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Als ich damals aus der greulichen Hitze des Bleicherkessels in der Tuchfabrik kam, hatte ich eine Erkältung weg, die zu einem Luftröhrenkatarrh wurde und nur langsam ausheilte. Als ich wieder zu arbeiten anfing und den Zuschläger machte – da blieb die Luft weg, ich war kurzatmig wie ein dämpfiges Pferd geworden. Ich mußte, wie ein alter Mann, mit keuchendem Husten beiseitestehn und mich durch Auswerfen erleichtern. Da ich einfach keinen Hammerschlag mehr tun konnte, tat ich die leichtere Arbeit und ging, soviel ich konnte, dem Koksqualm aus dem Weg.
»Schwitzen mußt du, tüchtig schwitzen!« sagte der Vater, »am besten gehst du mit in Bettmanns Weberei und hilfst dem Karl die Röhren heraushauen. Wenn dir dann der heilige Schweiß den Buckel heruntertreibt, nimmst du einen Lappen, reibst dich ab und ziehst ein frisches Hemd an. Das hab ich immer so gemacht und das hilft besser als alle Tröpfchenweisheit der Doktoren.«
Es war eine Pferdekur, ich hielt sie aus; ein barbarischer Wille zum Gesundwerden ließ mich die Anstrengungen überwinden, ich schlug und klopfte in der sechzig Grad feuchtwarmen Kesselluft, daß die kurze Hose bald klatschnaß war. Nach drei Tagen, in deren Nächten ich wie ein Toter schlief, fühlte ich mich erleichtert und wohl.
Am vierten Tag mußten wir in die Rauchseite des Kessels, um die neuen Röhren einzuwalzen; der Mauerwerksboden war vom vielen Leckwasser durchnäßt, die Feuchtigkeit drang durch die Lappen, die wir untergelegt hatten. Wir schwitzten am Oberleib wie die Affen in der Tropensonne, von unten kühlten die nassen Steine.
Da mußte wohl jemand den Rauchschieber gezogen haben, denn auf einen Schlag fuhr der Schornsteinzug eiskalt durch die Rauchgänge. Wir machten uns schnell hinaus, da stand die Heizraumtür weit offen, die Feuertür zum Kessel war geöffnet, kein Mensch im Kesselhaus.
Wie ein Gewittersturm fegte der Zugwind um uns, ich schnappte den Wetterrook des Kohlenschürgers, hing ihn mir über den nackten Leib und schmiß die Türen zu. Als der Heizer zurückkam, schimpfte er auf den Schlosserlehrjungen, der seine dummen Pfoten in alles steckte, der lapsig und vergeßlich sofort stiften ging, wenn jemand kam.
»Einen Sündenbock muß jeder haben!« sagte Karl Heller und holte die Essenkessel aus dem Wärmschrank. Wir aßen schnell und gingen, weil wir Akkord hatten, gleich wieder an die Arbeit.
Wie nach einem Abenteuer, das glücklich bestanden war, wurde ich lustig und fühlte mich heiter und fidel. Wir sangen den ganzen Nachmittag, der Heizer kam öfters zu uns ans Einsteigloch und glaubte, einen Schnaps erben zu können. Einmal vom Schnaps die Rede, bekam Karl den Quartalskoller. Er ging selber in die nächste Wirtschaft, einen Liter Korn zu holen. Als der Liter in einer Stunde verputzt war, ging er noch einmal, zu dritt tranken wir zwei Liter aus. Ich war nun richtig von innen und außen erwärmt, wurde übermüde und kam schlapp nach Hause, konnte nichts essen und schlief gleich ein. Am andern Morgen hatte ich einen blöden Kopf, trottete stumpfsinnig zur Arbeit und war zu schwach, nur den Walzenschlüssel bis in Schulterhöhe zu heben. Karl blieb aus. Ich kannte seine Gewohnheit, ging zu Mittag nach Haus und holte einen andern Gesellen. Der mußte den Nachmittag allein arbeiten, ich lag betäubt in einer Mauerwerksecke, mit bleischweren Gliedern, unfähig, nur einen Schlag zu tun.
Am andern Morgen konnte ich nicht aufstehen, mein Kopf brannte, jeder Hustenstoß schmerzte wie stechende Nadeln in der Brust. Der Arzt kam, verschrieb Tropfen und sagte, es würde vielleicht eine schwere Lungenentzündung geben. Wenn es in drei Tagen nicht besser sei, müßte ich ins Krankenhaus; hier oben in der Dachkammer hätte ich nicht die richtige Pflege und Aufsicht.
