Heinrich Lersch
Hammerschläge
Heinrich Lersch

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Feuer in der Spinnerei

»Es war auch Zeit, daß du kamst!« sagte mein Bruder Paul, »ich hab ne Masse zu arbeiten. Du kannst bei Pungs und Vitz eine Dampfkesselreparatur machen. Die muß in drei Tagen und Nächten fertig werden, mit oder ohne Ablösung, die Weber warten drauf. Wenn der Kessel nicht in Gang kommt, müssen die andern zweihundertfünfzig Mann auch feiern, also ran, es wird bezahlt!«

»Dafür bin ich wirklich nicht von Duisburg gekommen, um an dem Kessel des Herrn Kommerzienrat meine Knochen zu erproben. Ich wollte auf die Wanderschaft und eben Adieu sagen. Ich will weg.«

»Wohin? Wohin willst du gehn? Am Ende jeder Straße steht eine Fabrik, an der Arbeit kannst du doch nicht vorbei!« sagte Paul. »Na, dann verdien dir das Reisegeld, hilf mir aus dem Dreck und du schlägst zwei Fliegen mit einer Klappe.« Also ging ich mit.

Nun war ich wieder bei den Webern; die Zeugdrucker grüßten mich, ab sei ich vorgestern noch bei ihnen gewesen, nichts war verändert. Nur ich war nicht mehr derselbe.

Wir fingen an, klopften den ganzen Nachmittag durch, es ging auf den Abend zu. Die Mutter brachte uns Essen, wir hatten die Sache als Akkordarbeit übernommen. Also blieben wir die Nacht, schliefen ein paar Stunden auf Säcken und Ballen, dann tranken wir uns mit einem starken Kaffee die Müdigkeit aus dem Leibe.

Der Kessel stand im alten Bau, einem Seitenflügel des Werks, in dem früher die Spinnerei lag. Unter uns war die Wäscherei, über uns standen im leeren dritten Stock die Wasserbehälter, einer neben dem andern, alle zusammengeschlossen. An ihnen konnte man den Entwicklungsgang des Betriebes verfolgen. Für den erhöhten Bedarf wurden jedesmal neue Behälter aufgestellt. Das alles war gewachsen, aus kleinsten Anfängen bis zu diesem Umfange. Die ersten Inhaber der Fabrik waren Färbergesellen, ihre erste Werkstätte war jetzt das Laboratorium. Die ersten Webstühle liefen noch; da war kein Sprung, eine Maschinengeneration schloß sich an die andere, wie auch die Menschen.

Bloß ich, ich gehörte nicht hinein. Das wußte ich jetzt genau. Das konnte ich zwar nicht beweisen, aber ich wußte es. Ich machte mir Gedanken, wie sie sich sonst keiner machte.

Als ich um neun Uhr zum Frühstück aus dem Kessel kroch, – gellten plötzlich die Klingeln, heulte ein Brandhorn, ich sah zum Fenster hinaus: in der großen Spinnerei dicht nebenan schlagen die Flammen aus allen Fenstern. In den Kellern mußte der Brand begonnen haben, aber doch zeitig genug entdeckt worden sein, denn auf der Straße standen schon die Arbeiter und Arbeiterinnen in Gruppen und zählten sich nach Sälen ab. Da schrie ein Meister auf: »Der Schmierer fehlt.« Der Schmierer gehörte keinem bestimmten Saal an, er war über eine ganze Abteilung verteilt.

