Heinrich Lersch
Hammerschläge
Heinrich Lersch

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Es war ein nasser Juni

Vor den Gewittern und Regenstürmen flohen wir unter die Bühnen und machten einzupassende Träger und Platten fertig, schusterten Geländer zusammen, und als die stürmischen Güsse sich in dünnen Fadenregen verwandelten, hängten wir uns Säcke über die Schulter und stiegen wieder hinauf. Manche Stunde blieb mir, um durch die Fabrik zu streifen; ich hörte in unheimlichen Ecken Maurer und Hofarbeiter, die sich dorthin vor dem Regen verkrochen und an den heißen Mauern ihre Sachen trockneten, wie Verschwörer reden. Aber es war keine Verschwörung gegen den Kapitalismus, es war nur ein billiges Schimpfen auf Meister und schlechte Zeiten. Es war eine Verschwörung gegen die Traurigkeit des Daseins, gegen die furchtbare Langeweile der zehrenden, würgenden Armut, die der Freude, welche alle Lust der Welt einsaugen wollte, den Hals zuhielt. Da brauchte es keine predigenden Priester, die dem Arbeiter den Blick von der großen Welt, die zu erobern war, auf die Kleinigkeit ablenkte, die den Menschen sündhaft machte. Wenn ich, Katholik, mit der Sünde als Manko und Fehler rang, so rangen diese Arbeiter mit der Lust wie mit einem störrischen Gaul; sie peitschten die verhungerte Sünde, die ausgedörrte Leidenschaft mit Anekdoten, Zoten und Erzählchen hoch. In Pfützen von Bier und Schnaps, schmutzig von Kohle und Eisenstaub plätscherte die alte Dirne Lust dahin. Mit dem Vertrauensmann, den ich öfters in der Gaststube meines Quartiers traf, sprach ich einmal über diese Erfahrung. Er antwortete heftig und verbittert: »Schnaps, Bier und Weiber, das ist es was die herrschende Klasse den armen Menschen erlaubt; die Sprache der Zote und das Torkeln der Betrunkenen ist ihr lieber als die harte Sprache der Wahrheit und der aufrechte Gang der Kämpfenden. Das politische Lied ist das garstige Lied, aber der Gassenhauer im Munde der Proleten, das ist Musik für die Ohren der Herren. Darum, Kollege, muß man den Menschen ein Ziel zeigen, ein Ziel, daß sie erreichen können; sie sind ja so verflucht bescheiden, die Arbeiter. Kirchen und Tingeltangel, Beichtstühle und Puffs halten die alte Welt zusammen. Wir müssen mit diesem Menschenmaterial arbeiten, es ist nur eine Schande, daß ihr jungen Kerle uns im Stich laßt.«

Manchmal, wenn ich mit den grauen Massen ins Werk ging, mit den müden Gestalten, die erst an den Feuern, an den Walzen, an den Hebeln wieder durch den eignen Schweiß lebendig wurden, kam ich mir wie ein Kind vor. So jung und fröhlich war ich noch nie gewesen, nebenbei fühlte ich mich reich: in meinem ledernen Brustbeutel steckten zwei große und ein kleines Goldstück. Es gab Wochen, in denen ich, weiß Gott für welche Zuschläge, fünfzehn, zwanzig Mark über den Lohn bekam.

Wenn ich am Feierabend dann ging, sauber gewaschen, in guten Schuhen, die ich mir neugekauft hatte, in breiter Manchesterbuxe, schwarzem Samtrock und einem Hut, latschig und flutschig, dessen Ränder bis auf die Schulter fielen, dann kam ich mir wie ein Mann vor. Ich stieg vom hohen Ofen hernieder und ging an den Walzwerken vorüber. Ich ließ mich mit dem fertigen Material aus der Fabrik hinaustreiben, mit den Reihen von beladenen Waggons, Waggons mit Schwellen und Schienen, mit Trägern und Winkeln, mit Draht und Rundeisen, mit Blechen und Platten. Hunderte Waggons lagerten noch in den Hallen, hunderte waren in der Herstellung, hunderte rollten ab und von allen Seiten kam neues Material heran. Niemand konnte den Reichtum erfassen wie ich, ich wußte ja, wie schwer so eine Tonne Eisen erarbeitet wurde. Tausend Kilo: dafür verriet mein Vater seine Seele, gab meine Mutter ihre Ruhe hin, wir unsere jungen Knochen. Tausend Kilo Eisen, hundertundzwanzig Mark, eine Unsumme von verhämmerten Arbeitsstunden, ungegessenem Brot, ungetragenen Anzügen, eine heilige, erdarbte, erschwitzte Summe Geld. Hier lagerten Tonnen auf Tonnen, hunderte, tausende Tonnen, Millionen Tonnen gingen hinaus aus den Werken. Jede Tonne brachte den Reichtum der Welt hinein in die säuberlich vom Betrieb getrennten Kontore, jede Tonne schwemmte hinaus die Unsumme von Arbeit, Schweiß, Verzweiflung und verbrauchtem Leben.

Am Morgen trieb ich mit der Fülle von Erz und Koks in die Hallen hinein, die großen Kübel der Hochofenbeschickung, stiegen mit mir hinauf; die Schlackenpfannen rollten zu den Halden, ich stieg hoch und höher dreißig Meter hinauf.

Einmal stand ich schon beim Sonnenaufgang auf dem höchsten Träger, immer noch eine Leibesgröße höher als alles andere. Da kam mir die Rede in den Sinn, die der wilde Schorsch am ersten Tag gehalten hatte. Da sah ich, wie diese ganze Welt unsere Welt wurde, wie aus den müden, zermürbten Alten freundliche Männer wurden, wie die jungen Leute, die der Feierabend in alle Weiten zerstob, sich in einen Trupp Pioniere verwandelten, der singend das Werk verließ, eine Wolke von Freude, Hoffnung und Gewißheit verbreitend. Dann würde die rote Fahne auf allen Fördertürmen, Hochöfen und Schornsteinen wehen, eine rote Fahne auch an dem Träger, auf dem ich jetzt stand. Wenn dieser Tag kommen sollte, wie würde ich noch einmal den Hochofen hinaufklettern, noch höher, über mich hinaus diese Fahne recken, die Fahne der Arbeiterschaft, die Fahne der Freiheit.

Nun, jetzt stand nur ich hier. Und im nächsten Augenblick stand ein anderer neben mir. Ich sah eine Hand, die über die Städte, über das Land, über den Rhein hinwies, die Hand legte sich auf meine Schulter, ich hörte eine Stimme, die Stimme sprach:

»Dies alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.«

Es war eine feine Hand, eine Hand, die nie von der Arbeit gepreßt war, es war die Hand der Eisenhändler, Fabrikanten, Priester, die Hand der feinen Leute.

Unsichtbar drängte mich jemand zur Seite, wie der Wind packt und drückt, losläßt, weiterstößt – ich hatte kein Geländer mehr, ich stand allein. Mir wurde schwindlig, die Tiefe schwankte, die Höhe fiel.

»Schorsch! Schorsch!« schrie ich.

Von meinem Rufen kam ich zur Besinnung.

»Mensch, da oben ist doch nichts los!« rief der Schlosser, der mit der Leiter zur Seite rückte. Ich ging nun wieder sicher, bis ans Ende des Trägers, faßte den Aufzugsmast mit beiden Armen und ließ mich rutschend niedersinken.

Eines Morgens, kurz vor der Frühstückspause kam der Meister aus der Kesselschmiede. Seine Stimme überschlug sich: »Sie, Kesselschmiede, Sie gehören gar nicht mehr in meine Abteilung, sie gehören zur Kolonne Baumann von dem Brückenbau. Mir sind die Leute weggelaufen, laufen sie nicht auch weg!«

»Was ist los?« fragte Wolfen.