»Nun bleibt er gerade hier!« befahl der Vater. »Pflegen kann keiner so gut wie die Mutter.«
Ich bekam große Mengen heißen Tee zu trinken, isländisch Moos, warme Umschläge von Öl und heiße Wickel von Leinsamenmehl, die alle Stunden erneuert wurden. Der Vater saß zwischen den Umschlägen lange neben mir, hielt seine harten Hände auf meine Brust. »Darum will ich nicht, daß die Großen bei den Kleinen schlafen und die Schlappen bei den Kräftigen. Im Schlaf saugt der Starke vom Schlappen die Kraft ab. Drum hat jeder von euch sein eignes Bett. Wenn das Starke aber will, so kann er es umgekehrt machen, jetzt, jetzt preß ich meine Kraft in deinen Leib hinein, ich werde ordentlich schlapp davon, aber dir hilft es. Kraft – das ist immer dasselbe, ob es Dampf ist oder Wasserkraft oder auch Elektrizität, die durch einen Draht übertragen wird. Meine Finger sind Röhren und Drähte, ich bin zehn Atmosphären Überdruck und wenn ich will, bin ich zwanzig, bin ich hundert Atmosphären. Der Geist und der Wille, Junge, der macht es aus.«
Als ich das verstanden hatte, schwieg er wieder. Ich sah aber an seinem Kinn, daß er betete; trotz seiner Brutalität war er gottesfürchtig.
Nach drei Tagen konnte ich wohl aufstehn, aber wenn ich den Qualm aus der Schmiede atmete, überfiel mich wieder der Husten.
Es war unmöglich, die Gesellen allein zu lassen, immer wieder mußte ich zum Anzeichnen in die Werkstatt, der Vater ging einfach nicht hin. Aber endlich sah ich doch ein, daß ich weg mußte und meldete mich bei der Krankenkasse. Ich bekam vom Arzt den Überweisungsschein und wollte am Montag früh ins Krankenhaus gehn. In der Sonntagnacht bekam ich wieder Fieber; da mußte der Krankenwagen kommen, ich wurde aufgeladen und fortgefahren.
Die Tragbahre war gut zugedeckt; die Fahrt war erträglich. Beim Ausladen fiel mir die Decke vom Gesicht, ich bekam wieder einen Hustenanfall. Als ich durch das Portal getragen wurde, hörte ich, wie eine Nonne sagte: »Der kommt nur noch mit den Füßen nach vorn wieder hinaus!«
Die Augen quollen mir fast aus den Lidern von der Anstrengung des Hustens. Nun lag ich in einem stillen Zimmer. Langsam beruhigte sich die Brust, die Schmerzen ließen nach, ich konnte mich umsehn. Ein Mann lag gegenüber, mit knallrotem Kopf, steif und starr, aus den brennenden Lippen schrien zusammenhanglose Worte. Eine Nonnenschwester kam und legte ihm einen Gummibeutel auf die Brust. An einem kleinen, weißen Tisch saß ein älterer Mann und las. Auch er hustete, aber nicht so quälend wie ich. Er hüstelte. In der Ecke am Fenster lag ein schmaler, ausgezehrter Junge von zwanzig Jahren, der sich nicht regte; sein Hals war dürr, seine Finger glichen weißlackierten Stöckchen. Er schien keine Schmerzen zu spüren, er lag wie eine aus Teig gemachte eingetrocknete Figur.
Als die Tür wieder aufging, zog die Schwester einen Jungen in meinem Alter hinter sich her, der die Schultern hochgezogen, das Gesicht auf der Brust hängen hatte. Er wurde in das fünfte Bett gelegt.
Ich schloß die Augen und dachte darüber nach, was die Schwester mit dem »Füße nach vorn« gemeint hatte.
»Elf Uhr, Tisch fertig machen!« sagte die Schwester und schob dem lesenden Mann das Buch freundlich weg. Dann bekamen wir eine Tasse Suppe mit einem Brötchen. Eine Viertelstunde drauf das Essen: Kartoffelbrei, eine Scheibe Fleisch, Kompott und Pudding.
Als wir gegessen hatten, kam ein Mann mit verbundener Nase, er hatte eine weiße Jacke an und trug eine große Tasse auf einem Tablett. Gleich darauf kam die Schwester und brachte einen Gummischlauch. Sie gingen ans Bett des stillen Mageren und legten eine Serviette um seinen Hals; der Mann hielt den Schlauch hoch über das Gesicht des Kranken, die Schwester zwang ihm die Zähne auseinander. Zu zweit stopften die den Schlauch in den Hals, der Magere verdrehte die Augen, der Schlauch ging in den Schlund. Als er noch eine Handbreit herausstak, setzte die Schwester einen Trichter darauf: jetzt wurde die Tasse mit dicker, weißer Suppe in den Trichter gegossen, einige Augenblicke später zogen sie den Schlauch wieder hoch.
»Gute Verdauung, lieber Paul«, sagte die Schwester und putzte den Mund des Kranken, der sich nicht bewegte, ab. Schon war er wieder allein.
Jetzt wurde der Fieberkranke aus einer Schnabeltasse gefüttert, er schlug um sich und wollte nicht, erst als er den Trank schmeckte, sog er mit starkem Bewegen der ganzen Brust.
Ich hatte vor lauter Neugier und scharfem Hinblicken keine Zeit gehabt, den Juckreiz in der Brust mit Husten zu lindern; als die Schwester kam, um meinen Namen auf die Tafel zu schreiben, Fieber zu messen, da fing es wieder an: erst mit kurzen, pfeifenden Atemzügen und dann ein einhakender Husten, der zähen Schleim mit heraufbrachte.
