Jean Paul
Palingenesien
Jean Paul

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Sechstes Werk vor Nürnberg.

Ob nicht dem Mangel an Selbstrezensionen der Ablauf der empfindsamen Kraftdekade schuld zu geben?

Das goldne sechzehnkaratige Zeitalter unserer Literatur (das kraftgenialische) ist leider jetzt in ein verkalktes umgesetzt; und das gibt mir Anlaß genug, mich sowohl über das Zeitalter als über die Umsetzer herauszulassen. Erstlich über das Zeitalter!

So große Köpfe und noch dazu eine solche Menge derselben wies außer Utopien noch kein Land auf als Deutschland von anno 1770 bis 1780; so wahr ist die Bemerkung des Vellejus Paterkulus, daß große Männer gern miteinander und auf einmal erscheinen – wie ich denn einmal zu Dossenheim bei Mannheim die angorischen Ziegen und die großen Männer gegeneinander zählte und von letzteren ein Mandel Überschuß bekam. – Daher verschattete damals einer den andern, der eine wurde nur zur Elle des andern gebraucht (denn Größe ist relativ), und man blieb zuletzt gleichgültig, wenn ein solcher großer Mann einem die Ehre antat und einen Löffel Suppe mit aß. Hat nun ein ganzes Volk von Riesen die Vergrößerung eines Parnasses im Ernste vor und wirft jeder seinen Musenberg mit zu den Musenbergen der andern hinauf: so wird ja wohl ein solcher Parnaß am Ende selber ein Riese unter den Parnassen werden müssen. Und das wurde der deutsche denn wirklich, und zwar so sehr, daß mir, wenn ich oben auf ihm stand und mich umsah, der gallische nicht viel größer vorkam als dessen Fußtritt. Wir Deutsche machten darnach fast in ganz Deutschland und sogar gerade unter demselben, in Nordamerika – weil unsere Truppen die besten Produkte des Genies in der Tasche mitbrachten – Epoche, und unsere Meßlieferungen wurden ebenso gierig von uns verschlungen als nachher von der Zeit. Wer einen feinen Gaumen hatte, ließ sich ästhetischen Schnepfendreck zynischer Dichter geben, so wie jetzt das trockne album graecum der griechenzenden Kritiker und Poeten offizinell ist. Wir übersetzten nicht mehr ins Deutsche, wie sonst, sondern ins Französische und niemand als uns selber. Wir waren alle originell und ahmten nicht mehr ausländischen Skribenten, sondern uns untereinander selber nach, und noch dazu nur solchen Autoren, die großen Briten nachgeahmt hatten. Echter Stolz war damals häufig und gemein, und ich erinnere mich noch, daß ich mir nichts sowohl aus dem schriftssässigen als amtssässigen Adel machte, wenn er vor mir vorbeiritt. Die meisten setzten aus Virtuosenlaune nicht eher einen Vers auf, als bis sie nichts mehr anzuziehen hatten, gerade entgegengesetzt den Sangvögeln, die eben in der Mauserzeit zu singen aufhören. Verse und Prose waren hart, aber die Herzen weich, obwohl grob – ja die meisten liebten alle Menschen und Tiere und nahmen nur die Rezensenten aus: Genies mit Tränen in den Augen teilten auf den Straßen Prügel aus und Scheltworte auf dem Papier. Es wurde alles vereinigt, weil Kraft da war, gesottene Hechte mit den Schwänzen im Maul waren kein Wunder mehr. Kalte, hohle Köpfe, Hohlspiegel aus Stroh, Holz, Eis stellten sich hin und setzten das halbe Publikum in Brand, und eine publica die Spiegel. – Kein Geist von einigem Gehalt setzte einen Fuß in eine Universitätsbibliothek, und der lange Streit, ob Shakespeare gelehrt war oder nicht, fiel über diese Stief-Shakespeares völlig hinweg, da man so nahe an ihnen als Zeitgenosse lebte und wußte, was sie wußten, welches jetzt auch der Fall mit den Kantianern ist.Ich muß dieses ausdrücklich gegen künftige Dutens erinnern, vor deren künstlichen Anklagen philosophischer Reminiszenzen und Plagien eben nichts kräftiger rettet als das Alibi, wenn man ihnen durch Spuren der Unwissenheit leicht beweisen kann, daß man nichts gelesen. Manche gaben sich gar nicht die Mühe (zumal im Trauerspiel) und waren bei Sinnen – andere fragten den Henker nach Komma und Kolon, sondern schrieben geradeaus, nämlich in Gedankenstrichen, wie Pitteri seine Kupfer bloß in geraden Linien sticht. – Ein weitläufiger Anverwandter von mir setzte gar zwei Gedankenstriche übereinander wie ein Parallellineal, verewigte sich aber wenig. – Beim Himmel! die Zeit sollte noch sein! – Setzten nicht mehrere damalige Tragödiensteller gleich Gauklern den Dolch der Melpomene bald auf ihre Nase, bald auf die Stirne und trugen ihn auf dem Glied und tanzten darunter über die Bühne zum Erstaunen der Zuschauer? – Großer Himmel! das ist noch wenig – des Genies hatten wir alle mehr als genug – Poeten ließen rötliche Stiefel besohlen und liefen in Gottes freie Natur hinaus und kamen mit den herrlichsten Kreidenzeichnungen davon in der Tasche unter das Tor zurück – mein doppelt gestrichner Vetter nahm ein falsches spanisches Rohr und schlug einen alten Silbenstecher braun und blau gewürfelt – Tausende vergaßen im Tumulte alles, besonders tote Sprachen und lebendige, und führten ein Warenlager von Welten bei sich, die gelehrte ausgenommen, und schrieben bloß in abgerissenen Gedanken und in abgerissenen Hosen – wegen der Menge herrlicher Werke mochte sie kein Mensch mehr haben vor Ekel...