»Der Lessenich kommt schon hinter mir her, nun hab ich fast keinen Mann mehr da, ihr drei – Sie, Zwielert, Sie Lersch, Sie bleiben doch auf jeden Fall hier, Sie haben ja nichts mit der Bude zu tun. Also, seit Wochen ist die Sache mit dem neuen Akkord schon in Ordnung, von den Vertretern der Arbeiterschaft begutachtet und für gut befunden. Jetzt, jetzt sollen sie unterschreiben, ich trau meinen Augen nicht, da springt der Vertrauensmann auf einen Kessel und schreit: »Streik!« Kollegen, ruft er in die Bude hinein, »Kollegen, jetzt soll jeder von euch für sich unterschreiben, daß ihm der neue Akkord recht ist; wir haben ganz was anderes abgemacht, wir haben für die ganze Bude und alle einen Akkord ausgemacht, der soll jetzt nicht für alle gelten! Entweder unterschreiben wir einen Gesamtakkord, der für alle gültig ist, oder keiner unterschreibt. Vorläufig gehn wir mal alle raus aus der Bude, mal sehn wer hier bleibt!« In den Streik sind sie getreten, alle, bis auf die Christen und die vom Gewerkverein!«

»Ne, auch die Christen sind mit raus!« sagte der Vertrauensmann, der schon gekommen war. »Nun macht ihr mit euren Hirschen den Kram allein fertig. Sie, Meister Lonnert, Sie müssen es ihren Herrschaften klarmachen, daß wir nur in Einigkeit und Kollegialität einer für alle und alle für einen handeln.« – Er trat vor mich hin. »Ihr, na, ob ihr nun der Form nach zu Baumann gehört oder zu uns, daß ist ganz egal. Ihr habt bis heut Mittag Zeit, dann könnt ihr, wenns nicht anders ist, den Sympathiestreik erklären.

»Das kann ich jetzt schon tun«, sagte ich, »ob ich nun hier oder in der Bude bin, zu euch gehör ich doch!«

»Kesselschmied, das dürfen Sie mir nicht antun, ich muß Sie doch bitten, wir sind Reparaturwerkstätte, Sie sind Kolonne Baumann.«

»Niederrhein bin ich!« sagte ich entschlossen und ging in den Verschlag, mich umzuziehn.

»Wenn die Direktion aber Recht hat!« sagte der Meister und kam auf den Verschlag zu.

»Für mich hat der Arbeiter auf jeden Fall recht!« entgegnete ich.

»Aber Sie haben noch bis Mittag Zeit!« meinte er.

»Die Kollegen können es nicht früh genug gewahr werden, daß ich zu ihnen stehe.«

»Das hätt ich von Ihnen nicht erwartet, Meisterssohn. Kaum in der Fabrik, schon von den Sozialdemokraten verdorben. Wären Sie rechtzeitig in die richtigen Hände gekommen.«

»Ich habe meine Hände mit den Händen der Kollegen verbunden!«

»Verrückter Kerl«, lachte der Monteur, »lassen Sie ihn laufen, Meister, er ist ein Junge, ein Kind.«

»Warte bis Mittag«, sagte Wolfert, der mit Lessenich sprach.

»Mittag ist, wenn das Essen gar ist!‹ sagte ich und stiefelte die Treppen hinunter.

Vor dem Portierhaus standen noch große Gruppen, an sechzig Mann waren gegangen, zehn oder zwölf sollten noch in der Bude sein.

Ich hatte keine Zeit, mich länger nach dem, was kommen sollte, zu erkundigen. Ich mußte nun nach Hause, ich mußte schreiben, ein Gedicht, ein gewaltiges Gedicht schreiben; nie im Leben war ich so erschüttert worden, es war das erste große Ereignis. Hier war ich mit dabei, hier konnte ich etwas mittun; alle Arbeit, die ich bisher getan, sie hatte niemand interessiert. Nun aber gehörte ich zu siebzig Männern. Vielleicht vergrößerte der Streik sich, in allen Fabriken und Bergwerken geschahen Ungerechtigkeiten; wenn sie dann einen Zug durch die Straßen machten, da würde ich die Fahne tragen, vorneanmarschieren.

Ich kam ins Quartier und holte mein Notizbuch heraus, setzte mich hin und schrieb. Mit hundert Händen hätte ich schreiben mögen, von allen Seiten stürmten Worte auf mich ein, alles verwandelte sich zu Worten: die Hitze an den Martinöfen, die gepreßte Luft in dem Kessel bei der Kompressoranlage, die Tonnen mit Erz und Koks, Kohle und Eisen, die Pflastersteine auf der Straße, die Hauswände, Räder und Achsen. Ich hatte keine Zeit zu reimen, Gott und Teufel stritten miteinander, Satan und Mammon; da tönten die Tuten der Fabriken, – ich dachte, es wäre schon Abend gewesen, es war erst Mittag – vor zwei Stunden sollte ich noch auf dem Hochofen genietet haben? Vor zwei Stunden? Das war eine Ewigkeit her, ich war ein streikender Arbeiter, das war ich von Herzen immer gewesen! Ich bin nicht vor dem Mammon niedergefallen, – trotzdem ich fünfzig Mark bar Geld hatte –, ich stritt gegen ihn!

Auf einmal stand Schorsch mit Lessenich in meinem Zimmer.

»Das mußt du doch zugeben, Schorsch, was wir jetzt machen, bleibt! Die Herren hätten sonst was sie wollten, einen Haufen Einzelner, mit denen sie machen können, was ihnen gefällt. Sie fangen an, bei jedem einzelnen jede Woche ein paar Pfennige herunterzudrücken, zuerst bei den Dummen und Friedlichen und nachher auch bei uns. Auf einmal verdienen wir mit der Preßluft genau so wenig oder so viel wie mit der Hand – trotzdem es viel anstrengender ist. Frage die andern Kollegen.«

»Aber ein Streik muß organisiert sein, ein Streik mit sechzig Mann – hättet ihr vorher mit den Kollegen aus der Branche –«

»Er ist doch ausgebrochen, der Streik!«

»Ein Streik mit sechzig Mann ist kein Streik! Dazu ist das Mittel Streik zu schade. Macht aus der Kanone Streik kein Terzerol um Spatzen zu schießen! Jeder Streik muß eine Etappe auf dem Weg zum großen Generalstreik sein, der ...

»Mensch, fängst du davon an, wir haben eine gewerkschaftliche Sache und du redest vom politischen ...«

»Das ist es ja eben, ihr trennt, was unlösbar verbunden ist!«

»Wir können uns doch jetzt nicht über Prinzipien zanken!«

»Ihr zankt!«

»Anarchist du, für eure Ideen ist es noch zu früh!«

»Kleinigkeitskrämer, ihr kommt immer zu spät!«

»Aus Kleinigkeiten entstehen große Wirkungen!«

»Ein paar Pfennig mehr in der Lohntüte!«

»Schorsch, glaub mir, die Wirklichkeit ist anders. Deine Ideale, eine revolutionäre Arbeiterschaft, ein Proletariat, vom Klassenbewußtsein durchdrungen, voll Schlagkraft, auch unser Ideal – es ist noch nicht erreicht.«

»Es wird nie erreicht, wenn ihr den Arbeiter von Fall zu Fall mit ein paar Pfennigen zufrieden stellt. Lieber ein verlorener Streik, der das Volk wachschlägt, mit einem gewaltigen Schlag die Augen für die Situation öffnet, als solche totsichern... Wer glaubt, mit Siegen den Weg zum Erfolg zu pflastern, der wird unterliegen. Offen und ehrlich will ich bekennen, es tat mir leid, wenn – euch das gelingen sollte, bald gelingen sollte. Macht, was ihr wollt, ich rede heut Abend in Hamborn. Ich geh auch zu den Bergarbeitern, überall liegt Zündstoff, vielleicht platzt die Bombe, wenn wir mit der Fackel –«

»Schorsch, red nicht so große Töne! Komm, trinken wir einen Schnaps, damit du bei Verstand kommst.«

Sie gingen zur Tür. Schorsch sah sich noch einmal im Zimmer um. Sah mir zum erstenmal seit Wochen in die Augen.

.,Was machst denn du da?« fragte er lässig, wie es seine Art war, hinüber.

»Ich streike!« sagte ich einfach, und glaubte ihm zu imponieren.

»Dann wird ja alles gut gehn!« Er lachte aus vollem Hals, aber nicht bitter, sondern überrascht. »Kommst du zum Essen herunter?«

»Selbstverständlich!« sagte ich und schrieb doch weiter.