Ich mußte in eine flache Glasschale spucken. Fieber hatte ich nicht mehr; die Schwester legte einen anderen Messer ein, sie wollte es nicht glauben, aber ich war ohne Fieber.
Zwischendurch ging sie zu dem Fieberkranken, sie machte allerhand Zeichen. »Wenn er die Nacht übersteht«, sagte sie leise, »ist er gerettet. Er hat nämlich Herzerweiterung, er liegt schon acht Tage.«
Als es vier Uhr war und der Kaffee kam, mußten zwei Schwestern neben ihm sitzen und ihn festhalten, er wollte immer hoch und fort. Der Kopf wurde noch röter, die Lippen waren ganz schwarz, er schrie plattdeutsch und späterhin holländisch. Er kommandierte, schimpfte, lachte, er hatte es mit einer Bauarbeit zu tun, trieb Pferde an und wenn er »Halt« rief, lag er da mit hartatmendem Brustkasten, verzerrtem Gesicht und rührte sich nicht. Wenn es wieder in ihm anfing zu arbeiten, versuchte er zuerst, die Hände frei zu bekommen, Doch die Schwestern hielten ihn fest.
Die Teller zum Abendessen waren schon hereingebracht worden, da kam der Arzt. Der sah sich den Schwerkranken an and schickte eine Schwester fort, sie kam mit einem Tablett wieder, der Arzt nahm eine Spritze und drückte sie ihm in den Arm. Als das Essen kam, war er ganz ruhig, ich konnte nicht essen; ein Mensch kämpft mit dem Tod, das hatte ich nie gesehn, ich vergaß mich selber und war gebannt von dem roten Gesicht. Als es dunkel wurde, brachte der Krankenwärter ein Gestell herein, das mit grünem Stoff bespannt war. Das Bett des Kranken wurde so umbaut, daß niemand mehr etwas sehn konnte. Ich horchte auf jeden Atemzug, schließlich schlief ich doch ein. Als ich am andern Morgen erwachte, lag der Kranke still da, das Gesicht war weniger rot, aber die Lippen noch schwarz.
»Gott sei Dank, er wird wieder gesund!« sagte die Schwester und bog sich über mich, »Gott hat ein Wunder an ihm getan. Bete auch du, daß du schnell gesund wirst!«
Nach dem Frühstück kam der Arzt und untersuchte mich. Ich hatte ihm nicht genug gespuckt, aber ich konnte mit dem besten Willen nicht husten.
Nachdem er meine Brust abgehorcht hatte, ließ er mich räuspern und husten, da kam ein kleiner Anfall, lange nicht so schlimm, wie die zu Hause. Als der Arzt weg war, erwachte der Herzkranke, sprach ganz vernünftig und wußte nichts von den letzten drei Tagen. Er wollte nicht glauben, daß es schon Mittwoch sei. Als er nach einem Schnaps verlangte, brachte ihm die Schwester ein Ei, das mit Kognak vermischt war. Daraufhin schlief er wieder ein. Am Donnerstag kam der erste Besuch, auch meine Mutter war da, sie wollte nicht glauben, daß es mir hier so gut gehe. Der Vater sei jetzt viel mehr in der Werkstatt, ich solle nur nicht zu früh hier wegwollen. Der Herzkranke hatte zwei Schwestern auf Besuch, die ganze Düten voll Obst und Kuchen auch auf unsere Tische legten. Der große Mann hatte Besuch von seiner Frau und der kranke Junge mit den hohen Schultern war der Sohn des Portiers von Kaubes Spinnerei, der mich von einer Reparaturarbeit kannte.
Nach diesem Besuch sprachen wir zuerst miteinander. Am Abend ging es dem Herzkranken wieder schlechter, die Schwester schimpfte auf die Besuchstage, die Besucher nähmen nicht genug Rücksicht auf die Kranken; jetzt müsse der arme Kerl wieder eine Spritze haben. Er bekam sie und wurde ruhig. Am andern Tag erzählte der Herzkranke, daß er zuletzt auf dem Bau, als die Aufzugsmaschine kaputtgegangen war, im Galopp die Mauersteine auf das Gerüst, fünf Stock hoch, hinaufgetragen habe und dazu noch immer vier Stück mehr wie sonst. An dem ganzen Bau hätte er kaum eine Fuhre Steine geschleppt, nur am letzten Stock die letzten Tage. Da hätt er auf einmal Herzklopfen bekommen und dann wär's aus gewesen.
Der große Mann erzählte von seiner Krankheit. Er war Wärter in der Badeanstalt, die feuchtwarme Luft machte ihm anfangs keine Beschwerden, bis er sich beim Wetterwechsel erkältete – da hatte er auch schon einen chronischen Rachenkatarrh fort. Jetzt ging es ihm schon wieder ganz gut; wenn nur der ständige Wechsel zwischen warm und kalt nicht wäre, dann könnte er den Katarrh schon wieder loswerden.
Der kleine Junge vom Portier hatte Schmerzen in den Schultern, Stechen in der Brust und sollte zur Beobachtung acht Tage hierbleiben.
