Heinrich Lersch
Hammerschläge
Heinrich Lersch

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Ein Schritt in die Welt

Die Schulkameraden, die wir gelegentlich der Messe einmal trafen, hatten einen Fußballklub gegründet, sie luden mich ein, aber ich hatte keine Lust, am Sonntag hinter einem Ball herzurennen. Mein Bruder ging in die Turnabteilung des Jünglingsvereins. In der Werkstatt hatte er eine Reckstange angebracht und übte in der Woche. Ich war ein steifes Viertel und konnte nur über die Gelenkigkeit des Bruders staunen. Auch in mir erwachte der Ehrgeiz. Ich kaufte mir ein Turnkostüm und stellte mich mit in die Riege. Aber ich war nicht dazu geeignet. Nach dreimal vergeblichem Bemühn blieb ich zu Hause.

Im Frühjahr wurde auf dem Platz neben der Werkstatt Fußball gespielt, der Jünglingsverein hatte den Platz gemietet. Sonntags kamen sie in Begleitung ihres geistlichen Präses, in der Woche allein. Natürlich war mein Bruder sogleich dabei, ich merkte nach einigen Versuchen, daß ich keine Lunge für die Rennerei hatte. Nach und nach wurden Schlag- und Faustball gespielt, Rennbahnen abgestochen und Springlöcher mit Sand gefüllt. Die Geräte, die sie manchmal mitbrachten, stellten sie bei uns unter, weil sie sie den halbstundenlangen Weg nicht her- und hinschleppen wollten. Als Jungens aus der Umgegend die hölzernen Torstangen abbrachen und wegschleppten, bestellte der Präses neue aus Eisenröhren, die mit Zement eingegossen wurden. Auch diese wurden nach kurzer Zeit abgerissen. Da mieteten die Spieler einen andern Platz.

Ich ging Sonntagsabends mit in das Jünglingsheim und spielte dort mit Altersgenossen Mühle. Da waren eine Menge Spiele, die ich nicht kannte, und auch eine Bibliothek: ich las in einem Buch von Karl May. Das gefiel mir so, daß ich jeden Sonntag mich hinsetzte und las. Eines Sonntags traf ich einen früheren Mitschüler, der auf dem Gymnasium war. Wir sprachen mit einander, er merkte bald, daß ich lieber überall in der Welt als in meinem Elternhaus sei. Er war auch schon in Holland gewesen, wollte nach Italien, und wenn er erst das Examen habe, dann sei die Welt für ihn zu klein. Er ginge dann auf Reisen. Das könnte ich doch auch tun. Als Handwerker fände ich doch überall Arbeit und könnte bleiben, wo es am schönsten sei. Bei einem andern Zusammentreffen holte er einen Atlas aus dem Bücherschrank, er zeigte mir die Städte und Länder in Bildern, erzählte, was er wußte, und wir waren einige Sonntagabende Weltreisende auf dem Papier.

Nach diesen Sonntagabenden gingen die Jungens noch in eine Wirtschaft und tranken Bier. Da waren Jungens, die wunderbar singen konnten, ein Geiger, ein Klavierspieler; ein anderer Schulkamerad war Lithograph geworden und machte lustige Karikaturen von den Haupthähnen. Seitdem ich den Burschen auf der Geige spielen gehört hatte, war mit mir nichts mehr los, ich dachte immer nur an die Geige und die Melodie, dann aber wieder an die Krankenschwester und an die tote Rosa. Besonders wenn ich müde vom Arbeiten war, dann kamen mir die Bilder vor die Augen, die ich einmal in den merkwürdigen Nächten gesehen. Wie sollte ich aber in dem Krach und Zank zu Hause weiterleben? Ein Zimmer, wohin ich gehn konnte, hatte ich nicht. Ich gehörte überhaupt nirgends mehr hin. Auf einmal dachte ich wieder an meine Baumhöhle im Wald.

Am nächsten Sonntagmorgen nach der Messe zog ich los, es war im Vorfrühling, die Krähen flogen über die frischgepflügten Äcker, die Sonne schien durch den Nebel, fern lag die Stadt, unter deren Schornsteinen und Fabrikdächern ich mich quälte. Ich hatte weder Ruhe zum sitzen noch liegen, der Wald war mit den Stämmen und Bäumen ein Gitter, ein Gefängnis. Ich ging auf die Straße, die Weite der Felder beruhigte mich, das Rauschen der Waldes wurde zu Melodien, ich ging weiter von Hause fort und fühlte mich bei jedem Schritt wohler. Nun läutete es Mittag von den Türmen.

Nun sollte ich wieder in die Familie zurück? In den Streit um Geld und Arbeit, in das Gerede von Morgen und Übermorgen? Wenn ich nur einen Freund gehabt hätte, dem ich mich anvertrauen konnte. Das ging ja keinen Menschen an, daß ich so unglücklich war.

Jetzt wußte ich es selber, ich hatte kein Glück. Alles war Elend und Häßlichkeit, voll Widerspruch und unbegreiflichem Widersinn. Ich mußte irgendwohin, wo es keine Menschen gab, wo keiner von mir etwas verlangte. Ich war die Werkstatt satt, den ewigen Kampf mit den Schulden; ich konnte nicht einmal, wie die andern Jungens, in einem modernen Anzug erscheinen, meine Schuhe waren grob, mein Hut alt. Das Geld zum Wirtshausgehn nach den Spielabenden war mir zu schade, es war zu sauer verdient.

Auf dem Heimweg zwischen den Feldern vergaß ich mein Elend, die Sonne schien jetzt klar und warm, ich roch den Duft des nahen Waldes und sah das Licht über den Äckern. Am Waldrand setzte ich mich auf einen Baumstumpf, schloß die Augen und sah auf einmal den blauen Himmel über einem ebenso blauen See, den der Student mir auf einer Postkarte gezeigt hatte. Weiße Häuser standen vor hohen Zypressenbäumen und um Säulen rankten Reben mit mehr Trauben als Blättern.

Das war der Süden.

Wenn man hinwollte, mußte man erst über die Schweizer Alpen; dort war es kalt und rauh. Dahinter aber lag Marseille, die große Hafenstadt, da fuhren Schiffe, auf denen ich als Heizer arbeiten konnte.

Dann kam erst die Welt.

Wie gerne wollte ich arbeiten! Aber nicht in der Bretterhöhle zu Hause, nicht nur an alten Teerkesseln und Wasserbehältern. Nicht immer in den Rauchgängen und Flammrohren, ich wollte arbeiten an Seeschiffen und Gasometern, Geld verdienen und Geld nach Hause schicken. Der Bruder konnte die Arbeit jetzt allein mit einigen Gesellen machen.

Wie aber sollte ich es der Mutter sagen? Dieser guten Mutter, die jahrein, jahraus stumm litt und auf uns Jungens an gewiesen war. Die tausendmal gesagt hatte: »Wären die Kinder erst so groß, daß wir die versoffenen Kesselschmiede nicht mehr nötig hätten!« Jetzt war ich grad groß – nun wollte ich auch schon fort.


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