Jean Paul
Palingenesien
Jean Paul

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Neunter Reise-Anzeiger

Fata: der Irrgarten – der Gethsemane-Garten – das Paradies-Gärtlein
Werke: (der Liebe, nicht der Not): siehe Fata!

»Nicht nur ich und du«, sagte Siebenkäs, »haben uns verdoppelt und umgetauft, sondern der Reichsschultheiß da auch – du siehst hier den Schulrat Stiefel aus Kuhschnappel vor dir, und die angebliche Reichsveste ist der Gasthof zum Reichsadler.« – »Derselbe Rektor,« – setzte Stiefel freundlich dazu – »dessen Wenigkeit Sie in Ihren Werken hier und da biographisch und nekrologisch gedenken.« – Der Most der Freude nahm mir mit seiner Weingärung den Kopf ein, und ich hielt gleichsam die Baurede auf dem Babelturm herunter an die Bauherren – ich sagte, so sei gewiß dem Doktor Jonas gewesen, wenn er zu lange aus dem Trinkglas geschöpft, das ihm Doktor Luther verehrte und das noch in der Nürnberger Stadtbibliothek vorhanden ist – »tausendmal willkommen, teuerster Pelzstiefel!« sagt' ich wieder, weil ich mich ganz vergaß – »wir alle passen ja als herrliche dii ex machina in den neunten Anzeiger«, sagt' ich weiter – »und in den zehnten Mai!« beschloß ich.

Firmian wollte wissen, wer dieser Mai sei; aber ich wollt' es nicht eher sagen, bis er mir von dem Farflerschen KunstwagenMan kann sich damit selber fahren. Er ist in der Stadtbibliothek., worauf sie beide so plötzlich hergekommen, und von den Verkettungen und Dutzendringen des Zufalls, die er zum Nürnberger Dreieinigkeitsringe unsers Kleeblatts ineinander gewunden, die Decke abgezogen hätte. Er tats: es war weiter nichts, als daß er einen Prozeß, den er im UnctuariumUnctuarium ist das Nebengebäude der Palästra, in welchem man sich vor dem Ringen mit Öl beschmierte, Conisterium ist dasjenige, worin man sich vorher mit Staub besäete zum festern Fassen. Aber im Texte werden nicht die Kämpfer, sondern die Richter mit Öl geschmeidig und mit Staub blind gemacht. der ersten Instanz und im Conisterium der zweiten verloren, in der Palästra von Wetzlar ersiegt und sich darauf sogleich fortgemacht hatte – daß Herr Ex-Schultheiß ihm geschrieben, er tue eine gelehrte Reise nach Nürnberg, um in dieser berühmten Stadt die Ab- und Aufrisse derselben (in der Landkartensammlung) zu besehen und in den großen Bibliotheken die Inkunabeln – daß Firmian also gern mit ihm zusammengetroffen – daß ihm Natalie geschrieben, wie ich gleich einer philosophischen Idee oder einer Mode und Narrheit mich unter einem neuen gallischen Namen angekündigt, um Entree zu erhalten – daß er mich als Namens-Wipper und Kipper durch den kassierten Schulzen mit Recht ein wenig halbtot quälen wollen – und daß ihm und dem Schulrate eine geschickte Kopie des Reichsschultheißens darum so leicht geworden, weil nicht nur sie beide gar nichts vom Urbilde wüßten und kannten, sondern auch ich – und daß Stiefel, der in zwei bis drei Sättel gerecht sein mußte (weil man nicht wissen können, gäb' ich mich für den Comte oder für mich oder für den Inspektor aus), in diesem Spaße den vigilanten Kopf gezeigt. –

