Heinrich Lersch
Hammerschläge
Heinrich Lersch

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Der große Wald war mein Ziel

Es war ein richtiger Wald mit mannsdicken Bäumen, Kiefern und Buchen, ein Dom von Wald. An einer alten Rodung wuchs dichtes Unterholz, die Landwehr zog sich in drei Wällen durch die Felder. Unter dem Wurzelgeflecht einer mächtigen Kiefer baute ich mir eine Höhle im trockenen Sand, machte mir ein Lager von Laub und Nadeln, lag lange Stunden in der wärmenden Sonne und wußte nicht mehr, daß ich lebte. Ich atmete den Duft von Sand und Laub, lag, wenn es kalt war, mit der Streu zugedeckt bis an den Hals und sah den Fliegen zu, die in der Luft spielten. Wenn ich Lust zu laufen bekam, suchte ich das Dickicht nach Nüssen ab, sammelte Bucheckern und Tannenzapfen. Die Angst vor der Entdeckung trieb mich jeden Mittag nach Haus, ich hatte die Stunde so im Gefühl, daß ich nicht einmal zu spät zum Essen kam.

Eines Tages hielt mich der Vater am Morgen fest und sagte, ich müsse mir für den nächsten Tag Urlaub geben lassen. Der Rote wolle absolut nach Köln, da müsse ich wieder mit der Stockwinde Nieten vorhalten.

Als ich weg war, dachte ich nicht mehr daran. Ich brauchte mir ja keinen Urlaub zu fragen.

Es war ein schöner, warmer Tag, ich streifte weit über den Wald hinaus bis in eine Gegend, die ich noch nie gesehen hatte. Dichtes Schilf wuchs bis an den Waldweg, der Grund war moorig, überall quoll Wasser. Am Rand des Waldes kletterte ich auf einen Baum. Als ich an den ersten Ästen mich festklammerte, sah ich über das Schilf hinaus: eine große Wasserfläche, ein See, mitten im Wald, gelb umsäumt mit Schilf, in der Ferne eine Insel, daraufstand ein Haus.

Noch nie hatte ich einen See gesehn.

Ich hing noch immer in den Ästen, vergaß das Weiterklettern, bis ich den Krampf im Bein spürte. Da stieg ich höher: immer klarer wurde das Wasser, der See kleiner, ich sah Schilfinseln, sah Scharen von Enten schwimmen; wie wunderbar ruhig lag das Wasser, kein Mensch in der Nähe, keines Menschen Anwesenheit beunruhigte mich. Ich saß in den Ästen wie auf einem Stuhl, es mußte Mittag sein, die Sonne stand hoch; das Butterbrot in der Tasche erinnerte mich an meinen Hunger, der mich vorher so gequält hatte, aber jetzt brauchte ich es nicht mehr. Mir war, als hätte ich nur auf diesen Tag gewartet mein ganzes Leben lang. Hatte mich darum der Vater mit dem Befehl zur Arbeit fortgetrieben? Ich verzieh ihm alles, was er mir angetan, weil ich diesen Baum und diesen See entdeckt hatte. Der Himmel war so wunderbar silbern wie nirgend in der Nähe der Stadt. Die weißen Wolken schwebten über die schwarzdunkeln Wälder, davor stand das gelbe Schilf. Bald hörte ich die Enten plätschern, hörte Rufe von Vögeln, Schwirren von Flügeln über mir.

Wie schön war die Welt. Ich konnte nicht vom Baum herunter, obgleich ich doch weg mußte, vier Stunden war ich gelaufen, ohne Ende gelaufen, es mußte schon vier Uhr sein, ich kam vor acht nicht nach Haus. Unterwegs würde ich Hunger bekommen und nichts als mein Butterbrot zu essen haben.

Langsam entschloß ich mich, niederzusteigen, blieb aber auf jedem Ast sitzen, nahm mit jedem Tritt Abschied von einem Stück See, bis ich endlich heruntersprang.

Immer noch den See, den Schilfrand, die Wolken und den Himmel in Gedanken vor Augen, trabte ich den Waldweg zurück.

Es wurde dunkel, es wurde mondhell, ich lief durch den Wald. Das Getier erschreckte mich, bald war ich so müde, daß ich mich gern hingelegt hätte. Nur der Gedanke an meine Mutter trieb mich voran.

Die wenigen Häuser, an denen ich vorübereilte, waren schon dunkel, es mußte sicher zehn Uhr nachts sein. Jetzt sah ich den Wald, in dem ich die Höhle hatte. Dorthin wollte ich, dort hatte ich noch Nüsse und Bucheckern, eine Handvoll wollte ich mitnehmen, dann die halbe Stunde weit nach Hause laufen.

Ich fand die Höhle, kroch in die Streu, wollte von den Bucheckern essen; ich war aber zu müde und schlief ein.

Auf einmal fror ich.

Über dem Waldrand blitzte helles Licht: die Sonne! Ich kroch aus der Höhle, lief bis an den freien Platz, die Sonne schien in das Wurzelbett, das ich dort mit Laub ausgefüllt hatte. Es war schon ganz warm. Ich schlief wieder ein.

