Heinrich Lersch
Hammerschläge
Heinrich Lersch

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Es war Karfreitag

am Mittwoch hatten wir schon Osterferien bekommen. Weil die zwei ersten Tage verregneten, war es sehr langweilig. Da stieg am Freitag die Sonne in strahlendem Glanz aus den Nebeln der Frühe; wir beschlossen, heute Räuber und Soldat zu spielen. Die Räuberhöhle war der alte Gemüsewagen; gleich wählten die Jungens ihren Hauptmann, und die Mädchen richteten die Küche ein. Dann wurde die Schlacht beraten; zuerst überfielen sie den Proviantwagen. Die eroberten Leckerbissen brachten sie den Köchinnen, es war ein tüchtiger Schinken dabei. Doch die Mädchen wollten keinen Schinken, weil ja Fastenzeit sei. Sie machten Kartoffelsalat und buken Pfannkuchen.

Als die Räuber zurückkamen, war das Essen schon gerichtet. Sie setzten sich fröhlich an den Tisch, den sie aus einer Wagenbracke gemacht hatten. Da hörten sie Fritz, den Meßdiener, mit der Holzklapper über die Straße gehen. Er zeigte die Mittagsstunde an, denn die Glocken waren zum Pappessen nach Rom geflogen.

Der kleine Konrad aber sagte: »Wenn es jetzt zwölf Uhr ist, dann wird der liebe Heiland an das Kreuz geschlagen. Die Soldaten graben ein Loch in die Erde und stecken das Kreuz hinein. Ich meine, ich hörte sie mit den Hämmern klopfen!« Da liefen die Kinder vom Tisch weg und legten das Ohr an die Erde. »Ja, ich höre, wie sie die dicken Nägel in das Holz hauen«, sagte der Hauptmann, »das kann gar nicht weit sein, – das sind die Veelhecker, mit denen haben wir ja Krieg! Auf! Liebe Räuber, wir schlagen die Veelhecker Soldaten in die Flucht und befreien den lieben Heiland, – er kann dann gut mit uns tun. Auf die Pferde! Zur Schlacht, liebe Räuber!« rief er, und als alle Mann auf den Steckenpferden saßen, da zählte er mich als Wache aus. Ich mußte nun zurückbleiben, um die Frauen zu beschützen. Als sie schon davongeritten waren, kam der Hauptmann noch einmal zurück. Er hatte die Kneifzange vergessen, denn sie wollten doch die Nägel aus dem Holzbalken herausziehen und den Heiland befreien.

»Jetzt stopfen sie die Kleider vom lieben Heiland in einen Sack und verkaufen sie bei meinem Vater«, sagte Lieschen aus dem Alträuscherladen. »Auch voriges Jahr haben sie das getan. Mein Vater sagte: »Das war ein gutes Karfreitagsgeschäft!« Aber am andern Tag kam die Polizei und hat sie wieder herausgeholt, die Kleider, – die waren all von Samt und Seide!«

Ich saß bei den Frauen und hatte das lange Schwert auf den Knien. Die Hauptmannsfrau war oben auf den Bock gestiegen und konnte die Schlacht um den Berg Golgatha sehn. »Jetzt haben sie den Sandberg erstürmt!« rief sie herunter, »und das Steinlager erobert. Ha! jetzt können sie nicht mehr mit Steinen schießen. Die Räuber gewinnen die Schlacht. Gloria! Sie verfolgen den Feind bis nach Paris. Sie haben den Heiland hängen lassen. Jetzt erobern sie die Festung.«

Als ich hörte, daß Jesus noch am Kreuze hing, hatte ich keine Freude mehr am Räuberspiel. Ich dachte nur immer daran, daß der Heiland am Sterben war. Nun würden die Sterne vom Himmel fallen und die Erde sich öffnen, die Toten aus den Gräbern kommen, die Sonne sich verkriechen und ein fürchterliches Gewitter blitzen und donnern. Dann würden auch die Häuser umfallen und alle Menschen totbleiben. Und nur die Räuber, die ausgezogen waren, blieben am Leben. Ich aber, der ich nicht mitgezogen war, blieb auch tot dabei, das fühlte ich; ich war sicher der Judas, der den Heiland verraten hatte und sich erhängen mußte, wie der Mann, den sie am Hangbusch an dem Eichbaum gefunden hatten. An den traurigen Tag dachten alle Kinder noch lange Zeit. Aber wenn ich Judas sein sollte, so müßte ich doch erst den Beutel mit Geld haben. Nein, einen Beutel mit Geld hatte ich nicht, da konnte ich auch nicht der Judas sein.