»Nun aber dein zehnter Mai, was will der?« beschloß er. »Daß ich ihn heilig halte und feiere, will er,« (versetzt' ich:) »denn vor einem Jahre gab er mir eine Verlobte.« Dem Leser wurde ja nichts verhalten, wenn er sich noch auf das Ende des ersten Bändchens besinnt. Ich offenbarte meinem Firmian noch meine Bangigkeit über das Ausbleiben der Briefe, sogar des Passes, sogar nachdem ich am ersten Mai wieder geschrieben. Ein Freund übergoldet an einer Winterlandschaft der Furcht, womit die Phantasie das Herz seines Freundes behängt, wenigstens den Rahmen: Firmian gab mir, wie gewöhnlich, manchen Trost, den der Getröstete wahrscheinlicher finden soll als der Tröster selber, und ich sagte ihm, die Hoffnung und die Stärke, an die er mich verweise, glichen der messingnen Hoffnung und Stärke im Brunnen des Lorenzer KirchhofsZweiundachtzig Zentner Messing sind in diesem Brunnen zu Tugendbildern vergossen., aus deren metallenen Brüsten nichts als Wasser rinne. Das Beste war, daß ihm mein Brief, den ich im Irrgarten an Hermine (wie den an ihn) geschrieben, und der zehnte Verlobungs-Mai den Vorschlag eingab, in den Garten zu gehen und da unsere heutige dreifache Vereinigung und noch meine kleine zweifache unter den Sternen zu feiern. »Ich bin besonders begierig«, sagt' er scherzhaft, »auf das aufgehangene Baireuther Blech in der Laube.« –

Die Bill ging mit einer Majorität von drei Stimmen durch, besonders da der graue Milchflor des Wolkenhimmels sich immer weißer und zerrissener wusch. Ich als Wetterverständiger sah noch dazu voraus, daß nach zehn Uhr (dieses zehnten Maies), wo der Mond voll wurde, der Himmel leer werden müßte, nämlich blau.

Wir kamen unter Frühlingslüften, die den Reiseflor des eiligen Mondes immer weiter aufdeckten und zurückbliesen, in dem spielenden Garten an, der bald ein Nachtstück, bald ein Blumenstück wurde. Der Schulrat verließ uns, weil er den Garten, der als ein alter Korrelations- und Bildersaal des Harsdörferschen Blumenordens ihm nicht gleichgültig sein konnte, Stück für Stück durchschreiten wollte, um ihn zu aichen wie Herschel den Himmel, und um darauf der gelehrten Welt über dieses poetische Areal ein Wort zu sagen: unter dem Monde hatte der gute Rat keinen andern Wunsch, als auf der lesenden Erde ein solches Licht der Lesewelt zu werden, daß er droben einen FleckenLeserinnen werden wissen, daß die Mondsflecken den Namen großer Gelehrten führen. vorstellen könnte.

Als ich so allein zum ersten Male mit meinem Freunde ging, und als die umherfliegenden Wolken die grüne Erde zauberisch auf- und zudeckten: so regte sich die Sehnsucht wie ein lebendiges Kind in meiner Seele, und ich fragte ihn, ob er nicht ein paar Sternbilder aus dem Himmel weggäbe, könnt' er dafür das Bild seiner Natalie im jetzigen haben. Er sagte mir, er sehne sich sanft nach ihr, aber nicht schmerzlich, und die Ehe müsse überhaupt – und er könne als Veteran ein Wort mehr reden als ich – gleich einem Winterhause weder zu warm noch zu kalt gehalten werden, damit die Gewächse weder erfrieren noch treiben. »Man schweigt allerdings«, sagt' ich, »zweimal in der Liebe, das erstemal aus Furcht, das zweitemal aus Vertrauen: das einemal im stummen Vorfrühling des Herzens, wo die Blicke noch zu laute Worte sind und wo jede Seele in ihrem dunkeln Laube für die andere reift; das anderemal im Nachsommer des Herzens, wo zwei vertrauende Menschen schweigend, erinnernd und genießend auf der erreichten stillen Höhe nebeneinander stehen, wie man im Frühling auf einem hohen Gebirge die Sonne über die glänzende Ebene aufgehen sieht, aber das Morgengeschrei der Vögel, die darin und darüber schweben, oben nicht vernimmt.« –