Als sie die Türe schlossen, mußte ich über die heftigen Worte der beiden nachdenken. Da stritten sich zwei, die eigentlich eines Herzens und eines Sinnes waren. Da mußte ich doch tiefer hineinsehen, mußte besser zuhören, eh ich begriff, um was es sich handelte. Ich ging zum Essen.

Seit acht Tagen war ich immer dabei: ob eine Versammlung hier, im Verkehrslokal oder im Volkshaus stattfand, ob Schorsch nach Hamborn ging, oder bis Mitternacht zu den Bergarbeitern redete, die den radikalen Schorsch besser verstanden als die Kollegen bei den Metallarbeitern. Er war, wie bei uns, nicht nur geliebt, sondern auch gehaßt. Ich verstand zwar nicht recht den Sinn dieser Streitigkeiten, die, das erfuhr ich doch, in Berlin so gut wie in Sachsen, in Oberschlesien wie in Hamburg die Arbeiterschaft entzweiten. Soviel wurde mir aber klar, daß Schorsch zu einer Minderheit gehörte, die überall niedergestimmt wurde, trotzdem ihr augenscheinlich meistens recht gegeben wurde.

Ich kümmerte mich nicht allzuviel um diese Familiendinge in den Gewerkschaften. Von zu Hause war ich zu viel Streit gewöhnt, ich haßte den Streit. Schorsch war für mich im Recht. Mochten die andern sagen, was sie wollten.

Eines Tages, es war am zehnten Tag, kam ich mit Schorsch an der Portierbude vorbei. Der Bello, wie ihn die Kollegen scherzhaft nannten, gab mir eine Karte, die seit acht Tagen für mich dastand. Der Portier grinste, als ich sie Schorsch zeigte. Ich sollte mir beim Monteur die Papiere holen kommen, da ich ohne Grund die Arbeit niedergelegt und mich nicht entschuldigt hätte. »Da wirst du nichts machen können!« sagte Schorsch, »wenn du mit Einwilligung des Meisters zu der andern Firma übergetreten bist, so mußtest du dich vorher krank melden oder sonst eine Viole schieben. Na, dann hol dir nur Geld und Fleppen, ich warte.«

»Das kann ich auch morgen tun«, sagte ich und zog kleinlaut mit Schorsch weiter. Ich hatte keinen Mut, auf den Hochofen zu klettern; nun sollte ich von der Arbeit Abschied nehmen? Jetzt, wo ich so schön verdiente? »Ja, das hättest du dir vorher überlegen können!« meinte Schorsch, »da kann dir kein Gott und kein Teufel helfen!«

Nun mochte ich auch nicht länger bummeln. Ich ging ins Quartier, dort lagen zwei Briefe meiner Mutter, die ich noch nicht geöffnet hatte. In dem ersten, den sie nach acht Tagen schrieb, beschwor sie mich, nur nicht zu den gottlosen Sozialisten, sondern in den Gesellenverein zu gehn.

Diese Mahnung traf mich ins Herz, mein Verstand stritt dagegen. Wenn ich mich schon organisierte, so wollte ich in den großen Verband der roten Arbeiter gehn. Ich war ja kein Meisterssohn mehr, ich war ja ein Arbeiter, der für die Freiheit zu kämpfen hatte.

Ich machte den andern Brief auf. Es waren hoffnungsvolle Zeilen mit Aussicht auf viel Arbeit und guten Verdienst. Ich solle mir nur keine Sorgen um Haus und Werkstatt machen, ich solle nur sorgen, daß ich ihr, wenn ich nach Haus kam, als reiner Mensch in die Augen sehn könne.

Nach Haus wollte ich nicht, ich kaufte mir einen Rucksack, packte die Sachen, die ich unterwegs brauchen wollte, hinein und fing wieder an zu schreiben. So traurig ich war, auf dem Papier standen jubelnde Worte von Freiheit und der großen Welt. Ich war bloß mit dem Herzen traurig, mit meinem Geist frohlockte ich, als hätte ich einen großen Sieg gewonnen.

An dem Abend ging ich in ein Kino. Auf der Leinwand und im Saale wurde heftig geküßt und gelacht. Ich fühlte mich auch hier ausgeschlossen. Auch für die große Genossenschaft der Küssenden und Geküßten hatte ich kein Mitgliedsbuch. Ich trank nicht mit den Trinkern und spielte nicht Fußball. Ich war ein Einsamer, trotzdem ich fast neunzehn Jahre alt war. Am nächsten Morgen holte ich mir das Geld, die Papiere und die Kleider. Sobald würde ich nicht mehr auf einen solchen Hochofen steigen. Gut! Wenn ich wiederkomm, komme ich, um die rote Fahne auf den höchsten Träger zu stecken!

Dann ging ich zum Polizeiamt und meldete mich ab. Stolz schrieb ich auf den Zettel: Auf Wanderschaft! In Köln meldete ich mich auf dem Arbeitsnachweis Klingelpütz und bekam Arbeit in der Schiffswerft bei Deutz. Mit dem Boot fuhr ich über den Rhein und wurde angenommen. Ein Quartier war in der Umgegend nicht zu bekommen, in Mühlheim traf ich einen Bekannten, der im Gesellenhaus wohnte. Er nahm mich mit und legitimierte mich als Mitglied des Jünglingsvereins, ich brauchte von diesem nur in den Gesellenverein überzutreten und bekam als Mitglied ein Gesellenzimmer mit voller Kost für sieben Mark die Woche. Das war sehr billig.

Am nächsten Morgen ging ich mit den vielen Arbeitern den Weg am Rhein entlang, immer über die Mauer, an den Schiffen vorüber, eine halbe Stunde bis ans Werfttor. Ich meldete mich beim Meister, bekam Werkzeugmarken und eine Eisenkiste voll Geschirr. Er brachte mich selbst an ein Schiff, daß schon genietet war, aber noch gestemmt werden mußte. Tausende von Metern waren zu verarbeiten, an dreißig Mann klopften bei den Nähten.

Wie Spielerei kam mir die Arbeit vor; nette, kleine Stemmarbeit, mit dem Handhammer auf den Meisel zu klopfen; mit bloß zwei Stemmern wurden die Nähte fertig gemacht.

Am Abend fragte ich die Kollegen nach dem Akkord.

»Mensch, der ist längst heidi, daran ist nichts mehr zu verdienen, die Arbeit geht schon vier Wochen über die Zeit. Meinst du, sonst hätten wir Leute nötig gehabt?«

So kam ich denn nicht über vierzig Pfennig Stundenlohn hinaus, ob ich wütete wie ein rennender Hase oder im Schneckentempo dahinstrich: Die Sonne schien, der Tag war schön, wir machten über Mittag eine Überstunde.

Am Morgen des dritten Tages kam ein Kollege und gab mir einen Zettel, der wie ein Straßenbahnbillet zusammengefaltet war: »Den gibst du mir morgen wieder zurück!« sagte er und verschwand, als hätte er mir eine heimliche Botschaft gebracht. Ich steckte den Zettel in die Tasche. Der Meister kam, und überzeugte sich, wie mir die Arbeit von der Hand ging. Er besah sich die Nähte, kam zurück und fragte mich nach meiner Lehrwerkstatt; als ich ihm erzählte wie es zu Haus war, meinte er, da könnt ich doch auch andere Sachen als bloß Nähte kloppen, er wollte sich nach besserer Arbeit umsehn.

Im Gesellenhaus wohnte ich in einem eignen Zimmer. Morgens war eine lange Tafel gedeckt, große Kannen Kaffee standen zwischen mächtigen Brodtellern, frische Brötchen in Körbchen. Gleich zum Frühstück gab es lustigen Lärm, Anekdötchen über Meister und Mitgesellen wurden belacht, es trafen sich Burschen, die in Breslau und Hamburg, in München und Freiburg, in Luzern und Rom am gleichen Frühstückstisch gesessen hatten. Bald wußte ich, welche Eigenarten der Hausmeister in Bingen an sich hatte, und daß man in Göppingen um zehn Uhr abends zu Haus sein mußte.

