Jean Paul
Palingenesien
Jean Paul

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Statuten der historischen Sozietäten in Baireuth, Hof, Erlangen und andern Städten.

»Es gibt meines Wissens keinen szientifischen Zweig, der sich rühmen kann, so ausgebreitet – ich meine von 2300 deutschen Städten, noch mehrerern Marktflecken und von 82000 Dörfern – oder so allgemein – kein Stand, kein Geschlecht, kein Alter ist ausgenommen – oder so unausgesetzt – nämlich jahraus, jahrein, an Buß-, Hochzeit- und Sterbetagen – und so eifrig – weil viele gar nichts anders machen und darein versenkt wie Sokrates und Archimedes auf den Gassen stehen – bearbeitet zu werden als die Geschichte. Ich spreche hier nicht von der alten Geschichte – obgleich bisher jedes Jahr aus dem Flügel der Zeit eine Feder zog und damit eine neue alte schrieb, so daß einer schon viele historische Kenntnisse von den neuern Zeiten hat, der weiß, was darin über die ältesten geschrieben worden –, sondern ich meine die neueste, die vaterländische, vaterstädtische, für die es jetzt, nach Maupertuis' vorgeschlagnem Muster einer lateinischen Stadt, ordentliche historische Städte gibt. Wenn auf den dicksten Ästen des Baums der historischen Erkenntnis ganze Akademien horsten, und Zeitungs- und Programmenschreiber als Schneidervögel auf dessen dünnsten äußersten Zweigen nisten: so seh' ich die historischen Blattminierer die Blätter desselben bewohnen und bearbeiten und gut verdauen. Doch glaub' ich, würde dieses Studium der neuesten Geschichte zu wenig oder nichts geführet haben ohne die spezialhistorischen Sozietäten, die ich beschreiben will.

Die Akademisten derselben halten ihre Sessionen, wie es trifft. Keiner hat etwas aufgeschrieben, sondern sagt seine Ausarbeitung auswendig her. Ein Geschichtsforscher dieser Art und noch mehr seine Frau, die Geschichtsforscherin, sieht nichts für unbedeutend an und schildert nicht, wie Rousseau der Historie vorwirft, Könige und Kriege, sondern den Menschen im Schlafrock. Sie liefern zwar die Walchische Kirchen- und Ketzergeschichte dasiger Geistlichkeit, Fischers Geschichte des Höfer, Baireuther etc. Handels oder die Statistik eines einzelnen Hauses, seiner Tafelgüter, seiner Nationalschulden, seiner Regierungsform, aber sie denken darum nicht von dem Martyrologium hohler Zähne, von den Confessions eines Wochenkindes oder von den Personalien einer Schoßkatze geringe. – Synchronologie fodert ihren eignen Mann und ihre eigne Frau, nämlich eine alte. Manche tragen aus Liebe zur Wahrheit wie Xenophon und Cäsar keine Geschichte vor als ihre eigne. Viele bearbeiten den historischen Roman und fingieren gut. Redliche Konsistorialräte schwärzen nicht wie Bahrdt in Halle Dogmatik unter dem Namen Kirchengeschichte ein, sondern Kirchengeschichte unter dem Namen Dogmatik und machen Ketzereien zum Vehikel der Personalien. – Die besondern Konzilien der einen Gasse liefern ihre Konzilienakten an die Konzilien der andern ab und diese an jene. – Verscheidet ein Inwohner, so fängt der Geschichts-Ort erst recht an zu leben und geht hin und verfaßt den Nekrolog oder auch das Tyburn Chronicle. – Will einer ans Licht der Welt, so ist man, eh' ers erblickt, imstande, eine so gute Biographie von ihm zu liefern, als die Portugiesen von der Marie abfaßten, da sie noch im Mutterleibe der heiligen Anna war.Jung in seinen Nachrichten von der portugiesischen Literatur gibt wirklich S. 28 von einer solchen Biographie, ja von einer Epopöe de conceptione Mariae Nachricht. – Büschings wöchentliche Nachrichten liefert jede Frau, die Sonntags einen Kopf und einen Friseur dazu hat, und ihre eheliche Treue ist oft bei seiner historischen. – –

Außer den historischen Hülfswissenschaften – der Archäologie, Genealogie, Münzwissenschaft – hat ein solcher Spezial-Livius (oder Livia), Spezial-Cornelius (oder Cornelia), Gibbon (oder Miß Gibbon) noch die besten korrespondierenden Mitglieder, nämlich die Bedienten, die Wartfrau, die Hebamme, den Balbier und die Mamsell. – Wie Ritter Michaelis denen, die nach dem Orient reiseten, wichtige Fragen mitgab, so zeigen Stadt- und Gassenhistoriker ihren Kindern die erheblichern historischen Lücken an, die sie in fremden Häusern auszufüllen haben. Ja machen sie sich nicht selber auf und bereisen, wie griechische Geschichtschreiber die Länder ihrer Annalen, die Häuser derer öfters, an deren Chronik sie gehen wollen? Ist das Kirchengehen – so wie die alten Historiker ihre große Tour oft durch Tempel nahmen, um aus ihren Inschriften einzuernten – nicht ebensosehr den historischen Kenntnissen bestimmt als den religiösen? – Und ist denn nicht jeder Tanzsaal, jede Frontloge, jeder Lustort, jeder Eßsaal ein Salon de la correspondance wie der des Herrn de la Blancherie in Paris? –