Was der hagere, schmale Junge, der der Sohn eines Schulrektors war, für eine Krankheit hatte, wußte niemand. Nur, daß er sterben würde, war bekannt. Nachdem ich lange genug die Augen dieses Kranken beobachtet hatte, wußte ich, daß der arme Mensch zwar nicht sprechen, aber doch sehen und hören konnte. Als dann wieder ein Junge den Kopf in die Tür steckte und laut fragte: »Na, ist er noch nicht tot?« schmiß ich ihm eine harte Schlummerrolle an den Kopf. Da gab's Krach mit der Schwester; auch ihr warf ich vor, daß sie zu dumm sei. Ich wüßte genau, daß der arme Mann ihren blöden Quatsch nicht hören wolle.
Beim nächsten Besuch sah ich es deutlich: wenn seine Mutter ihm etwas ins Ohr sagte, belebte sich sein Gesicht.
In der Nacht kam die Schwester zu mir ans Bett und verwies mir meine Grobheit, ich müsse bedenken, daß sie mit so vielen Kranken zu tun hätte und nicht so wie ich, stundenlang nach einem Mienenspiel sehn könnte. Ich müsse überhaupt vorsichtig sein, in diesem Krankenhaus lägen auch noch andere, schlimme Kranke, mit denen kam ich zusammen, wenn ich im Garten spazierengehn könnte. Ob ich von den schlimmen Krankheiten Bescheid wüßte? Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Als sie von der Lustseuche anfing und der Unsittlichkeit, da fiel mir ein, daß die Gesellen von den venerischen Krankheiten und den Weibern viel gesprochen hatten. »Wenn du nachts einmal stilliegst, dann kannst du das Heulen vom Turm her hören. Du mußt aber nicht glauben, es war ein angeketteter Hofhund, es sind die ganz Schwerkranken, die beim lebendigen Leib verfaulen, denen die Zähne im Mund wackeln und die voll Geschwüren in unerträglichen Schmerzen den Tod herbeisehnen, aber nicht eher sterben, bis das Herz auch faul ist.«
Sie erzählte lange von diesen schrecklichen Krankheiten, bis ich vor Ekel würgte und mich gern erbrochen hätte, wenn der Magen nicht leer gewesen wäre. Ich spürte, wie sich mein Gedärm krampfte und bittersaurer Saft in meine Kehle kam. Ich hielt mir die Ohren zu und wollte nicht mehr hören, sie versprach, von etwas anderm zu erzählen. Sie fragte nach meinem Liebchen. Ich sagte ihr, daß es tot sei und drei Jahr lang an der Schwindsucht krank gelegen hätte. Ich erzählte ihr von Rosa und im Erzählen merkte ich, daß die Schwester auch ein Weib war.
Als ich schwieg, fragte sie mich, ob ich denn jetzt mit Mädchen verkehrte, tanzen ging und sie in den Arm faßte und küßte.
Da fing mein Leib mit allen Gliedern zu zittern an, ich starrte der Schwester ins Gesicht und sah, daß sie schön war. Von der Straßengaslaterne fiel der Schein von oben hinunter in die Haube und beglänzte das Gesicht ein wenig, nur die Augen und die Lippen schimmerten feucht; auf einmal schien es mir, als habe sie die Fieberaugen und Lippen der kranken Rosa. Als sie einmal den Kopf nach dem Licht hob, sah ich auch die Fieberbacken. Ich sagte, sie wäre sicher auch krank, wie Rosa, die abends, und wenn sie erzählte, auch so glühte wie sie.
»Krank sind wir alle, mein Junge!« sagte sie ganz leise und beugte sich an mein Ohr, »auch der Gesundeste wird von der großen Krankheit befallen, an der alle Menschen leiden. Es gibt entsetzliche Krankheiten, aber die fürchterlichste ist die Liebe – die kann kein Arzt heilen, die heilen Mann und Frau, wenn sie sich lieben. Bete du zu Gott, daß er dir zur Zeit die Frau schickt, die dich von der Liebe heilt, wie mich der himmlische Bräutigam geheilt hat. Es ist eine süße, schmerzhafte Krankheit, die Liebe. Du wirst irdisch lieben, ich muß himmlisch lieben!«
Ich hörte kaum noch ihre Worte, ich roch ihren Atem und weinte, als sie die Hand fortzog, die auf meiner Schulter gelegen hatte. Sie legte ihre Hand auf meine Stirn, und ich fühlte, wie sie zusammenzuckte, als die Tür ging und eine andre Schwester hineinkam. Erst als die sich neben ihr über mich beugte, da sah ich, wie schön meine Schwester war. Die andere hatte ein Gesicht hart wie Gips und grau wie Erde; meine war wie Milch und Blut. »Bring ihm doch eine Tasse Tee!« sagte die fremde Schwester mit einer Stimme wie ein Gerichtsvollzieher.