Weil ich anstatt des Mittagessens Extrabrote bekam, ging ich noch an den Küchenschalter und bekam dort ein verschnürtes Eßpaket, am Speisesaalausgang stand eine große Kiste mit den gewöhnlichen Frühstückspäckchen. So mit Futter beladen, ging ich die etwas steile Franzstraße hinan und sah nach wenigen Minuten den Rhein im Morgenlicht fließen. Frühe Angler saßen vor den Blöcken, an die die Schiffe festgebunden waren, regelmäßig zogen Fischerboote mit braunen Segeln und hängenden Netzen mit mir auf Deutz zu. Die halbe Wegstunde war immer eine Freude, ich fühlte mich vom Wasser angezogen; wenn ich abends das erste Stück Straße zwischen den Häusern von Deutz zurückging, machte ich Schnellschritt, bis ich wieder frei über die breite Fläche des Rheines sehn konnte. Dann zog ich langsam, gemächlich dahin, beim Anblick des Stromes verging mir die zehrende Lust auf das warme Abendessen.

Die Arbeit zählte kaum, es war dümmste, glatte Arbeit; wenn ich nicht so billig hätte wohnen können, wär mir vom Wochenlohn nicht viel übrig geblieben. Am Freitagabend sagte der Präses im Gesellenhaus, ich solle mir vom Vorstand meines Jünglingsvereins eine Bescheinigung geben lassen, daß ich Mitglied sei, damit ich hier ordentlich eingetragen werden könnte. Gleich darauf kam der Vertrauensmann der christlichen Gewerkschaften und fragte mich in Gegenwart des Präses, ob ich im Verband sei. Er wolle mich gleich aufnehmen. Ehe ich antworten konnte, wurde er abgerufen, ich stand allein und machte mir Gedanken. In meiner Tasche steckte noch der Aufnahmeschein des roten Vertrauensmanns.

Ich ging zum Hausmeister und ließ ihn nachsehn, ob in der Hausliste noch ein Kesselschmied eingetragen war. Er fand nur Schlosser, Dreher, Klempner; ich ging zum Vertrauensmann und sagte ihm, daß ich noch keinen christlich organisierten Kesselschmied getroffen hätte.

Daraufhin sah er in seiner Liste nach, er fand einen, der in meiner Werft arbeitete. Ich schrieb mir den Namen auf: Josef Firmenich. Gleich am nächsten Morgen fragte ich beim Portier nach ihm. Ich wartete, bis er kam. »Heiliger Josef, da wartet ein Christkindchen auf dich!« so stellte er uns vor. Ich sagte dem Kollegen, daß ich im Gesellenverein wohne und jetzt zwischen rot und schwarz wählen müsse.

»Als Christ hast du hier die Hölle! Ich bin jetzt zwölf Jahre hier, an mich haben sie sich gewöhnt, ich bin auch außerhalb des großen Betriebs, ich bin Magaziner, weil ich durch einen Unfall lahm wurde Noch jeden Christen haben sie herausgeekelt oder plattgeschlagen für ihren Verband. Roter Verband und katholisches Gesellenhaus – das geht nicht; es gibt Burschen, die im roten Verband sind und im Gesellenhaus wohnen, aber wenn du in der Gewerkschaft bist, fängt die Agitation für die Partei an. Am besten ist, du suchst dir andre Arbeit, die Werft ist die rote Domäne von Köln Sobald sie dir zu arg auf den Pelz rücken melde dich beim Ingenieur. Nun geh, wenn sie dich mit mir sehn, hast du schon ausgepfiffen.«

Bis Samstagmittag dachte ich über die Sache nach. Es wurde durchgearbeitet, damit um vier Uhr Schluß sein konnte Während ich mein Brot auf der Faust hatte, kam der rote Vertrauensmann.

»Den Zettel!« sagte er und hielt die Hand auf.

Ich gab ihm das Papier, er ging.

Gleich darauf kam ein schwarzschnurrbärtiger Kollege. »Ich bin aus Jülich, also aus deiner Heimat; ich hörte, daß du im katholischen Gesellenhaus wohnst. Da bist du also ein Frommer. Das war ich auch. Allerdings, in deinem Alter schon nicht mehr. Es tut mir so leid, wenn ich einen Landsmann in den Klauen der Kirche sehe. Du weißt sicher nicht, was die Kirche ist. Hat euer Pastor nicht einen dicken Bauch?«

»Kennt Ihr ihn?« fragte ich.

»Ich kenne sie alle! Sagt er nicht, daß der Sozialismus ein Werk des Antichrist ist, die Sozialisten Seelenverderber sind und von jedem anständigen Menschen gemieden werden müssen? Sagt er nicht, daß jeder anständige junge Mann lieber Arbeit und Brot aufgeben müsse, lieber hungern und betteln, als in Gemeinschaft von Sozialisten arbeiten?«

»Das hat er nicht gesagt.«

»Dann wird er es dir sagen, sobald er weiß, daß du in einer großen Fabrik arbeitest. Weißt du, warum diese Priester für dein Seelenheil und deine Unschuld sorgen? Nein? Ich sag es dir: weil sie sonst keine Schäflein zu betreuen haben und der Staat sagt: »Ich bezahl euch nicht länger, ihr müßt euch nach einem andern Verdienst umsehn, ihr müßt arbeiten, wie die andern Menschen auch.« Wenn sie aber ihre Schäflein zu geduldigem Kanonenfutter für die Preußen und zu noch geduldigem Industriefutter für die Kapitalisten erziehen, dann kriegt so ein Pfarrer im Monat ein Gehalt, wie du es nicht in einem ganzen Jahr verdienen kannst. Hier, ich geb dir den Pfaffenspiegel, es ist ein teures Buch. Statt am Sonntag in die Kirche zu gehn, liest du es durch. Hast du es einmal gelesen, dann fängst du von selbst wieder von vorne an. Aber paß auf, daß du nicht dann gleich in deiner Wut auf die Pfaffen in die Kirche pinkelst und dem Pastor einen Haufen auf die Pastoratstreppe machst. Das ist strafbar. Du kriegst eine Wut sag ich dir – kommst gleich am Montag gelaufen und sagst: »Genosse Hommen, schreib mich gleich als Mitglied in den Freidenkerverein auf. Ich will mein Leben lang gegen dieses scheußliche Pfaffentum kämpfen!« Er griff nach meiner Hand, drückte sie und sah mir begeistert in die Augen, legte mir das Buch auf die Knie und ging.

Ich legte das Buch ins Butterbrotpapier und steckte es in den Werkzeugkasten. Es tutete von der Werkstatt her, ich griff nach Hammer und Stemmer, um an die Arbeit zu gehn.

Die Kollegen saßen noch auf den Brettern und erzählten miteinander; als ich weiterarbeiten wollte, lachten sie. Einer sagte: »Ne, jetzt wird Ordnung gemacht. Aufgeräumt, Werkzeug Umgetauscht, abgegeben, was du an der Ausgabe geliehen hast, Meißel geschliffen. Hast du deinen Arbeitsplatz sauber gemacht, dann bist du fertig. Das geht alles auf Kosten der Firma; dafür sind wir organisiert, daß wir die neuen Rechte des Arbeiters erkämpfen und die alten Rechte bewahren. Du bist wohl noch nicht im Verband? Erzähl mal, wo du herkommst, damit wir wissen, was wir von dir zu halten haben! Wo hast du gelernt?«

Ich schilderte ihnen unsere Werkstatt, verschwieg nicht einmal, daß ich des alten Vaters wegen hinausmußte, – gleich unterbrach mich jemand: »Da hast du dich umsonst geopfert, wenn der Alte einmal eifersüchtig ist, ist er es auf jeden und alle! Schlag ihn tot!«

Ich zog die Erzählung in die Länge, sie fragten nach Einzelheiten der Werkstatt, ich gab Bescheid. Mein Nachbar unterbrach mich: »Marx hat von den Zwischenmeistern geschrieben, es ist eine unglückliche Sache, sie werden nicht so bald verschwinden. Erinnerst du dich, im Kursus, als wir vom Handwerk dran waren?«

»Was soll er machen?« fragte ein anderer.