Als ich von neuem erwachte, stand die Sonne hoch. Ich war ganz durchwärmt. Vor mir spielten wilde Bienen in der Luft. Das Licht zitterte auf ihren Flügeln, die silbern schwirrten. Ein goldenes Insekt mit grünen Flügeln schwebte heran, zickzackte durch den Schwarm hin und verschwand. Als es wiederkam, flogen die Bienen weg.

Ein anderes flog her, ein lichtzitterndes Gebild, flitternd silberne Seide hing mit unsichtbaren Flügelschlägen in der Luft, sprang her, tanzte hin, hing, leuchtender Punkt zwischen mir und der Sonne, stieg hoch und löste sich auf.

Hummeln summten braun, in der Ferne tülkte ein Waldvogel, ein anderer gab Antwort, dünn und hell summte eine späte Mücke an meinem Ohr, dann rollten aus einer Baumkrone glockenhelle Vogeltöne, goldenen Kugeln gleich, tanzten sie von Zweig zu Zweig. Wie farbige Tonleitern stieg anderer Gesang, silberne Sterne trillerten die Finken.

Ich atmete selig in diesem Frieden und schloß die Augen vor der Sonne. Die geschlossenen Lider hingen wie ein roter Vorhang, durchglüht von goldgrünem Licht. Ich senkte die Augen erdwärts – wie ein purpurner Schleier sank er mit, je tiefer, um so roter blühte das strömende Licht durch die Lider. Ein See von dunklem Blut schwamm über den Waldboden.

Ich drehte die Augen unter den geschlossenen Lidern nach oben: da stieg der Farbschwall mit, zerteilte sich, feuerte auseinander, wurde hell und schmetterte in silberner Klarheit schwallende Brandungen von Licht und wallende Wasserfälle von Geleucht, schwindend ins Farblose. Müde dieses Spiels öffnete ich die Augen.

Da stand der Wald, Stamm an Stamm. Helle Frauen die Buchen, schlank und grade. Alte Männer, rostbraun, die verkrümmten Kiefern, mit zerzausten Kronenhaaren. Herrliche Mädchen die jungen Birken; der Stamm, in dessen Wurzeln ich mich bettete, war meine Mutter. Die Wurzeln waren ihre Arme, ich lag an ihrem Leib: Gute Mutter!

Mit dem Wort: »Mutter« wurde das Gesicht meiner Mutter lebendig, bleich stand es in der farbigen Luft. Durch die Luft ging ein Schallen, hergetragen vom Wind tupften an meine Ohren Schläge, minutenlang, dann schwiegen sie, fingen von neuem an. Ich hätte in die Erde sinken mögen, ich hielt mir die Ohren zu, ich wollte nicht hören, hörte doch: Hammerschläge! Hammerschläge!

Ich sah das weitoffene Tor, den Vater am Schmiedefeuer, am Amboß zerbrochene Meißel und Döpper schmieden und härten, ganz genau sah ich es, er spuckte ins Feuer und nannte meinen Namen dabei. Die andern standen an der Bohrmaschine, an der Feilbank, und da, wo ich sitzen sollte, unter der Dampfplatte beim Stockhalten, saß Heller und wartete auf mich.

Die Hammerschläge, einmal im Ohr, klangen immer deutlicher. Sie riefen mich an die Arbeit. Ich wollte nichts hören, aber es nützte nichts, ich sprang auf, klammerte die Arme um den Baum; ich betete, daß Gott mich in diesen Baum verwandeln solle und den Baum in mich. Ich preßte das Gesicht an die Rinde, ich fühlte mein Gebet erhört, göttliche Kraft drang in mich ein. Nun spürte ich den Herbstwind in meinem Laubhaar spielen, auf meiner rechten Schulter saß eine Amsel und sang mir ins Ohr, auf der linken ein Buchfink. Ich fühlte die Füße tief in der kühlen Erde; wo das Herz war, saß das unruhige Eichhörnchen im Nest und wollte heraus.

Die Finger krampften, das Gesicht schmerzte. Die Arme fielen matt an meinem Leib herunter. In den Ohren klangen die Hammerschläge.

Fallende Blätter wehten um mein Gesicht.

Ich stürzte davon, betäubt und verwirrt. Als ich auf den Weg kam, sah ich die Landstraße, die fernher über die Felder der Stadt entgegenzog. Die runden Lindenkronen an der Straße hielten ihre Aste verschlungen, Arm in Arm, wie selige Landstreicher, wanderten sie aus der Stadt aus.

Ich aber mußte in die Stadt hinein.

Mußte, denn die Hammerschläge klangen an mein Ohr.

Endlich war ich an der Werkstatt. Ich sah genau, wie ich es beim Erwachen gesehn: die Flamme des Schmiedefeuers schlug hoch, die Bohrmaschine kreiste, die Gesellen nieteten an der Dampfplatte, andere standen am Schraubstock. Ich kroch zu Karl Heller unter die Platte, nahm die Nietwinde zwischen die Knie und drückte den Pinn voran.

Als der Vater vorbeikam, blieb er stehn, spie den schwarzen Priemsaft an die Nietwinde, daß meine Hände naß wurden, zischte durch die Zähne: »Hä! Faulpelz! Nachher!«


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