Die schöne Schwester stand auf: »Ich bringe dir Tee!« sagte sie. Sie kam nicht wieder, ich hörte die Uhr schlagen, hörte die anderen atmen, ich schloß die Augen und spürte sie leibhaftig neben mir sitzen, näher, inniger als vorher. Nun wünschte ich, sie käme gar nicht mehr zurück, ich war froh, daß ich keinen Schlaf hatte. Noch nie im Leben war ich so glücklich, ganz von selbst schmolz die lebendige Schwester mit der toten Rosa zusammen, und die beiden wurden zu einer neuer Frau, die mich von der Krankheit der Liebe heilen sollte. Diese neue Frau aber war noch nicht meine Frau, sie war noch nicht in der Welt, sie war noch ganz nackt und ohne Namen, ohne Haus und ohne Eltern, sie wollte zu mir und ich konnte sie nicht fassen. Ich sei noch zu jung, hatte die Schwester gesagt. Wie konnte ich zu jung sein, da ich die Krankheit der Liebe doch in mir trug und mir schon die Frau, die mich heilen sollte, erschien. Das Zimmer in diesem Krankenhaus verwandelte sich. Da standen keine Krankenbetten mehr, sondern schöne Schränke mit wunderbaren Dingen, da lagen auf dem Boden Felle von Tieren und ich lag da und sah auf die Tür, auf deren weißer Fläche die neue Frau erschien, wie ein Geist ging sie durch das Holz und blieb im Weißen stehn. Ein wunderbares Gespenst, ein leuchtender Schatten bewegte sie sich, wenn ich mich bewegte, sie folgte mir, wohin ich auch ging, blieb immer in einem Abstand so weit, daß ich nur ihre verschwimmenden Linien sah. Ich mußte weg und ging in die Fabrik zum Arbeiten, sie ging hinter mir her, schwebte durch den Kesselraum und drang durch die Mauern der Rauchzüge. Ganz weiß auf dem rußschwarzen Grund stand sie, lächelnd wie Rosa, wenn sie vom Gesundwerden sprach, und leuchtend wie die Schwester, wenn sie von Liebe redete.
Wie und wann ich aus dem wachen Traum in den Schlaf geglitten bin, weiß ich nicht mehr, ich erwachte und schloß vor Entsetzen die Augen: da lag vor mir der hagere Paul, mit verzerrtem Gesicht und zitternden Knien. Sein Vater war gekommen und saß neben ihm, wischte mit einem Tuch über Stirn und Nase des Kranken, Das Gesicht glich einem Totenkopf, der mit den Zähnen wackelte, ich zog die Decke über den Kopf und biß auf die Lippen.
Als ich wieder an die Luft mußte, stand schon das grüne Gestell um das Bett, ein braunes Gefäß wurde von einer Hand hochgehalten, ein dünner Schlauch schwang wie ein dicker Regenwurm durch die Luft.
Als ich die Schwester sah, war ihr Gesicht aschfahl, ihre Augen müd und trübe, es war nur der Schatten der Schwester.
Am Abend kam der Vater wieder, er kam zu mir ans Bett und lobte mein Aussehen. Er hatte ein strenges Lehrergesicht mit einem Soldatenschnurrbart. Der Tag war mit viel Schlafen vergangen, ich hatte keinen Hunger; weil ich immer mehr Wasser trinken wollte, sollte ich Tee bekommen.
Alles schlief schon, als die alte Schwester aus dem Rahmen des grünen Gestells kam und leise sagte, daß ich mich nicht erschrecken solle. Es würde eine unruhige Nacht. Ich hätte am Tage zuviel geschlafen; wenn nicht alle Zimmer belegt wären, brächte sie mich in ein anderes. Ich solle nur den schmerzhaften Rosenkranz beten, mit der Bitte um eine gute Sterbestunde auch für mich und die meinen. Der Tod käme heut als Freund in dies Zimmer und erlöse einen Menschen von dem großen Leid.
Ich fühlte nichts vom Tod. Mochte die ganze Welt aussterben. Ich wünschte nichts sehnlicher, als daß alle Menschen stürben und nur ich und die Schwester allein im weiten Weltraum übrigblieben. Der Magere machte den Anfang, gut, ich sah sich die Erde entvölkern, die ganze Stadt war schon leer, ich hätte Erdbeben und Feuer vom Himmel in dies Jammertal geworfen, wenn es mir möglich gewesen wäre.
Meine Schwester kam und brachte eine Tasse Tee mit. Sie legte die Hand unter meinen Kopf und ließ mich trinken.
Dann tat ich, als ob ich schlief, ich zog die Decke über meinen Kopf, berauschte mich an meinem eignen Atem und lauschte dem Rauschen in meinen Ohren. Da merkte ich, daß das Rauschen von draußen kam, grüne Zweige hingen über meinem Gesicht, wunderbar, durch das offene Fenster schob der große Baum seine Äste in das Zimmer, das Zimmer verschwand unter grünem Laubgewirr, ich fühlte den Baum mit einer großen Krone über mich, gelbgrünes Licht war von blitzenden Bienen und Insekten durchsummt, ich saß wie ein Junge in den ersten großen Ästen und hörte nichts als Bienengesumm und das Rauschen der Blätter. Nun fing ein Vogel zu singen an, ich sah hinunter, die Schwester stand da mit einer Tasse und wollte zu mir hinauf. Ich sank mit dem Baum in die Erde, die Schwester wuchs mit der Erde in die Höhe, ich fühlte die Wärme der Tasse an meinem Mund, wollte aber nicht trinken und stieß die Tasse weg. Die Tasse kam immer wieder, der Rand war warm und weich geworden, stieß immer wieder gegen meinen Mund, aber der Geschmack war nicht der einer Tasse Tee, der Geruch war der Atem der Schwester. Da bekam ich Angst und trank, trank, preßte die Tasse fest an meinen Mund, daß die Lippen wehtaten und ich erwachte. Da stand die Schwester mit der Tasse da, ich glaubte immer noch, daß ich träume und sagte verwirrt: »Schwester, die Welt ist untergegangen, alle Menschen sind tot, wir zwei sind ganz allein auf der Erde!«
»Trinke, trinke, Junge, du hast geträumt! Was hast du geträumt, tu ab den häßlichen Traum, bitte Gott um gute Träume.«
Ich erzählte ihr den Traum von dem Lindenbaum, der in unser Fenster hineingewachsen war.