»Das kommt auf seine Weltanschauung an!« meinte ein Dritter. »Entweder begreift er den historischen Materialismus und seine Entwicklung, dann wird er sich geschäftlich spezialisieren. Oder, er bleibt in seinem Handwerkerfimmel und würgt sich zwischen Gott und Kapital kaputt. Einen zweiten Weg gibt es nicht. Am besten ist, er versäuft seinen Anteil und wird Arbeiter.«

»Dann wird er Meister werden, denn er hat ja allerhand gelernt!«

»Kann er bald nicht mehr brauchen!«

»Zum Antreiber wie geschaffen!«

Da widersprach ich. Wer selber mitschuften müsse, der könne nicht Antreiber spielen. Weder zu Hause noch in einer Fabrik.

»Wenn der höhere Lohn und die gesicherte Stellung kommt, kommt die Bestie im Menschen von selbst!«

In diese Reden und Gegenreden platzte der Vertrauensmann hinein:

»Blamiert hat mich der – Saujunge!« Er legte den Aufnahmeschein auf das Brett und faltete ihn auseinander: »Ich will die Neuaufnahmen eintragen, geb dem Kassierer die Scheine, laß ihn die Namen lesen, da gibt der mir einen Rippenstoß und lacht: »Der Kesselschmied Lersch hat den Zettel wohl ausgefüllt, aber nicht unterschrieben! Da hast du dich aber verhohnepipeln lassen!« Er schlug mit der Faust auf den Zettel: »Wie kommst du dazu, weißt du, was das heißt? Du verachtest uns nicht bloß, uns Arbeiter alle, du willst nicht bloß mit uns nichts zu tun haben, du verhöhnst uns und die Gewerkschaft?«

»So hab ich das nicht gemeint!« sagte ich entschuldigend, »du befahlst so schnauzig. ›Hier füll aus!‹ da hab ich das getan. Auf den Strich da unten verzichtete ich, ich unterschreib nie was, wovon ich nicht einen klaren Begriff habe, weder einen Wechsel noch eine Versicherung, gar nichts unterschreib ich!«

»Den unterschreibst du, gleich!«

»Nein!«

»Gut, dann bilde dir nicht ein, du könntest lange hier bleiben. Aber es hat keinen Zweck, dich als Märtyrer für deinen Pfaffenglauben in die Welt zu jagen. Nein, du sollst dich hier überzeugen, wir werden dich überzeugen. Wenn du kein feiger Hund bist, nehmen wir dich von Montag an in die Schule, du bist ja bloß dumm!«

Er ging.

Es waren noch zwei Stunden bis Feierabend. Ich trieb mich auf dem Abort herum, auf den Schiffen und ging, als der Meister unserer Abteilung mit dem Kistchen voll Lohntüten kam, an mein Schiff zurück.

»Lersch!« rief der Meister. Er gab mir meinen Beutel mit Geld. Dann sagte er leise zu mir: »Machen Sie mir doch keine Unangelegenheiten, mit den Wölfen muß man heulen.«

Ich wusch mich und zog mich um, die ganze Kolonne wußte nun, Was ich für eine Marke war und sparte nicht mit Bemerkungen.

Vom Gesellenhaus ging ich zum Bahnhof, fuhr nach Haus und ging gleich zur Mutter. Ihr gab ich fünfzig Mark und nahm einen stummen Dank von solcher Innigkeit, daß ich die Kraft fühlte, ihretwegen den Kampf mit der harten und zerreißenden Welt gern zu führen. Am Sonntagmorgen nach der Messe ging ich mit den Brüdern in die Werkstatt. Ich mußte immerzu von den Maschinen erzählen, von den Preßlufthämmern und den Schiffbauten, von Hochöfen und Blechwalzen, von Löhnen und Akkord. Auch der Vater hörte aufmerksam zu, um dann doch wieder giftig und gallig in die Stube zu spucken: »Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und Schaden litte an seiner Seele! Hä! Freimaurer? Was nicht ist, kann werden! Wird schon! Mit Kleinem fängt man an, mit päpäpäpäh, sowas hat man sich großgezogen!«

Am Nachmittag ging ich in den nahen Wald; von weitem schon sah ich die gelichteten Äste, als ich näher kam, konnte ich durch sie hindurchsehn. Nur noch zwei Reihen Bäume standen da; bis ans Feld war schon alles niedergeschlagen, die schönen Buchen, die großen Eichen. Ich ging die Landwehr hinauf: in alle Bäume waren Zeichen eingehauen.

Wald meiner Kindheit! Ich weinte, weinte in ohnmächtiger Qual und einsamer Verlassenheit. Warf mich vor dem glatten Stamm einer Buche in die Knie, klammerte die Arme um sie hin und strich verzweifelt über die Rinde. Nun war ich ganz allein auch in der Fremde, nun war die Heimat vernichtet, nun hatte mein Traum keine Zuflucht mehr. Hier wohnte meine Seele, wenn sie nachts aus dem Leibe im Schlaf hinaus in die Welt schwebte; ach! wenn sie doch nur einen einzigen Baum stehn ließen! Gott, mein Gott, nimm Vater und Mutter und die Geschwister, nimm die Werkstatt, nimm die ganze Stadt – aber laß mir einen Baum! Ich leckte an der Baumhaut, riß mit den Zähnen nagend Stücke aus der Rinde, schmeckte den bittern Saft, sank, vor Schmerz wild, ganz auf die Erde und schlug mir die Fäuste wund.

Als ich aufstand, waren meine Kleider feucht, mein Sinn dumm und müde. Ich ging nach Hause; in meiner Kammer sah ich mein Tagebuch auf dem Tisch liegen, der Wind, der durch das offne Fenster wehte, trieb die Blätter auseinander. Schreiben, schreiben! schrie es in mir.

Am Montagmorgen ging ich nicht erst ins Gesellenhaus, ich war gerade zeitig genug am Werfttor. Als ich meine Nummer angehangen hatte, hörte ich auf dem Hof lautes Rufen und sah, wie viele Arbeiter zusammenströmten: ich ging durch die Tür und sogleich tat sich die Masse in zwei Reihen auf; es waren die Kollegen von den Schiffen an der Wasserseite, dreißig, vierzig Mann, sie schlugen das Kreuz und sangen auf die Melodie von: Großer Gott wir loben dich – »Großer Klotz wir hobeln dich, Herr, wir preisen Hoffmanns Stärke. Unser Bruder Heinerich ist ein ganz gemeines Ferken!« Was wollte ich anders tun, als mitsingen. Ich lachte mit den andern aus vollem Halse über den gelungenen Witz. Zum Frühstück kam ein Junge und rief mich zum Meister. Der Meister machte ein verdutztes Gesicht und wußte von nichts. Er sagte wieder wie damals: »Mit den Wölfen muß man heulen!«

Als ich zurückkam, fehlte mir der Stemmhammer.

So sehr ich suchte, ich fand ihn nicht wieder, setzte mich schließlich auf die Stellage und tat nichts; als der Meister kam, ging ich zum Abort. Nachher lag mein Hammer unterm Gerüst auf der Erde.

Zu Mittag ging ich ins Gesellenhaus. Es war eine halbe Stunde weit, eine halbe Stunde Essenzeit und genau um halbzwei traf ich an der Pforte ein. So hatte ich zwar keine Überstunde, aber warmes Essen im Leib und den schönen Blick auf den Strom. Als nach dem Abendessen mir der christliche Vertrauensmann mit dem Verband kam, sagte ich ihm mein Sprüchlein, was ich vom Hirschdunkerschen wußte: »Wir haben Koalitionsfreiheit! Wenn du mich nicht in Ruh läßt, gehe ich zu den Hirschen!«

Wenn es regnete, schrieb ich auf meinem stillen Zimmer Gedichte und die kleinen Ereignisse des Tages auf. Bei schönem Wetter ging ich an den Rhein. Der Strom wurde mir zum Vater, wie die Bäume die großen Mütter meiner Kindheit waren. Wenn es nun Frühling wäre, würde ich den Weg zum Süden an seinen Ufern entlang marschieren, immer den Blick auf das Wasser. Mit jeder Welle nahm der Strom Abschied und mit jeder Welle kehrte er wieder. Mir war, als legte ich meine Schmerzen und Leiden auf seine Wogen, er trug sie hinweg. Ich wurde leidlos glücklich. Darum faulenzte ich so gern am Ufer herum.

