Heinrich Lersch
Hammerschläge
Heinrich Lersch

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Im Mai wurde Rosa sechzehn

Im September war ich geboren. Sie war noch immer krank, aber durfte schon spazierengehen. Ich rannte manchmal aus der Werkstatt, wenn ich in das schöne Wetter hinaussah und glaubte, jetzt würde sie draußen sein.

Zum Geburtstag wollte ich ihr eine Freude machen, eigentlich durften wir uns nur zu den Namenstagen beschenken, denn die Protestanten feiern den Geburtstag. Ich wollte aber nicht so lange warten: Sie sollte nicht bloß draußen gehen, sondern auch liegen können. Ich sparte schon lange auf einen Liegestuhl.

Er kostete genau fünf Mark.

Am Abend vorm 1. Mai ging ich in die Stadt, natürlich ins neue Warenhaus, suchte den Stuhl aus und ließ ihn vom Geschäft hinbringen. Tatsächlich kam gegen neun Uhr ein Zweispänner die schmale zerregnete Straße hinauf, die Nachbarn rissen die Fenster auf und staunten.

Wie schön war die Freude der ganzen Familie, jeder gönnte der guten Rosa diesen Stuhl, der dann auch unter den großen Birnbaum getragen wurde. Auf einem weißen Kissen lag das backenrote Gesicht in freudig stolzer Feierlichkeit.

Am Sonntag drauf gingen wir spazieren.

Rosa war nicht glücklich. Sie mußte immer an den toten Bruder denken, er sei ihr im Traum erschienen und habe ihr gewinkt. Sie habe keine Angst vor dem Tod. Es sei ja so schön zu leben, der Hermann aber hätte so glücklich ausgesehn, daß sie neugierig nach dem Leben da drüben sei. Es war vielleicht das Beste: selbst verheiratet sein, wäre noch nichts, dann müßte man immer arbeiten, einer hier, einer dort. Wenn sie aber gestorben war und als Geist hinkönnte, wo sie wollte, dann würde sie immer um mich herum sein, immer auf der Hut um mich. Ja, sie würde Gott bitten, daß sie dem Schutzengel, der mir bei meiner Geburt gegeben wurde, schon einmal aushelfen dürfte. Der passe gar nicht gut auf, sie hätte es zum Beispiel nicht zugelassen, daß der Brandau mich mit dem Hammer geschmissen hätte. Sie würde es auch immer sagen, wenn eine Schraube los sei bei der Arbeit und ein Balken sich bewegte, eine Leiter nicht feststände oder ein Hammer lose im Stiel war. Von dem Tag an, da sie mein Schutzengel sein dürfte, würde mir nichts mehr passieren. Sie würde auch schon eine Frau für mich suchen, eine schöne, reiche, gute Frau, überhaupt, der liebe Gott wolle am Ende nichts anderes, als für mich einen neuen Schutzengel haben.

Lange redete sie davon, mir tat das Herz weh, wie sie das so glücklich machte, von ihrem Tod zu reden.

Wir gingen in den Wald, sie pflückte Maiglöckchen und bezeichnete die Stelle mit einem Stock, den sie in die Erde steckte. Diese Maiglöckchen sollte ich nächstes Jahr auf ihr Grab pflanzen.

Ich biß die Zähne zusammen vor Schmerz.

Wir waren an einen merkwürdigen Baum gekommen. Der wuchs aus einem dicken Stamm und teilte sich in Meterhöhe zu zwei glatten, schlanken Stämmen. »Wie diese Bäume aus einer Wurzel stammen und sich nebeneinander in die Höhe recken, genau so werden wir zwei nebeneinander aufwachsen. Auf dem rechten Baum schneide ich deinen Namen, auf dem linken den meinigen. Unten im Stamm schneide ich sie nochmal in ein Herz vereint!«

Ungeachtet meiner besten Kleider kletterte ich hoch, machte die Namen tief und scharf, kam herunter und schnitt das Herz mit den Buchstaben.

Dann verschmierte ich die Namen mit gelber Erde, es war so Sitte.

Wir gaben uns die Hände.

