Zehn kam sie an, verzog sich vor den mütterlichen Schimpfreden und bald saß ich mit dem Kollegen allein. Es bekümmerte ihn, daß ich nicht arbeiten wollte, er könne es nicht mehr, seit er an der Brücke sein Bein verloren habe. Er habe nicht länger in Düsseldorf leben mögen, die Rente war zu klein, die Familie zu groß. Nachdem die Eltern der Frau gestorben, seien sie zuerst nach Haaften, wo ich vorgestern gewesen und dann hier nach Tuil gezogen. Seit er hier an der Brücke wohne, habe er noch ein Nebeneinkommen, er besorge den Kontrolldienst über die Strecke bis zwei Kilometer rechts und links vom Strom. Bis elf Uhr hatte er noch Zeit, dann sollte ich mitgehn. Ich sollte ihm vom Ruhrgebiet erzählen und von der Arbeiterbewegung. Das waren nun die Dinge, an die ich mich nicht gern erinnern mochte, denn ich hatte ja einen Haß auf die Arbeit bekommen. Das sagte ich ihm nicht gradaus, weil ich überhaupt nicht davon sprechen wollte. Ich ließ ihn zuerst erzählen; er aber hatte schon die Schweigsamkeit der niederländischen Strombewohner angenommen. Ich mußte an das Mädchen denken, ich sah ihr blondes Haar durch die Nacht leuchten, ihre gesunden Backen, ich spürte trotz des starken Tabakrauches den Duft ihrer Nähe. Die niedrige Stube war zur Hälfte mit hellem Holz getäfelt, in der Ecke war ein schwarzer, gußeiserner Herd, blankes Kupfergeschirr stand auf den Brettern, ein großer Schrank zeigte das Porzellan.

Wir spielten Karten, ich war kein guter Spieler, denn seit dem Krankenhaus hatte ich nicht viel Gelegenheit gehabt. Als es elf Uhr schlug, nahm er Mütze und Laterne: »Es ist eine Stunde Weg, wenn du müd bist, leg dich ins Bett. Ich muß jetzt gehn.« Aber ich wollte mit, und so gingen wir den nördlichen Schienenstrang entlang, zuerst hoch auf dem Bahndamm, der sich langsam senkte. Ich sah im aufgehenden Mond die Straße neben den Schienen, dieselbe Straße, die wir in der Dämmerung mit den Rädern gefahren waren, ich glaubte die Wiese zwischen den beiden Höfen zu sehn, in der wir gelegen hatten. Der ahnungslose Vater neben mir hatte sicher ganz andere Gedanken als ich. Er ging mit der Laterne voran, und ich sah trotz des humpelnden Ganges, des gekrümmten Rückens die Ähnlichkeit mit dem Mädchen. Ich sah ihn wie ich den Vater Rosa's sah. »Ein Herz und eine Seele!« fuhr mir durch den Sinn. »Ein Leib!« tönte die Lust in mir auf.

Solch einen Vater hätte ich haben müssen, einen Mann, einen Arbeiter. Einen Vater, der denken konnte und nicht gefangen war von seinen eignen Erlebnissen. Über die Schienen hin glänzte ein Licht, das Bahnwärterhaus stand an der Straße, die Fenster leuchteten. Als wir hineintraten, saß der Wärter am Tisch, im Schein seiner Laterne lag ein Buch, er schob es zurück. Wir setzten uns auf die Bank, der Ofen brannte, die Stube roch nach Öl, Tabak und Torf.

Von der Laterne, die noch vor meines Kollegen Brust hing, fiel ein Strahl auf die Holzwand. Wenn der Kollege sich aufrichtete, beglänzte sie aus Zeitschriften ausgeschnittene Bilder. Für einen Augenblick sah ich eine Frau am Meer, die in den leeren Horizont hineinsah.

Bei einer Wendung der Laterne fiel der Schein auf das Gesicht des Bahnwärters, das glattrasiert, dem eines Pfarrers glich. Er sprach von Rotterdam, heute sei er erst mit dem Schiff zurückgekommen.

Dienst, Haus, Vieh, Frau, Kinder. Das war ihre abgeschlossene Welt. Sie stopften ihre Pfeifen und schwiegen.

Der Kollege stand auf, der Bahnwärter schloß die Tür hinter uns.

»Sieben Sack Salz kannst du mit den Holländern essen, dann kennst du sie noch immer nicht. Siehst du ihm an, daß er sechs Jahre in Indien war?«

»Wie ein Dorfpastor sieht er aus!«

»Er genierte sich vor dir, sonst hätte er eine Geschichte aus seiner Soldatenzeit auf Sumatra erzählt. Er erzählt wie ein Buch – sieh da: der Zug kommt!«

Von Fern leuchteten die Lichter über die Brücke her, nun wälzte sich der schwarze Strich aus der eisernen Höhle uns entgegen. Der Damm zitterte, das Brausen schwoll, die Lokomotive jagte einen lodernden Schein in ihre eigene Qualmwolke. Der Kollege blieb stehn, bis die Wagen vorbeigesaust waren.