Kaum hatte ich in der Werft ein paar stille Arbeitstage gehabt, da erschienen auch von neuem die Werber. Ich ließ sie reden und hielt die Ohren steif. Sie forderten Antwort, aber ich konnte nichts sagen, weil sie in allem, was sie gegen den Kapitalismus, gegen die Priester sagten, recht hatten. Ich fand auch keine rechten Worte, wenn sie die Kirche angriffen. Ich verteidigte Gott, das Göttliche im Menschen, die unsterbliche Seele, und Jesus, den Gottessohn. »Nun verzichtet er schon auf den sichtbaren Schwindel, den unsichtbaren will er behalten!« sagte der Jülicher. »Er ist auf dem besten Weg. Nimmt er nur jetzt die äußere Form des Sozialismus an, wird er es auch bald ganz sein!« Ich mußte wohl etwas Dummes geantwortet haben, denn alle schüttelten lachend die Köpfe. »Nun ist er ganz verrückt geworden!« sagte der Vertrauensmann und ging. Die andern Kollegen redeten mir gütlich zu. Ich solle doch nur unterschreiben, damit ich Ruh kriegte. Ich unterschriebe ja auch die Arbeitsbedingungen und wäre Mitglied der Krankenkasse. Am Ende sei ich zu geizig, wollte wohl den Beitrag sparen. Da bot ich ihnen das Geld für den Mitgliedsbeitrag an, ich hätte nichts gegen die praktische Organisation; ich erzählte ihnen, wie ich in Duisburg begeistert mitgestreikt hätte, ohne daß ich Streikunterstützung beziehen konnte. Daß ich es eigentlich gar nicht nötig gehabt hätte, sondern nur aus Kollegialität und Verbundenheit freiwillig die Brocken hingeschmissen hätte, damit der Meister ja nicht glaube, ich sei ein Kapitalsknecht. Als der Meister gesehen hätte, daß ich nicht zum Streikbrecher tauge, habe er mich entlassen. Ich erkenne doch so viel, daß die Arbeiter vollkommen im Recht wären, deshalb sei ich radikal dabei; als Katholik müsse ich gegen den Mammon kämpfen, für die Gerechtigkeit, gegen die himmelschreiende Sünde der Ausbeutung. Aber ich könne es nicht ohne Gott, ohne einen Jenseitsglauben und den Glauben an eine unsterbliche Seele. Ich würde selbst an Gott und Jesus glauben, wenn es keinen Papst mehr gäbe und keine Kirche. Ich hätte die Wort-Christen satt bis an den Hals, das falsche Christentum mit den Lügen – aber mit Gott und Jesus habe das alles nichts zu tun. »Ich bin der letzte Christ, und wenn ihr mich totschlagt, ich unterschreibe alles, die Revolution und den bewaffneten Umsturz, die Trennung von Staat und Kirche – alles, was mit Fabriken und Arbeiterschaft zu tun hat, aber die Eintrittserklärnng für die Gewerkschaft, die nur Etappe zur Partei ist, unterschreibe ich nicht. Ein Christ kann nicht Sozialist sein, weil er Christus verleugnen muß.« So schloß ich. »Da ist ein Denkfehler drin!« sagte ein Kollege. »Du willst nicht nur Christus, sondern auch der Kirche gehorsam sein. Da liegt der Denkfehler, du glaubst, Christus sei die Kirche; so lang du das glaubst, bist du dir nicht klar.«

»Mit Prügel haben sie dir den Glauben ins Blut gehauen, mit Prügel muß er wieder hinaus!« sagte der Jülicher Landsmann, »ich bin für dich der umgekehrte Pfaffe«. Nun fing eine traurige Zeit an. Die Kollegen spuckten mir vor die Füße, sie nahmen mir Stemmwerkzeug fort. Als ich mich beim Meister beschwerte, stand die ganze Kolonne gegen mich auf: ich müsse beweisen, daß sie das Werkzeug gestohlen hätten. Ich hätte es weggespielt, um sie zu beschuldigen. »leb habe Werkzeug genug!« sagte der Vertrauensmann, »komm mit!« Er zeigte mir das Geschirr und legte obenauf den Aufnahmeschein.

Der Meister sah zu und verzog keine Miene. Als ich wegging sagte er: »Mit den Wölfen muß man heulen!«

Am Samstag mußte ich nach Hause fahren, mir aus der Werkstatt mein eignes Meißelzeug zu holen. Am Montag waren die Stunden wieder ausgefüllt mit Reden und Gegenreden. »Ein ganz hartgesottener Sünder!« »Er ist in Gladbach auf der Jesuitenschule gewesen!« »Nein, dazu ist er zu dämlich, die hätten ihm die bewährten Phrasen gelernt!«

»Was ist die Jesuitenschule?« fragte ich.

Da lachte der ganze Chor. »Das weißt du nicht? Nun, der Volksverein für das katholische Deutschland! Den kennst da nicht?«

Ich kannte ihn wirklich nicht. Sie zählten eine Reihe Namen auf. Ich kannte keinen davon. »Was kennst du denn?« fragten sie.

»Armut, Arbeit, Hunger! Vagabunden, arme Teufel, fremde Kesselschmiede, aber keine Peiniger und Henker wie ihr! Mit Zuchthäuslern und Dieben, Anarchisten und Verbrechern bin ich jung gewesen; aber außer meinem leiblichen Vater hat mich noch kein Mensch so gequält wie ihr. Darum hasse ich euch, wie ich ihn hasse! Ich spucke vor euch aus, wie ich vor ihm ausspucke. Aber ich ehre und achte ihn als meinen Vater und würde ihn mit meinem Leben beschützen, wenn – ein – andrer als ich, ihn kaputtmachen wollte. Ich ehre und achte auch den Arbeiter in euch, den armen Teufel, gegen den ich nie etwas tun würde. Aber ich hasse in euch den gemeinen Menschen, der mich zur Verzweiflung treibt!«

Ich weinte und knirschte mit den Zähnen, ich stand auf dem Schiffsdeck, die Kollegen saßen auf Klötzen und Blöcken.

»Ein Christ las im Gesellenhaus aus der Zeitung vor, daß sich in Straßburg ein Handlanger vom Gerüst gestürzt hatte, weil er die Verachtung seiner Kollegen nicht mehr ertragen konnte, weil er den Terror nicht mehr aushielt! »Gelogen!« habe ich in den Saal hineingebrüllt: »Gelogen! So gemein können Arbeiter gegen Arbeiter nicht sein!«

»Ist auch eine Zentrumslüge!« sagte jemand.

Ich antwortete:

»Der Handlanger war kein Christ! Sonst war er nicht freiwillig in den Tod gegangen. Ich bin ein Christ! Hier, schlagt mich auf die rechte Wange, ihr könnt die Linke dazu haben! Na, hat keiner den Mut? Nun, da tut es doch! Feige Hunde! oder soll ich euch in die Fresse schlagen?«

Darauf gaben sie keine Antwort: »Ich weiß, es ist alles Selbstquälerei, es ist etwas in mir, das sich nicht zwingen läßt, das ist die Freiheit! Die Freiheit! Und ihr seid die Henkersknechte der Freiheit!«

»So was gibt es noch?« fragte ein Kollege, stand auf und ging.

»Da müssen wir nächste Woche noch schwerer Geschütz auffahren!« sagte der Jülicher Landsmann. »Jetzt geht es um die Macht!«

»Um die Kraft!« schrie ich. »Ihr müßt mich schon totschlagen. Ich geh nicht!« »Mensch, hau in Sack!« riet ein anderer. Der Jülicher gab mir die Hand: »In dir Kollege, streiten zwei Religionen um die Macht, die alte der Kirche und die neue des Sozialismus. Du verschließt die Augen vor dem Neuen. Ich muß sie dir öffnen, da kannst du schreien und toben wie du willst.« Einer nach dem andern stand auf. Ich blieb allein.