Nun ging ich von den Mädchen weg in das Feld, um die Vorhölle zu suchen. In diese sollte ja Jesus hinuntersteigen, sobald er gestorben war. Ich wollte den lieben Heiland bitten, daß ich am Leben bleiben dürfe. Ich würde auch nie mein kleines Brüderchen schlagen oder ihm wehtun, wie Kain den Abel geschlagen hatte.

Die Vorhölle, das war die neue Dunggrube, die erst vor ein paar Tagen gemacht worden war. Ich setzte mich auf den Rand und wartete. Richtig, da wurde der Himmel dunkel, der Nebel zog vor die Sonne, – sie sah jetzt rot, wie ein blutiges Stück Fleisch aus. Sie kochte im Nebeldampf und jetzt sah ich, wie die Sterne durcheinanderliefen und nach dem Mond riefen. Auch der Vorhang in dem Schlafzimmer der Eltern würde in zwei Stücke reißen.

Es war still geworden. Nur ein paar Sperlinge schrien. Ich hörte ganz deutlich, wie sie untereinander sagten: »Er stirbt! Er stirbt!«

Jetzt muß die Welt untergehen! dachte ich und guckte überall umher.

Ich hielt die Hände vor die Augen und dachte immer an den sterbenden Heiland. So eine Dornenkrone müsse doch sehr wehtun, grad wie die Nägel in Händen und Füßen.

Da hörte ich singen. Das waren sicher die Engel, die schon vom Himmel kamen. Ja, sie kamen auf die Vorhölle zu. Sie trugen in ihren Händen Puppen, die keinen Kopf mehr hatten und Holzpferdchen mit zerbrochenen Beinen, all die Spielzeuge, die im Winter kaputtgegangen waren; sie sangen:

»Wenn der jüngste Tag will werden,
fallen die Sternlein auf die Erden,
weinen all die Kinderlein ...«

Aber sie kamen nicht in die Vorhölle zu ihm. Sie gingen in ihr Haus zurück. Ich hätte so gern gehabt, daß sie gekommen wären. Ich war so bang allein.

Nun schlug es von der Kirche dreimal. Jetzt war die Todesstunde. Wie wird Gottvater bös werden und das Gewitter schicken. Wie gut war es, daß kein Kirchhof in der Nähe war! So brauchte ich die Toten wenigstens nicht aufstehen zu sehen.

Doch da sah ich, wie das Kreuz auf dem Berg Golgatha wankte, wie feurige Erzengel aus den Wolken stiegen, den toten Heiland vom Kreuz abnahmen. Ich sah, wie ein wunderbares Licht aus dem verklärten Leib des Heilands kam. Ich preßte fest die Hände vor die Augen, um nicht blind zu werden. Jetzt mußte Jesus an das Tor der Vorhölle kommen.

Mein Herz schlug heftig, doch ich hatte keine Angst mehr. Ich wollte dem Heiland all meine Märchen erzählen, wollte ihn mit schönen Liedern in den Schlaf singen. Dann wollte ich meinen neuen Ball holen, den konnte der Heiland mit in den Himmel nehmen und an Gottvater einen schönen Gruß von mir bestellen. Gottvater sollte doch so gut sein, und nie die Erde untergehen lassen. Mein Brüderchen, meine Mutter und mein Schwesterchen, all die Kinder, die hätten sicher keine Schuld, daß die bösen Kriegsmänner den Heiland ans Kreuz geschlagen hätten. Der Heiland sollte das seinem himmlischen Vater sagen. Er müsse den Soldaten und den Juden verzeihen daß sie seinen Sohn totgemacht hätten. Auch ich hätte es dem bösen Eisenbahnzug verziehen, daß er den kleinen Molly, den lieben Hund von Deckers, überfahren hatte. Deckers neuer Hund hieß Ami.

Nun lief ich fort, den Ami zu holen. Was würde der Heiland sich freuen, wenn er mit ihm spielen könnte!

Als ich aber ans Haus kam, stand meine Mutter in der Tür und rief: »Heini, komm Kaffee trinken!« Und da fühlte ich, daß ich furchtbar Hunger hatte. Beim Essen mußte ich noch immer an die Vorhölle denken; die Mutter ließ mich nicht mehr spielen gehn, – ich wurde in die Bütte gesteckt und gewaschen. Als ich lang ausgestreckt im Bett lag, glaubte ich, in Jesu Grab zu liegen. Morgen war ja Karsamstag, was da geschehen sollte, das wußte ich nicht so recht. So freute ich mich auf den Ostermorgen, – da würde ich sicher als erster die Ostereier kriegen.


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