Dann stapste er voran. Groß hing der Mond über der Brücke, ihr Gitterwerk stand gegen den klaren Nachthimmel, der Nebel wallte über das Land und bedeckte den Strom; wir gingen über den Damm wie auf einem Steg durch die Luft. Es wurde kühl, wir gingen noch über die Brücke, kehrten zurück und stiegen eine Holztreppe hinab bis vors Haus. Der Hund schlug an, wir traten in den Flur, die Türen waren nicht verschlossen; er schloß sie auch nicht ab. Wir saßen in der Stube, die Welt war wieder zu. Der Kollege drehte die Petroleumhängelampe größer, nahm aus einem Wandschrank einen Krug, aus dem Schrank zwei Gläser und goß Genever ein.

»Die Unruhe hast du mit ins Haus gebracht, versaufen wir unsere Vergangenheit in Genever; niemand kann das so gut, wie der Holländer. Du hast noch nicht viel zu ersäufen, du bist jung! Du hast noch nichts mitgemacht. Ich bin ein alter Arbeitssoldat, ein Invalide. Ich hab mehr als das Bein in der Arbeit gelassen, ein Stück Leben fehlt mir... Weißt du was, bleib du hier! Geh nach Haaften auf den Hof. Arbeite ein paar Jahr, heirate eine der Haaftener Töchter, kannst auch eine von mir haben – wir passen zusammen!« »Wenn ich nicht an den Rhein gekommen wär! Ich will aber nicht am Rhein bleiben. Auch der Rhein fließt ins Meer. Ich will auch ans Meer. Ich möchte um die Welt fahren. Eh ich nicht weiß, was es außer den Deutschen noch für Menschen gibt, will ich keine Heimat haben. Gib mir einen Genever!« Ich rückte ihm das Glas an den Krug. »Ich möcht ein schönes Mädchen ertränken!« Ich trank, trank wieder einen, schob das Glas weg. »Trink«, sagte der Kollege und fragte mich nach meiner Herkunft. Ich erzählte ihm die Geschichte der Werkstatt, erzählte von Duisburg, von Köln. Mir wurde mein eignes Leben fremd, ich erzählte es, als ginge mich die ganze Geschichte nichts an.

»Sauf Junge, versauf den ganzen Bettel! Einmal richtig besoffen, siehst du die Welt mit andern Augen an. Armer Junge, warst noch nie besoffen? Hast all das mit klarem Verstand durchgemacht? Tierquälerei! Meinem Kollegen haben sie ein Auge ausnehmen müssen, Splitter drin. Wollten ihn chloroformieren. Dreck, sagte er, Liter Schnaps, zwei Präum Kautabak, daumendick, fingerlang in die Backen und los! Schang hieß er. Schang hielt den Hals steif und muckte nicht. Als das Auge heraus war und der Kopf im Verband saß, war der Schnaps auch ausgebrannt, er war wieder nüchtern. Siehst du, so ist das mit dem Schnaps. Habs auch mitgemacht. Hast du auf dem Haaftener Hof die junge Frau gesehn? Als ich armes Einbein kam, war sie zweiundzwanzig Jahre, ich achtunddreißig – sie war die Stiefschwester meiner Frau. Ich hab das schöne Mädchen in Genever ersaufen müssen! Ist schon lang verheiratet. Was nicht mit Schnaps ausgebrannt ist, hält nicht. Meinst, das war bloß was für die armen Teufel, die nicht wissen woher und wohin? Nein, es ist auch was für uns, die verfluchte Sorte, die weiß, was sie tut. Besser du versäuft deinen Jesus in Schnaps, deine Kirche, deinen Kesselschmied, da unten drunter wirst du auch wohl dein Klassenbewußtsein finden. Zu Dreck mußt du werden, mußt der ärmste Hund unter Gottes Sonne sein, dann erst stehst du wieder auf. Herunter mit deinem Hochmut, du Pharisäer, sauf!«

Er goß den Genever ein, ich hatte noch nie solch starkes Zeug getrunken. »Junge, glaub nicht, daß ich leichtsinnig bin, auch mein Vater soff wie ein Loch, drum trank ich natürlich keinen Schnaps. War schon einundzwanzig Jahre, war bei den Preußen, da hab ichs gelernt, das Elend zu versaufen. Als wir später, ernste Kerls schon, den Sozialismus diskutierten, uns bis an den Sonntagmorgen die Köpfe glühend stritten, konsequent uns auf die Barrikaden redeten – da, als wir mit unserm Haß auf das Alte und unserer Sehnsucht nach dem Neuen dastanden, da merkten wir, daß nicht bloß Genossen, sondern auch Genossinnen waren, die wir in der Sonntagfrühe nach Haus brachten. Glühend noch von heiligem Eifer, Hochgefühl, Solidarität und Kampfgeist, ging es uns, wie es allen jungen Menschen ging – wir waren kein Haar besser als die Burschen und Mädels nach dem Kirmestanz. Der Rausch der Gehirne muß gelöscht werden im Rausch des Blutes. Sauf, bis Gott und Teufel friedlich in dir miteinander sechsundsechzig spielen und vergessen, daß sie Feinde sind.«

Als er sah, daß ich nicht trank, ging er an den Herd und holte kochendes Wasser, nahm Gläser und braute Grog. »Ich brauche keinen Grog! Ich will nüchtern und klar bleiben!« sagte ich.

»Trinke, was du weg hast, hast du weg.« Ich trank mit, der Kollege erzählte:


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