»Es ist aber kein Lindenblütentee, den ich dir bringe, es ist Baldriantee, der das Herz beruhigt. Du bist hart und schwer arbeiten gewöhnt, nun ist das Herz immer noch schwer am arbeiten. Das wird sich beruhigen!«
»Ich will es aber nicht, Schwester. Das Leben ist so hart und schwer, so schmutzig und roh, voll Armut und Krankheit. Aber meine Träume sind so schön, so wunderbar; hier ist kein Schmutz und sind keine rohen Kesselschmiede, hier ist kein Zank und kein keifender Vater, hier ist kein Rauch und kein Ruß, hier werde ich gesund, ich bin ja gesund, ich bin ja nur krank, weil das Leben so hart ist. Ich huste ja nicht mehr, ich habe keine Schmerzen...«
»Das ist alles Übertreibung! Du bist noch lange nicht gesund!«
»Dann wollt ich, ich würde nie mehr gesund!« sagte ich und glaubte es fest und sicher.
»Du versündigst dich, Gott straft dich mit einer andern Krankheit!«
»Gott hat das schon getan, Schwester, Sie sagen es selber, nun sei ich herzkrank. Darum geben Sie mir Baldriantee, ich will keinen Baldriantee. Er nützt nichts, die Krankheit am Herzen habe ich erst hier bekommen und nicht bei der Arbeit, die Krankheit ist gekommen, an der alle Menschen, auch die Gesunden leiden, die heilt kein Arzt, Schwester, wer heilt die? Sie haben gesagt, die heilt nur die Frau. Sie sind eine Frau, Schwester.«
»Raffinierter Junge!« sagte sie so leise, daß ich es nicht hören sollte. Sie lachte leise: »Du hast ein gutes Gedächtnis und lernst schnell, aber vergiß das. Ich bin keine Frau, ich bin eine Braut des himmlischen Bräutigams, eine Gottesbraut und nicht von der Erde.«
»Trinken!« stöhnte ich, denn das Feuer kam über mich, der Krampf und die Gewalt, über die ich keine Macht hatte. Ich trank den lauwarmen Tee und hätte einen Eimer ausgetrunken.
»Ehe sie kamen, Schwester, träumte ich, Sie seien eine Teetasse, erst war es auch eine harte Tasse, an der ich trank, dann wurde sie warm und weich wie ein Mund und dann war es doch nur Ihre Tasse Tee. Ich will keinen Baldriantee mehr. Ich will nicht vom Doktor geheilt werden, ich will...«
Die Schwester preßte ihre Hand auf meinen Mund und stand auf. »liebes Kind, Gott, der Herr über Gesundheit, Tod und Leben, hat alles so eingerichtet, wie er es für gut hält. Auch mit dem Tod heilt er. Hüte dich, daß die Krankheit des Herzens nicht so heftig wird, sei wachsam und bete. Liebe und Tod gehn Hand in Hand, ich habe dir gesagt, da drüben im Turm, da heulen die Ärmsten der Armen nach der Erlösung durch den Tod, weil sie die Liebe – zu sehr – geliebt haben... Und da, dir gegenüber, da heilte der Tod den armen Paul von seinen Leiden. Schlafe, gleich holen sie ihn fort!«
»Ich mach dich kaputt!« schrie ich und stopfte mir die Bettdecke in den Mund, riß alles Bettzeug über mich und glaubte vor Qual zu sterben, ich schrie und raste, schlug um mich und preßte mir den Hals zu.
Mit klopfendem Herzen, mit wirklichen Schmerzen, lag ich allein.
Da ging die Tür, der Krankenwärter und die alte Schwester kamen mit einer Bahre, trugen das grüne Gestell weg, im Licht der Straßenlaterne hoben sie den Toten aus dem Bett und legten ihn auf die Trage. Da lag er einen Augenblick nackt, ein mit Haut gelbschimmerndes Knochengerippe. Hastig zog die Schwester ein Laken über die Blöße, das Laken war mit Kot beschmutzt, der Gestank zog bis zu mir. Ich saß aufrecht im Bett und sah, wie meine Schwester die Trage ergriff und aufhob, wie sie mir im Gehen einen Blick zuwarf, der traurig und freudig, bitter und lieblich zugleich war.