Auf dem Nachhauseweg kam ein Mann, der mit uns ging. Der sah scharf in Rosas Gesicht und schüttelte den Kopf. Sie müsse krank sein, wenn sie auch noch so gut aussähe. Ich sprach mit ihm über die Krankheit und die Familie. Er ging zu den Eltern und ließ ein Rezept da. Die Eltern fragten uns erst, wo wir den Mann getroffen hätten. Dann ließen sie das Rezept machen. Schon am nächsten Sonntag konnte Rosa in die Kirche gehn, der Arzt wunderte sich, er begriff nicht, wie sich ein Mensch so wandeln konnte. Es war ein wunderbares Rezept. Rosa lebte neu auf, sie konnte sogar auf eine Kirmes zu Verwandten gehn. Auch andern Kranken in der Familie half es so gut.

Der Sommer war ein Glückssommer geworden, mein Geburtstag kam. »Ich schenke dir meine Gesundheit zu deinem Geburtstag!« sagte sie – »und noch etwas anderes!« Sie lächelte so lieblich und war so glücklich, wie nie im Leben.

Am Feste Mariä Geburt bekam sie einen Blutsturz.

Sie mußte liegen, ich durfte sie abends besuchen.

Wenn wir allein waren, flüsterte sie: »So schön hätten wir es nicht, wenn ich ganz gesund wäre! Jetzt darfst du neben meinem Bett sitzen!«

Harmlos und glücklich dämmerte sie dahin, hatte keine Schmerzen, hüstelte nur leicht und nahm das gebotene Essen mit Appetit an. Nur, daß ihre Backen noch röter wurden, konnte ein Krankheitszeichen sein.

In den ersten Oktobertagen schickte sie mich in den Wald, ich solle eine große Farnwurzel suchen und sie am Fuß des Stammes mit unsern Namen einpflanzen. Auf dem Rückweg solle ich das Maiglöckchenpflänzchen suchen. Am nächsten Sonntag ging ich hin, fand den Doppelbaum nicht mehr. Über eine Stunde lief ich umher, da sah ich endlich einen krummgewachsenen Baum, eine schräge Schnittstelle mit Lehm bestrichen. Der linke Baum mit meinem Namen stand noch da – der rechte war fort.

Ich taumelte zu der Lichtung, in der die Maiglöckchen standen. Ich fand den Stock an dem Pflänzchen stehn.

Wie sollte ich ihr das mit dem Baum sagen? Ich mußte es, ich konnte sie nicht belügen.

Als ich kam, hielt sie den Finger auf den Mund. Als die Eltern weggingen, sagte sie mit ganz leiser Stimme: es hat mich durchs Herz geschnitten, als die Burschen den Baum durchsägten. Ich sehe ihn im Ohler stehn, sie haben davon eine Schaukel gemacht, die Kinder spielen unter ihm. Es ist gut so. Und das Pflänzchen setzt du ein.

Im November starb sie, unerwartet. An einem Sonntagmorgen kam Mutter aus der Frühmesse, kam gleich zu mir ans Bett und sagte: »Weißt du, daß sie in dieser Nacht gestorben ist?«

Ich erwachte aus einem glücklichen, schönen Traum und konnte keinen Begriff vom Tod bekommen. Ich fühlte auch keinen Schmerz. Ich ging in die Messe, fühlte sie ständig um mich und sah sie lebendig die Wege gehn mit mir, in Erwartung meines Kommens, in der Einsamkeit. Am zweiten Tag, da sie aufgebahrt lag und viele Verwandte im Zimmer waren, sagte die Mutter: »Der Heini, das ist ihr wirklicher Freund gewesen!‹ Da konnte ich nicht mehr, ich lief in die Nacht hinaus und weinte.

Am dritten Tag machten wir Jungens den Weg zum Friedhof sauber, es war ein schlechter Feldweg. Wir füllten die Löcher aus und stießen die Kanten von den Karrenspuren.

Dann haben wir sie zum Friedhof getragen. Ich konnte nicht weinen, ich mußte an die Werkstatt denken, in der wir eine neue Arbeit vorhatten. Nie im Leben habe ich so an die Arbeit denken müssen wie in diesen Tagen. Unaufhörlich schrie es in meinen Ohren: »Weiter, weiter! Arbeiten, voran!« Das Leben hatte sich verändert, es geschah nichts mehr, mich interessierte nichts mehr, ich litt nicht und freute mich nicht.


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