Ich sah den Meister in den Hof hineinrennen, er stieg die Leiter am Schornstein hinauf, lief über das Dach des Kesselhauses und hielt die Hände vor das Gesicht: über den Hof hin strahlte schon die Glut. Er rannte an der Front der Fenster entlang, hinter welcher er den Schmierer vermutete: Da schleuderte er die Arme zum Himmel, kletterte die Brandleiter hinauf, die zu dem Stockwerk führte, in dessen Fenster ich stand: »Siehst du ihn?« schrie er mir entgegen. Da sah ich in den Flammen hinter den Gittern eine Gestalt. Auf das Winken hin zog der Brandmeister schon einen Schlauch hinter sich her und gab Wasser auf das Fenster. Hinter mir brüllten Feuerwehrleute: »Fenster frei!« Ich kletterte aus dem Loch hinunter auf die Brandleiter, hinab aufs Heizraumdach. Mitten in den schießenden Wasserstrahlen stand der Schmierer, er rüttelte an den Stäben des vergitterten Lagerraumfensters. Nun gab die Wehr von drei verschiedenen Seiten aus sechs Schläuchen Wasser: hier war ein Menschenleben zu retten. Ströme von Wasser drängten das Feuer in die Nebenräume ab; ab der Mann sah, daß das Gitter nicht weichen wollte, fing er in unmenschlichen Tönen an zu schreien. »Die Seite nach der Straße zu ist noch feuerlos!« brüllte der Webmeister lauter als der Mann im Feuer, doch das klatschende Wasser übertönte seine Worte. Als für einen Moment alle Schläuche zu einem höhern Fenster gerichtet waren, aus welchem eine Feuergarbe brach, winkte der Webmeister mit ausgestrecktem Arm zur Straße bin, der Brandmeister und alle machten die Bewegung in der Richtung der Straße. Mit einem einzigen, erschütternden Schrei rannte der Schmierer vom Fenster fort und sah für einen Moment wieder zu dem Flurfenster heraus: »Vorwärts!« brüllte der Webmeister. Nun rannten auch alle Wehrleute mit den Schläuchen, so schnell sie konnten, voran. Da tauchte der Mann wieder auf: er war in den Ballenaufzug hineingelaufen, der in einem schachtähnlichen Einschnitt vom tiefsten Keller bis zur Höhe des vierten Stockwerks ging. Ein neuer Schrei: eine Flamme fuhr hinter dem Geretteten her, stob zurück, kam wieder; ein gräßliches Krachen: im ersten Gebäudeteil hatte die Decke nachgegeben und die schweren Zwirnmaschinen sausten durch die Betonböden und trieben wie fürchterliche Blasbälge die Flammen nach allen Seiten. Haushoch flammte das Dach auf, die Flamme wurde von den stürzenden Maschinen zurückgerissen und nun brannte in wabernder Glut dieser Flügel aus. Niemand sah nach dem Schmierer: er hatte sich vor den Flammenschlägen auf die Konstruktion gerettet, verbrannte sich aber an den heißgewordenen Stangen die Hände, er sah sich hilflos um und riß in seiner Verzweiflung am Hubseil – das Unheimliche geschah: trotzdem die Transmission nicht mehr lief, hob sich der Kasten. Ob nun ein Riemen durchgebrannt war und das Gegengewicht sich senkte, jedenfalls stieg der Kasten, stieg wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, durch den ersten und zweiten Stock. »Gerettet!« schrie alles wie aus einem Munde. Der Kasten stieg noch höher, blieb dann aber zwischen dem vierten Stock und dem Speicher hängen, die Ausgangstüren standen vor den Mauern, rechts und links fest verschlossen. Nach vorne in den Hof hinein sah er über die Geländer in eine Flut brennenden Schmieröls, welches auf dem treibenden Wasser den Weg zum Kanal suchte. Der Kanal faßte die Wassermengen nicht, das brennende öl lief in den Fahrstuhlschacht und schlug dann in langer Flamme unter den Boden des Kastens. Niemand konnte sagen, ob der Boden holz- oder eisengedielt war. War er von Eisen, würde er bald glühend werden, und war er von Holz, so würde er bald verbrannt sein. Ein Windstoß trieb den Qualm zur Seite, – die Wehr hielt alle Rohre auf den Kasten, doch die Wasserbogen erreichten den Mann nicht, der sich, mit den Armen das Gesicht schützend, die Kleider vom Leibe riß. Er sprang, wie wahnsinnig, von einer Ecke in die andere, jetzt hielt er die Fetzen der Jacke und wand sie um die Hände, die glühend gewordenen Stangen zu fassen, an denen er in die Höhe klettern wollte. Die Lappen flammten auf, – mit schauerlichem Schrei fiel er auf den glühenden Boden zurück. In gewaltigen Sprüngen tanzte er von einer Ecke in die andere, rannte mit dem Kopf gegen die Konstruktion, griff plötzlich wieder nach den glühenden Stangen, – da schoß ein Wasserstrahl auf seine Hände. Der Brandmeister hatte alle andern Rohre bis auf eines drosseln lassen, dies eine Rohr gab den gesammelten Druck hoch genug. Als er den Kasten unter Wasser setzen wollte, kam von der Straßenseite der Schlosser angelaufen. Schrie dem Brandmeister zu, er dürfe kein Wasser in den Kasten geben, sie, die Schlosser, hätten heute früh, die Karbidtonne zum Schweißen an den Dämpfkessel bringen wollen, und diese sei bestimmt nicht aus dem Kasten herausgekommen. Wenn Karbid und Wasser zusammenkämen, gäbe es eine Explosion. »Wasser! Wasser!« gellte es aus dem Kasten. Immer verzweifelter, in heulenden Stößen, schrillte das tierische Geschrei nach Wasser. Der Qualm verdeckte den Kasten, aber, man hörte immer noch, wie die gepeinigten Füße sprangen; einen Augenblick zögerte der Brandmeister, dann hob er dennoch den Schlauch und kühlte zuerst den Boden, dann die Wand und vorsichtig die Stangen. Wie ein Turner am Gerät schwang sich der Schmierer hoch, preßte das Gesicht zwischen das Gestänge, riß den Mund nach dem Wasserstrahl auf, – da stieg eine weiße Qualmwolke hoch, eine Explosion schleuderte einen schreienden Menschen in die Höhe, – der griff im Fallen noch nach einer Stange, hielt sich einen Moment – dann barst der Kasten. Die Trümmer fielen in den feurigen Abgrund, hinterher der Mann, mit ausgestreckten Armen und Beinen, er schlug mit dem Kopf noch erst auf den Schachtvorsprung, dann sausten die Füße gegen die Mauer, in einer aufschießenden Flamme verschwand er vom brennenden Morast überschlagen. Acht Männer schrien, jeder hatte den Fall kommen sehen« jeder wußte, jeder sah, nun war es vorbei. Mochten die Mauern ausbrennen.