Am Morgen kam der Arzt und untersuchte auch mich wieder. »Wenn ich dich nicht bei der Einlieferung besehen hätte, wollt ich es nicht glauben, daß du es bist. Jetzt rücken wir dem Katarrh zu Leibe!«
Ich wurde einen Stock höher verlegt, mußte auf der Veranda in einem Stuhl sitzen, an dem breite Riemen so angeschnallt waren, daß sie mir über die Brust gingen. Ein paar Stöcke wie Ruder waren mit den Riemen verbunden, wenn ich sie an den Leib zog. preßten die Riemen auf den Brustkasten. Dann mußte ich ausatmen. Eine Schwester machte zuerst die Kommandos, einatmen, ausatmen und sorgte, daß ich es regelmäßig mit den Ruderbewegungen tat. Morgens und abends trieb ich diesen Sport, von fünf Minuten dehnte er sich bis auf eine Stunde aus.
Zuschauer waren immer genug da: ein kleiner Junge, er sollte sechzehn Jahre sein und sah aus wie ein Vierzehnjähriger, trug den Arm in einer Schlinge. Er war schon dreiviertel Jahr da. Seine Finger waren wieder heil, aber am Handgelenk brachen die Wunden von neuem auf. Er bekam Haut und Fleischstücke von Bein und Hüfte auf den Arm übertragen. Man konnte es an den Fingern sehn: er war mit der Hand zwischen die Kratzenbänder einer Maschine gekommen, die haarscharfen Bürstenwalzen hatten alles Fleisch bis auf die Knochen abgerissen, so daß der Arm wie ein Brett flachgeschabt war. Zuerst hatte man den Arm abnehmen wollen, dann wurde der Versuch einer Übertragung gemacht, die gut gelang. Er selber sprach niemals von dem Unglück und nie von seinem Arm. Die Mitkranken verboten mir gleich, ihn danach zu fragen. Im selben Zimmer lag ein Junge aus meiner früheren Stadtschule. Er war Gießerlehrling, bekam einen Platsch, fließenden Gußeisens über das Bein; das verbrannte ihm den Fuß und zehrte auf dem Weg nach unten eine tiefe Brandrinne durch das Fleisch. Nun war der Fuß verheilt; nur im Schienbein stimmte es nicht, da faulte der Knochen, eiterte und mußte immer nachgemeißelt werden. Vor einem halben Jahr war das Unglück geschehen, nach einem nächsten halben Jahr hoffte er wieder gesund zu sein.
Der vierte Mann war ein Konstruktionsschlosser, der beim Eisenhochbau von einem Träger hinunter in einen Steinhaufen gefallen war. An seinen Gliedmaßen war nicht ein Knochen heil geblieben, er hatte kein Sitzfleisch und wütete schon morgens früh im Bett, bis er in den Rollstuhl gesetzt und an die Luft gebracht wurde. Er hatte sich einen groben Ton im Reden angewöhnt und ließ auch hier nicht von den Baustellenmanieren: die kräftigsten und rohesten Ausdrücke waren bei ihm Zärtlichkeiten geworden. Ich war ja an diesen Ton von den Gesellen gewohnt und konnte den freundschaftlich nachgeschmissenen Wurfgeschossen ohne ernstere Haltung ausweichen. Ich konnte mit ihm Karten spielen, ohne daß er sich beim dritten Stich blau ärgerte. Seine fünf Kinder konnten ihn, weil er auf dem Lande wohnte, nur selten besuchen, er hatte es ihnen auch verboten, weil ihm das Fahrgeld zu schade war. Trotzdem liebte er seine Kinder mit einer tierhaften Zärtlichkeit; es schmerzte ihn, daß er keinem von den Lehrern und Meistern, die jetzt über seine Kinder volle Gewalt hatten, an den Kragen konnte. Er zählte alle auf, die nach seiner Entlassung die saftigsten Prügel bekämen. Noch ehe er zu Haus den ersten Kaffee tränke, müßten schon eine ganze Reihe frecher Kerle daranglauben. Er freute sich mit einem barbarischen Grimm auf die Prügeleien. Er fragte mich nach meinen Peinigern aus und bot mir seine Hilfe an: kein Athlet sei ihm zu stark und kein Raufbold zu frech, er wüßte, was die Gesellen mit ihren Lehrjungen für Schindluder trieben. Er sei ja selber streng bis zum äußersten, sagte er immer wieder, aber er hätte noch keinem Jungen mit Willen weh getan.
Nachdem ich ihn eine Zeitlang kannte, begriff ich, daß die andern ihn nicht leiden mochten, sie verstanden solche Natur nicht, die aus einem fanatischen Rechtsgefühl – ungerecht sein konnte.
Wenn die Verletzten zum verbinden waren, stieg ich hinunter zu den alten Bekannten. Der schmale Junge war wieder entlassen worden, der Badewärter wurde bald entlassen, der herzkranke Handlanger ging wieder spazieren; ich hörte, daß die Schwester in Exerzitien sei und in ein paar Tagen zurücksein müsse.