Am Tor wurde für die Streikenden in Berlin gesammelt. Als ich kam, bildeten sie höhnisch Spalier. Ich zog meine Lohntüte heraus, goß den Inhalt in den Hut des Kassierers und warf die Tüte weg.

»Von dir mögen wir nichts!« sagte der Kassierer und gab mir das Geld zurück. »Gut!« sagte ich und hielt es in der Hand, es waren fünfzehn Mark: »Dann geb ich's in den Opferstock der Kirche?«

»Versauf es lieber!« rief ein anderer.

»Er ist ein Kollege, so gut wie wir!« vermittelte ein dritter, »nimm wenigstens etwas!« »Alles oder nichts!« sagte ich. »Nehmen, nehmen!« schrien die Umstehenden. Solang ich zwischen den Häusern nach Haus ging, war mir unbehaglich zu Mut. Als ich aber an den Rhein kam, da hätt ich mich am liebsten in das Wasser geschmissen, eine dicke Dreckschicht von mir zu schwemmen. Der Wind sauste von Riehl her, ich ließ ihn in den offenen Rock blasen, öffnete die Weste und ließ den glühenden Brand kühlen, den Haß, den ich auf einmal spürte.

»Mich sollen sie nicht klein kriegen, weder die schwarzen noch die roten Pfaffen!« sagte ich laut vor mich hin. In meinem Innern trotzte es auf: Du mußt ein Arbeiter werden!

Ich dachte an Duisburg. Ich liebte die Arbeit, das Werk, die Arbeiter; die Fabrik ist ihre Kirche und die Arbeit ihr Gottesdienst. Das Leben war ja nur Arbeit. Die Arbeiter mußten den Kapitalisten ihre Kirche und ihren Gottesdienst aus den Händen reißen. Die neue Religion der Arbeit, die aus der Armut herausgewachsen war, war das die unsichtbare Kraft, die die Massen gepackt hatte? Die Arbeiter, sie gingen nicht freiwillig in die Fabriken; sie wurden gegangen; die Kraft, die sie aus den Betten riß, trieb sie in die Räder hinein, füllte sie mit den eisernen Gewalten von Motor und Wake, Dynamo und Gasmaschine, Dampf, Preßluft, elektrischen Strom. Darum waren sie so barbarisch und gefühllos gegen den einzelnen, auch gegen mich.

Was war das in mir, das sich gegen den Sozialismus aufbäumte.

War es das, daß sie außer dieser neuen Religion nichts anderes mehr hatten? Keinen Gott, kein Jenseits, keine Unsterblichkeit, kein Gebet, keinen Himmel, keine Hölle.

Schauderte ich vor diesem Nichts?

Ich hatte ja auch keine Heimat, keine Familie. Wenn sie zu Hause im Wald den letzten Baum niederschlugen, hatte ich auch kein Vaterland mehr.

Ich litt unter dem, was ich besaß. Jetzt wußte ich es.

Ich fuhr nach Hause, packte am Sonntag morgen das Stemmwerkzeug in einen frischgewaschenen Arbeitsanzug und fuhr am Abend wieder nach Köln.

Wieder war es Montag, jetzt sollte die Schlacht beginnen. Aber sie begann nicht. Der Meister kam, nickte mit dem Kopf und sagte: »Nachkommen!«

Ich packte mein Werkzeug zusammen und folgte ihm. Er ging weiter bis ganz draußen vor die Kaimauer, wo der große Schlepper Schürmann V lag, der umgebaut wurde. Der Meister ging mit in den Heizraum, gab mir einen Akkordzettel, zeigte die fehlende Reihe Nieten in den Deckenbalken und wies mich an, diese durch Nietschrauben zu ersetzen. Die Löcher waren knapp fünfzehn Millimeter, sie waren durch eine andere Verankerung überflüssig geworden und brauchten nur anständig zugemacht zu werden. Da sollte ich einundzwanzig Millimeterschrauben hineinmachen? Ich sagte es dem Meister.

»Quatsch, zumachen sollst du sie, wie, ist mir egal!«

Ich holte mir Gewindebohrer, die Fünfachtel paßten genau, das Gewinde wurde schön voll. Nun mußte ich Fünfachtelschrauben haben. Ging zum Magazin, bekam sie aber nicht. Da holte ich mir eine Schneidkluppe, schliff am Schmirgelstein die Schraubenschäfte ab, schnitt neues Gewinde an – da kam der Meister. Er sah, was ich machte, nahm mich am Ohr, brachte mich zum Magazin und sofort bekam ich die Dreiviertelnietschrauben gegen Fünfachtel umgetauscht.

War das eine herrliche Arbeit! Niemand störte mich, niemand sprach mich an. Zwei Tage lang einsam stilles Schaffen, dann war ich fertig. Ein Kollege tippte sich an die Stirn: »Junge, wie kannst du so was machen! Du bekommst pro Stück fünfzig Pfennig. Es sind fünfzig Stück, du kannst doch nicht in zwei Tagen fünfundzwanzig Mark verdienen? Du machst den andern den Akkord kaputt. Eigentlich darfst du diese Woche nur noch einen oder zwei Tage arbeiten.« Ich bekam einen andern Zettel, nach dem mußte ich die Schrauben und Nieten zweier Mannlochverschlüsse stemmen. Wenn ich nun jeden Tag eine Stunde arbeitete, verdiente ich in dieser Woche dreißig Mark und hatte keinem den Akkord verdorben. Ich nahm mir altes Sackwerk und machte mir ein Lager im Schiffskessel, lag da viele Stunden. Später nahm ich meine Kladde mit, um beim Schein der Kabellampe zu schreiben. Da kroch auf einmal der Jülicher zu mir herein.

Er war wieder ganz gemütlich, fing von allen möglichen Sachen an, erzählte von der Arbeit, besonders von dem Schiff, an dem ich zuerst gearbeitet hätte. Es sei ein Tankschiff zum Petroleumtransport. Nachdem die erste Hälfte fertig sei und die Abteilungen mit Wasser gefüllt wären, liefe es aus einer Abteilung in die andere: die Konstruktion sei für Kleinkoks und Stückkalk richtig, aber für Wasser nicht zu gebrauchen. Da hätten sie viele Kilo Blei zwischen die Nähte gehauen, die Spanten seien aber nicht dicht zu bringen, es müßte sicher noch drei Wochen dran nachgestemmt werden. Da kam ich wahrscheinlich wieder hin. Sollte ich zurückkommen, so möge ich ihm den Schein unterschreiben, es ginge nun um die Ehre der Vertrauensleute, die von den Kollegen und Genossen ausgelacht würden, wenn sie mich nicht auf ihre Seite brächten. Ich solle es ihm für Donnerstag versprechen. Ich tat es nicht. Er wurde wieder heftig, ich kroch aus dem Kessel und kam an die Arbeit, als der Meister mir einen neuen Zettel gab. Ich mußte nun einige Stehbolzengewinde nachschneiden und zwei Flanschen an der Dampfleitung aufwalzen.

Als ich die Stehbolzengewinde fertig hatte, war es Feierabend. Am andern Morgen holte ich mir die Rohrwalze, hatte aber bis Mittags noch nichts gemacht, um den Akkord nicht zu verderben. Ganz vergnügt schob ich zum Essen. Als ich wiederkam, fehlten die langen Stehbolzenschneider und auch die Rohrwalze. Die konnte ich nicht zu Hause holen, auch nicht ersetzen, sie hatten einen Wert von mindestens hundert Mark. Bis Samstag arbeitete ich nichts, zu Mittag sah ich die verschiedenen Gestalten zu mir aufs Schiff steigen. Es gab große Unterhaltung, ich tat, als sei ich erkältet und antwortete ganz heiser ein paar Worte. Als der Meister kam, machten sie Anspielungen auf verlorenes Werkzeug, der Meister tat, als wenn er nichts hörte. Ich pfiff, weil ich unbefangen scheinen wollte, und legte mir einen Plan zurecht.