Ich sah jetzt den armen einzelnen Schulrat in einen Laubengang verschwinden, und ich dachte an das so treu geliebte und so treu liebende, vom Leichenstein verschlossene Herz seiner Lenette: in dieser Minute fingen tief im Garten zwei Waldhörner ihre wogenden zurückweichenden Töne an. »O das hast du geordnet, guter Firmian,« (sagt' ich) »aus Liebe gegen meine Hermine und den heutigen Festtag,« und umarmte ihn, und die warmen Töne sagten meine Liebe aus, als ich an seinem Busen schwieg. Aber unter der Tonkunst schwillt das Meer unsers Herzens auf wie unter dem Mond die Flut: und die Unsichtbarkeit meiner Hermine erinnerte mich immer daran, mit welcher verheimlichten Qual Kinder, Eltern, Gatten, welche die Zeit oder die Ewigkeit auseinander geführet hat, nun ihre Feste einsam feiern, die sie sonst verbunden erlebten. Da wir nun näher auf die Laube zukamen, worin ich Herminen vor zehn Tagen so bekümmert geschrieben hatte – und da die Wolkenschatten wie Menschennächte flogen, und da der finstere Hain sie durch die Töne einzuziehen und dann zu verschlingen schien – und da mir alles, was um meine Seele war, Firmians Wort vorhielt, daß die Toten eingelegtes Bildwerk der Erde sind und wir erhobenes, daß wir Bilder sind, welche die Bilderuhr der Zeit unter dem Ausschlagen einer Stunde herausdrehet und dann zurückreißet –: wurden mir da nicht vom Schicksal selber die Farben gerieben, woraus ich mir das Gemälde einer einsamen Zukunft und eines Tages bilden konnte, wo einmal entweder ich oder sie den Verlobungstag nur abgetrennt und trübe begehen? Und kann dann vor solchen Gemäldeausstellungen ein übergehendes Auge, ein von Liebe und Trauer bewegtes Herz und eine Sehnsucht ohne Schranken verboten sein oder verborgen werden? – O wer nicht zuweilen zu viel und zu weich empfindet, der empfindet gewiß immer zu wenig! –

Als ich vor meinem Firmian nichts verdeckte, was in meinen Augen hing und worauf meine innern blickten: so stand er, noch eh' wir die Laube sahen und während eine lange Wolke sich über den Mond wegschleppte, auf einmal still und sah mich gerührt und forschend an; ich antwortete schnell und wollte heiterer scheinen: »Ich bin darum doch froh und durch deine freundliche Mühe glücklich: die Stöße des heutigen Tages haben nur mein Inneres zu sehr aufgelockert und zerlegt – bei solchen Erdbeben läuten die Glocken sich selber, wenn man auch das Glockenseil nicht anrührt.« – »Sei aufrichtig gegen mich,« sagt' er: »weiter ists nichts als ein Glockenspiel der Erinnerung?« – »Ja, Geliebter,« (sagt' ich, hingerissen vom Freunde und von der Freundin) – »eine Totenglocke geht mit darunter – Aber kann ich denn an einem solchen Tage meine Hermine vergessen und ihr Stummsein und ihre Einsamkeit und ihre Entfernung? Ach Gott, wie innig würde sie sich an einem solchen Abend erfreuet haben unter uns!« – Aber nun traten ihm die sanften Augen über, und er umarmte mich und sagte. »Ich kann dich nicht mehr täuschen – ja, sie ist da mit Natalien, hier im Garten – in der Laube.« Ich riß mich aus seinen Armen und ließ ihn einsam da, lief aber beschämt zurück und küßte ihn und sagte: »Habe tausendmal Dank, du zu gute Seele!« – »Geh nur, geh nur,« (sagt' er, sanft zurücktreibend) »sie ist eben allein – weiß aber nicht, daß du schon im Garten bist.« –


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