Und das war der Teufel! – Der Parnaß ist nun ein ausgebrannter Vulkan; und wo haben wohl jene Männer, die aus Goethes Esse funkelnd stoben, ihren Glanz und ihre Wärme gelassen? Sollt' es wahr sein, was ich behaupte, daß sie jetzt den Planeten gleichen, die nach Buffons System, als sie eben von der Sonne abgesprungen waren, noch gleich ihrer Mutter glänzten und brannten, allein bald darauf aus Sonnenkindern zu Erden zu erbleichen anfingen und zu erkalten noch fortfahren? – Leider ist das wahr, und unsern Himmel verschönert bloß noch eine Sonne.

Ich schwöre nicht, daß nicht nach hundert Jahren auch der alte Kant so allein, wie Klopstocks Sonne mitten in der Erde, an seinem unterirdischen Himmel steht.

Aber das gute Publikum kann für nichts, sondern die Rezensenten haben den Parnaß unterhöhlet: beides will ich jetzt mit mehr Anmut beweisen, als die Sache brauchte.

Wäre das Publikum nicht selber mein Leser, so könnt' ichs hier freier loben und mit weniger Verdacht: jetzt darf ich bloß sagen, es wäre zu wünschen, die Franzosen, die Spanier, die Neuspanier, die Neuseeländer hätten die gedachten genialischen Quimbus-FlestrumsMensch-Berg, wie die Lilliputer den Gulliver hießen. unserem Musenberg mit so vielem Eifer erhalten wollen, als die Deutschen wirklich taten. Brachten sie den jungen Flestrums nicht Gold, Weihrauch und Myrrhen, indes Kritiker nach bethlehemitischem Kindermord auszogen? – Lasen sie nicht so lange an den Sachen, als es ging, und standen unter der Verdauung, die bei reizbaren Magen allezeit ein Fieber wird, ein hitziges aus? – Und in der Tat nichts Geringeres war von einem Publikum zu erwarten, das für echten Bombast (im guten Sinn) vielleicht mehr wahren Geschmack besitzt als ganz Paris zusammengenommen: denn wenn der ungekünstelte, einfältige, natürlich-rohe Geschmack nicht nur der richtigste, sondern auch der ist, der (wie die Orientaler sowohl als die alten nördlichen Völker beweisen) brennende dicke Farben, Quodlibets-Bilder und mäßige Übertreibung zu genießen weiß: so muß er doch wahrhaftig bei einem Lesepublikum – oder sonst nirgends – anzutreffen sein, das größtenteils aus jungen Leuten, Studenten, Kaufmannsdienern oder ungebildeten Geschäftsleuten besteht, kurz aus dem größern Teile der Romanenleser, ohne den alle Bücherverleiher (wie sie mir alle sagen) ihre Leihhäuser schließen müßten. – Überhaupt ist unser Publikum das amüsabelste Wesen von der Welt, und falls ein Buch nur nicht gar zu dumm oder gar zu gut ist, weiß es immer etwas daraus zu nehmen. Viele z. B. hielten die physiognomischen Reisen, als nur ein Teil heraus war, für einen neuen physiognomischen Erzgang und Schatzkasten: als sie hernach sahen, daß es nur Spaß war, waren sie schon mit der Ironie zufrieden.

Wahrhaftig das Publikum schafft sogar seinen Verstand beiseite, sobald er die weiße oder schwarze Magie eines Kraftprodukts zerstören will, und man antworte mir ernsthaft, ob und wenn es je wohl das Kolophonium, womit die Flestrums das Blitzen der Phantasie nachmachten, für Geigenharz, oder die harten Erbsen, mit deren trocknem Geräusche die Empfindsamen einen Tränenregen theatralisch gaben, für nichts als Erbsen gehalten. Ich will wenigstens hoffen, daß der Fall nicht oft war; aber bei einer genauern Untersuchung würde alles auf den einzigen auslaufen, daß der belletristische Akteur den Leser selber bei dem Arme nahm und in der Anziehstube und unter den Maschinenwerken herumführte: ich will damit sagen, daß die Flestrums sich zuletzt selber in Spötter der Flestrums verkehrten. Und dann ist Illusion ohne Sünde nicht mehr zu verlangen: denn jeder, der seinen Shakespeare gelesen, sage mir, ob er noch Schnock den Schreiner für einen Löwen zu halten in seiner Gewalt habe, wenn der Schreiner in der Löwenhaut ans Orchester kriecht und selber fleht, man möge ihn für einen zünftigen Schreinermeister, und für keinen Leuen ansehen?