Ich stieg hinter den Wehrleuten in meine Kesselecke, setzte mich, glitt vom Ballen, streckte mich aus. Als wenn die Angst, der Todeskampf, die Brandschmerzen des Menschen in mich hineingefahren wären, so fremd war ich mir selber. Ich schlug mit Wissen und Willen die Fäuste auf dem Beton wund, preßte ein bannendes Stöhnen in meine Brust zurück, es half nichts: ich brannte in dem glühenden Käfig, ich brannte und verbrannte nicht, es brannte in mir weiter. Mechanisch griff ich nach meinen Kleidern, zog mich um und ging auf die Straße. Mein Bruder stand beim Brandmeister und ließ sich erzählen. Als er mich sah, nickte er und sagte: »Wollen wir ran und fertig machen? Da kann die halbe Welt untergehen, der Kessel muß geflickt sein, sonst bezahlt uns kein Schwein was für die gearbeiteten Stunden!«

Einen Augenblick war ich empört, wollte ihm eine Gemeinheit entgegenschreien –, da besann ich mich: Er hat ja nichts gesehen! Er weiß, ja nicht, was das heißt: »Ein Mann verbrannt!« Er hat ja die Schreie nicht gehört! Niemand hat es gehört! Ich sagte: »Es war unerträglich anzuhören, wie der schrie!« »Es muß schauderhaft sein!« sagte er bewegt.

»Mensch, nun man ran, noch ein paar Stunden, dann pennen wir eine lange Nacht und haben unser Geld verdient.«

Mein Bruder und ich, wir verstanden uns nicht mehr.

In diesem Feuertod starb etwas in mir.

Als ich wieder arbeitete schlug ich grelliger als je, haute grimmiger als gestern früh. Es war eine Wonne, an den spitzen Stemmer zu denken, der schmale Furchen in das Blech hineintrieb. Der Stemmer ist Stahl und kein Mensch. Bloß nicht an den Menschen denken, der Mensch brennt. Nach einer Stunde schmeckte mir das Essen vorzüglich, ich hatte furchtbaren Hunger und fühlte mich, satt und voll, wieder menschlich. Wir gingen stumpf und müde nach Haus. Ich rechnete nach: zwanzig Mark haben wir verdient; zwanzig Mark in der Zeit, in der der Schmierer vom Leben zum Tode kam.


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