Meine Mutter hatte mich zweimal in der Woche besucht, sie sah, wieviel es mir besser ginge, und freute sich. Einmal kam auch der Vater. »Unfug, daß du hier in der schlechten Luft herumliegst, verdammter Unsinn! Gleich geh ich zum Doktor!« Schon war er weg, ich hörte ihn durch den Flur rufen, ging ihm nach und sah, wie er gerade die Schwester mit einem fast unsichtbaren Schubs aus der Tür des Arztzimmers stieß. Jovial, freundschaftlich herablassend sprach er mit dem Arzt, der verblüfft und erstaunt, gar nicht zu Wort kam.
»Komm, du kannst mit nach Haus gehn, er kann doch nicht nein sagen, Junge, so gesund warst du ja noch nie im Leben. Der Teufel auch, in drei Wochen reparier ich einen Kornwallkessel von dreißigtausend Kilo – da kann er diesen knappen Zentner doch wohl in drei Wochen zum Herkules machen, oder – er kann überhaupt nichts!«
Ich hatte nicht einmal Kleider bei mir und konnte nicht gleich fort. Der Vater schleifte mich an der Hand wieder ins Krankenzimmer und fluchte gottsjämmerlich, daß er mich bei den »gesegneten Weibern und Beguinen« lassen mußte. Wo er hinkam, gab es schallendes Gelächter auf seine Kosten, unter den zahlreichen Kruzifixen und Marienbildern fluchte er in Dreiteufelsnamen beim Himmelkriminal und wünschte sämtliche Donnerkeile auf die Schulweisheit der Doktoren und Schwarzröcke herab.
Noch nie war solch ein weißhaariger Feuerkopf in diesen Räumen, in denen man nur auf den Zehenspitzen schleichen durfte, gesehn worden. Was auch nur Beine hatte, sah uns beiden nach, als ich ihn an die Türe brachte. Er knallte die Pforte mit einem kräftigen Ruck hinter sich zu.
Der Konstruktionsschlosser kannte den Alten von Montagearbeiten her. Nun wurden unzählige Sprüche von ihm erzählt. Wenn er beim Transportieren einen Eisenträger oder eine Zweizentnerschiene brauchte, schrie er dem nächsten zu: »Du, gib mir mal das Stückchen Eisen da – und wenn dann zwei Mann die Schiene aufbrasseln wollten, dann sprang er mit einem Fluch dazwischen und schnappte sie, als sei sie tatsächlich nur ein Stabeisen. Einen Eichenbalken im Format einer Eisenbahnschwelle nannte er verächtlich ein »Spänchen«, das er auch wie eine Latte aufschwang und wegtrug.
Am meisten hatte dem Schlosser imponiert, als der Vater beim Kartenspielen mit dem großen Kußmaul, einem ostpreußischen Viehhändler, in Streit geriet. Der kleine, sechzigjährige Kesselschmied hatte den Riesen so mit den Fäusten verarbeitet, daß er zu zweihundert Mark Arztkosten und fünfhundert Mark Schmerzensgeld verurteilt wurde. Der Viehhändler aber war nicht bloß ein Mann von Geld, sondern auch von Humor: »Ich bin es ja eigentlich selber schuld, was mußte ich den Satan selber ärgern. Es waren nicht bloß für siebenhundert Mark, es waren für zweitausend Mark Prügel; weil der Alte nicht kleinlich im Auszahlen war, will ich nicht kleinlich im Einnehmen sein: ich schenk ihm das Ganze.«
Wahrscheinlich wußte er, daß bei Vater nichts zu holen war, da der Gerichtsvollzieher, ein guter Bekannter des Viehhändlers, ihm reinen Wein eingeschenkt hatte.
Tagelang wurde ich mit meinem Vater geuzt, und da es lachend erweise geschah, nahm ich es nicht tragisch.
Inzwischen war es Ende April geworden. Schon ein paar Tage vor dem ersten Mai wurden wir zur Maiandacht in der Kapelle eingeladen. Mit dem feierlichen Tage begann auch das schöne Wetter, mit dem schönen Wetter kam auch die Schwester wieder.
Mit der Schwester, der blumenduftenden, liederseligen Maiandacht brach auch wieder das kranke Elend der Nacht hervor, die mir mein Leben in zwei Teile trennte: ich war nun kein Kind mehr, ich haßte die Schwester; froh war ich nur, daß sie niemand liebte und lieben durfte.
Nun wurde es mir zu eng in dem Krankenhaus. Als ich den Arzt fragte, ob ich hinauskönnte, lachte er: »Das röchelt und pfeift ja in deiner Lunge wie eine alte Lokomotive, die den Berg hinaufkrächzt.«
»Es gibt eine Walderholungsstätte, die ist im Mai eröffnet worden, dahin möchte ich«, sagte ich bedrückt, weil der Arzt ein so finsteres Gesicht aufsteckte.
»Ausgezeichnet, selbstverständlich, da hätt ich dich auch sowieso hingeschickt!« meinte er. »Komm nur morgen nach der Visite.«
Ich schrieb eine Karte nach Hause, meine Mutter brachte die Kleider, mußte aber bald wieder weg, um das Mittagessen. zu machen. Ich bekam die Empfehlung für die Walderholung und ging allein nach Hause.