Ich packte die eiserne Werkzeugkiste voll alter Nieten und Schrauben, bis sie wohl dreißig Kilo wog, ließ das Vorhängeschloß zuschnappen und wartete, bis jemand kam. Der erste war der Jülicher. Ich bat ihn, mir die Kiste auf den Nacken zu laden, er grinste und tat mir den Gefallen; ich trug mit steifen Beinen die Last hinauf, ging bis aufs Gangbrett, das vom Schiff bis zum Kai über dem Wasser lag. »Wohin!« fragte der Vertrauensmann, der am entgegengesetzten Ende gleichzeitig mit mir den ersten Schritt aufs Gangbrett tat: »Vorsicht, Werkzeug abgeben!« schrie ich. Das Brett schwankte mächtig unter der Last. Als ich zur Hälfte mit kurzen Schritten hinüberbalanciert war, da sprang ein halbwüchsiger Lehrling auf die Planke, mit beiden Füßen zugleich, um mich zu erschrecken. »Zurück, du Lümmel!« schrie der Vertrauensmann. Als er den ersten Schritt aufs Brett tat, um den Jungen zurückzureißen, sprang der Lehrling nochmal. Ich geriet ins Wanken, schrie auf und schlug hintenüber ins Wasser, hielt krampfhaft die Kiste bei den Griffen, die mich hinunter in die Tiefe riß.

Sehen konnte ich nichts, das Wasser war schmierig; ich schwamm unter Wasser schrägweg, stieß mit dem Kopf an einen Balken und kam ans Licht: ich hing mit den Händen hinter dem Arbeitsbram, einem vier Meter breitem und sechs Meter langen Floß. Ich sah, sie suchten mich an der andern Seite, einige hatten Stangen und Latten geschnappt und stießen in das Wasser; der Meister kam gelaufen. Ich stieß mich ab und schwamm schwer zur Planke hin, bekam kaum den Kopf über Wasser, da fühlte ich eine Stange am Arm, ich hielt mich daran fest und schrie um Hilfe: »Mein Werkzeug, mein Werkzeug!« Ein Kahn glitt auf mich zu, ich hing mich daran, wurde hochgezogen und erbrach das schmierige Wasser. Dann wurde ich an Land gebracht und ins Kesselhaus geführt.

Der Jülicher holte meinen Anzug, der auf dem Schiff hing; ich zog mich um. Der Ingenieur kam und fragte. Ich sagte immerzu: »Ich konnte nichts dafür, ein Junge sprang aufs Gangbrett, ich trug die schwere Werkzeugkiste, das Brett schwankte, ich verlor die Balance und wollte die Kiste retten, aber sie riß mich mit hinunter.«

»Wo die liegt, da liegt eine ganze Werkstatt! Hauptsach, daß Sie nicht in dem Gerümpel, was da unten liegt, hängen blieben! Erkälten Sie sich nur nicht. Meister, nehmen Sie die Sachen auf ein besonderes Blatt,« sagte der Ingenieur.

Ich bekam meine Marken wieder. Das Werkzeug war »gerettet«. Ich brauchte nicht auf den Feierabend zu warten.

Ich ging nicht ins Quartier, sondern in das Kaffeehaus an der Schiffsbrücke, trank heißen Grog und sah über die Weite des Rheines hin. Das erste Bad im Rhein war nicht schön, aber es rettete meine Löhnung.

Am Sonntag lieh ich mir einen Kahn und fuhr rheinabwärts; mußte schwer rudern, um wieder vor der Dunkelheit zurück zu sein. Ich hatte den ganzen Sonntag weder ein Wort gesprochen noch gehört. Das fand ich das Schönste an der Ruderfahrt, die mich so müd gemacht hatte wie nie ein Arbeitstag.

Am nächsten Montagmorgen sah ich die Werft nicht mehr mit Angst, aber auch nicht mit Freude an. Die Lust an der Arbeit war mir vergangen. Ich setzte mich auf das Teil des Schiffes, welches dem Rhein zugekehrt war und starrte über das Wasser. Der Meister gab mir Akkordzettel, ich steckte sie ungesehn in die Tasche. Rührte mich nicht.

Zum Mittag ging ich essen. Erst als ich zurückkam, ging ich an die Arbeit, Stehbolzen in die aufgeschnittenen Löcher einzuziehn. Am Mittwoch konnte ich nicht mehr; mich ekelte jedes Stück Eisen an, ich konnte keinen Dreck mehr an den Fingern leiden. Wenn mich niemand störte, hing ich meiner Phantasie nach; in wunderbaren Landschaften spielten Frauen, die, wenn ich sie verfolgte, mich mit Rosas Gesicht und dem Leib der Schwester lockten. Ich war am Sonntag im Wallraff-Richardmuseum gewesen und sah noch immer die lebensgroßen Menschen auf den Bildern nackt und unbekümmert, als gäbe es keine Arbeit und kein Elend; gewaltige Freude strömte von diesen Bildern aus, Freude, unerreichbar für mich. Auch die Madonnenbilder lächelten schön und innig durch meine wachen Träume.

Meine Brust spannte den Atem fest, ich hatte keine Schmerzen, nur eine müde Schwere in den Gliedern, die nicht krank war. Ich war faul.

Ich ging aufs Büro, einen Krankenschein zu holen, fuhr nach Köln und lief durch die Straßen. In der »Hohen Straße« war eine große Buchhandlung, ein Buch zog mich an: »Die Ernte« Aus zehn Jahrhunderten deutscher Lyrik. Ich kaufte das Buch und las es in einem Kaffee, einer kleinen Holzbarake am Rhein. Ich sah ein Gedicht: »Aus hohen Bergen.« Ja, da wollte auch ich hin. Ich verstand nicht recht, was die Verse bedeuten sollten. Bis eine Zeile kam: »Ein anderer ward ich? Und mir selber fremd? Mir selbst entsprungen? Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen? Zu oft sich gegen seine eigne Kraft gestemmt, durch eignen Sieg verwundet und gehemmt?«

Das verstand ich, so etwas mußte in mir sein. Ich blätterte eine Seite zurück, da stand – ja – da stand – da stand der Satz, den ich einmal geträumt hatte, er stand da geschrieben: »Erinnerung an Schöneres als ich!«

Immer wieder las ich es: Erinnerung an schöneres als ich –

Nun wußte ich, was schöner war als ich: mein Vorbild und Ideal, Jesus, dem ich ähnlich werden wollte. Der Vers ging weiter: »Ich sehe, ich sehs und sterbe so –«

Nein! Sterben wollte ich nicht. Für Jesus wohl, aber nicht an ihm. Jesus hatte meinen Tod nicht nötig, er war – und das wußte ich erst jetzt – Gott – ich wußte jetzt, ich kann nie Gott werden, ich war ein Mensch.

Nun schlug ich den Anfang des Gedichtes auf. Es hieß der Herbst. Nietzsche stand darüber. Ich las: »Die Krähen schrein und ziehen schwirren Flugs zur Stadt, bald wird es schnein, wohl dem, der jetzt noch Heimat hat!« Ich staunte? War das ein Dichter, der froh wäre, eine Heimat zu haben? – das mußte heißen: Wohl dem, der keine Heimat hat.

Ich suchte den Bleistift und änderte es.

So war es für mich richtig: Wohl dem, der keine Heimat hat!

Nein, das ganze Gedicht paßte mir nicht. Mir war die Welt kein Tor zu tausend Wüsten stumm und kalt. Nein, das ganze Gedicht hatte mit mir nichts zu tun. Ich konnte überhaupt mit den Gedichten nichts anfangen. Verzweifelt legte ich das Buch auf den Tisch und sah auf dem letzten Blatt den letzten Vers:

Es ist doch alles nur aus Liebe schön,
Es ist doch alles nur aus Liebe gut!

Den Vers summte ich vor mich hin. Er ging mir nicht aus dem Kopf.

Als ich auf dem Mühlheimer Bötchen zurückfuhr, wußte ich daß ich in diesem Vers das ganze Buch im Kopfe hatte, und warf es ins Wasser.

Ich kündigte die Wohnung und meldete mich beim Präses ab.

Am andern Tag ging ich zur Werft und ließ mir meine Papiere geben.


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