Überhaupt wer auf das Publikum die Schuld des gesunknen Flestrums-Alters bringen will: der muß beweisen können, daß es seinen so reinen damaligen Geschmack seitdem geändert habe. Aber hier, hoff' ich, leistet uns sein jetziger so allgemeiner und entschiedner Geschmack für die gleichsam von Schildknappen abgefaßten Rittergeschichten – diese besten transzendenten Tabagien –, für Spuk- und Mordgeschichten und für Sprach-Furiosos Gewähr, daß es noch so ist, wie es war; und daß es noch jetzt allen jenen so verschrienen vulkanischen Produkten würde Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn sie allemal – welches oft die elendesten jetzigen vor ihnen voraushaben – in diesem Jahre gedruckt wären. Sein ganzer scheinbarer Abfall von seinen Gottheiten ist ein bloßer Tausch ihrer Statuen; es hat, wie im Christentum die heidnischen Proselytenvölker, Zeremonien und Tempel und Bildsäulen beibehalten und nur die Namen schwach verändert. Der Dalai Lama, der seine Erzeugnisse dem Leser zuwirft, ändert diese wenig ab, und er selber setzet sich gewissermaßen durch die Sukzession ähnlicher Repräsentanten unverändert fort.

Wer ist also am Unheil schuld? – Die Rezensenten, welche die Zunge des Publikums, da sie dessen Zungenbänder in Händen haben, falsch regierten, so daß es damit den Tadel von Werken nachsprechen mußte, die es immer schätzen wird. Die katholischen Geistlichen erteilen, die protestantischen verkündigen nur die Vergebung der Sünden; in Hinsicht der literarischen Sünden ist Deutschland von Gallien gerade das Widerspiel des Urteils wie der Beichte: dort kündigen die Kritiker die vergebenden Urteile des Publikums an, bei uns machen sie solche. Diese Biegsamkeit, wodurch sich die Kehle des Publikums so leicht zu einem Sprachrohre der Journalistika erweitert, ist so wenig ein Fehler oder für uns Autoren ein Unglück, daß wir eben von dieser Biegsamkeit den größten Vorteil ziehen könnten, wenn wir uns die Mühe gäben und selber das öffentlich mit Beifall aufnähmen und anzeigten, was wir geschrieben, und gleichsam so viele tausend Hände als Laubbrecher des Lorbeers handhabten. Sehr beschämen uns die Buchhändler, die von ihrem Loben unserer Sachen wenig haben, und die gleichwohl uns im höchsten Grade öffentlich preisen, weil sie wissen, wie sehr das Publikum so etwas unter dem Publikum weitergibt. Und wie schlecht bestehen gegen solche Buchhändler Autoren, die lieber Briefe voll Lob auf sich selber einem ehrwürdigen Publikum andichten, als durch Selbstrezensionen es in den Stand setzen wollen, ihnen dieses Lob mit eignem Munde und mit voller Überzeugung zu erteilen.

Andere Nationen haben das deutsche Publikum nicht und behelfen sich schlecht. Besäße die gallische es: hätte man wohl einem Autor, dessen Theaterstücke niemand beklatschte, nach Mercier den Rat zu geben gebraucht, sich (wie Nero eigentlich tat) eine Maschine zu bestellen, die ein guter Freund von ihm in einem Winkel des Schauspielhauses aufsetzen und umtreiben sollte, um mit ihr für die bessern Stellen das Klatschen von hundert Händen – wie es denn in der Tat dasselbe ist, ob Fleisch und Bein oder Holz und Leder den Schall erzeugen – spielend nachzumachen? – Wäre ein solcher Rat in Deutschland nötig gewesen? Ich will hier gar nicht das deutsche Publikum auf Kosten des gallischen und der guten Skribenten erheben, zumal da ich selber von der Zahl der letztern bin; aber das lasse man mich frei erklären, daß wir Skribenten es nicht verdienen, eine ebenso gute, wenn nicht bessere und größere Klatschmaschine – die uns nicht einen Groschen Macherlohn kostet – an unserem Publikum selber zu besitzen, dessen tausend laute Hände wir schon durch eine einzige Feder spielen und wie eine Bandmühle durch einen bloßen Knaben bewegen und beherrschen lassen können. Mit drei Worten und damit aus: bloß weil wir zu träge waren, uns ein Lob zu erteilen, bekamen wir keines und glichen sonach den großen Römern im Fehlen und Büßen, die ebenfalls (nach Sallusts Bemerkung) weniger der Mangel an großen Taten als der an großen Lobrednern derselben unter die Griechen herunterzustellen geschienen.

So weit mein sechstes Werk vor Nürnberg.

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