Es gibt dann wenige, die in der akademischen Sitzung ihre Ephemeriden nicht in jenem einfältigen Stile des Polybs vortragen, den Monboddo so hoch über Tacitus seinen stellt. Die Hauptfoderung, die Dionys von Halikarnaß an Historiker macht, als solche keine Religion, keine Freundschaft und kein Vaterland zu haben, befriedigen viele. Anlangend ihre Wahrhaftigkeit, so ist sie vielleicht nicht klein, wenn die Erfahrung wahr ist, daß jeder dem andern widerspricht; denn wenn Chrysostomus schon aus der so wenig bedeutenden Disharmonie der Evangelisten auf ihre Glaubwürdigkeit zu schließen riet, weil sie den Verdacht der Verabredung abwendet, so lass' ich jeden selber ermessen, wie groß erst die Glaubwürdigkeit von Historikern sein mag, deren Disharmonie zehnmal größer ist und also der Argwohn der Verabredung zehnmal geringer.«...

So weit war ich, als ich merkte, daß man an einigen Tischen über mein Schreiben rede; ich fuhr aber gelassen fort:

»Viele solcher Rhapsoden mengen in ihre Spezial-Quotidienne, gleich Voltairen, Satire oder sogenannte Verleumdung; aber sie billigen nie die Verleumdungen anderer Spezialhistoriker, ja sie klagen über die Medisance der Stadt. So loben und beleidigen jetzige Dichter die Tugend auf einem Blatte. Überhaupt achten Poeten, Philosophen und deren Leser die Tugend wie die Mexikaner ihr unsägliches Gold so hoch, daß sie jene, wie die Amerikaner dieses, bloß zur Ausschmückung der Tempel verbrauchen und aus Ehrfurcht nicht als Kurrentgeld im Handel und Wandel kursieren lassen...«

Jetzt gingen zwei herrlich eingekleidete Herren nahe vorbei und lachten den Schreiber der Reise-Anzeiger aus; er fuhr aber gelassen fort, wiewohl mit weniger Zusammenhang:

»Immer mehr Gift find' ich in Historikern, in Arsenik und in Brillen-Schlangen, je heller und schöner ihre Außenseite ist. Wenn daher der römische Prätor seinen Purpur- und Galarock abwarf, um jemand zu verdammen: so zieht man jetzt eben den besten an, wenn man ausgeht, über jemand den Stab zu brechen. Und überhaupt schenk' ich dem Elegant mein ganzes Mitleiden und kann ihm doch nicht helfen. Was hat ein solcher Mensch getan, daß ihm jeden Morgen – in Gerichtsstuben die gewöhnliche Zeit der Folter – der Haarkräusler mit glühenden Zangen die tadellosen Haare zwickt und ihm einen dänischen Mantel oder Marterkittel (den Pudermantel) umhängt – daß ihm der Schuster an die kranken Füße, da der Kriminalist sonst nur gesunde foltert, enge Schuhe, d. h. kürzere spanische Stiefel anlegt? Ist es erlaubt, daß ein solcher büßender Bruder – angeschlossen ans Zank- und Halseisen der Wulst-Krawatte, liegend in der tratto di corda der Strumpfbänder und knappen Doppel-Hosen, und überhaupt an Haupt und Haar, an Hals und Hand zugleich gestraft – die Dornenkrone aus Haarnadeln oder Papillotten oder engem Filze aufbekömmt, daß ihm ein Herodes-Purpurmantel und ein Sanskulotten-Zepter zur Schmach gegeben wird – daß er Essig an seinem Kreuze fodert (um seine Taille mager zu machen) und daß er so den ganzen Tag gekreuzigt wird, bis er abends das Haupt neigt und – einschläft? Warum, wenn die Kartesianer die Tiere darum für Maschinen erklärten, weil ihre Martern sich im Falle der Empfindung nicht mit ihrer Unschuld reimen ließen, warum hilft man sich nicht ebensogut bei den schuldlosen Blutzeugen des Putzes, denen ein ebenso herbes Schicksal als den Tieren beschieden ist, und nimmt an, daß sie ebensogut Maschinen sind ohne die geringste Empfindung?«...

Jetzt wurd' es immer leerer und stiller um mich; ich fuhr aber kaltsinnig fort:

»Mich dünkt (damit ich wieder zurückkomme), nur eine solche Vereinigung von Historikern und deren Sessionen (wofür sie nicht wie die vierzig Akademiker in Paris von jeder einen Silberpfennig bekommen, sondern nur das wenige, was sie wie in einem Weinberg mehr in den Mund als in die Tasche stecken) konnte es möglich, nur eine solche Zahl von Mitarbeitern – die selten kleiner ist als die der Volksmenge in einer Stadt und die also meistens größer ist als die der achtundzwanzigtausend französischer Geschichtsschreiber, welche Le Long namentlich aufführt – konnt' es wirklich machen, daß jede spezialhistorische Gasse weiß, wie viel Rockknöpfe, geheime Schulden, Hoffnungen, Hemden, Kinder und Briefe jeder gegebene Mensch hat. Spezialhistorischen Korporationen und Primärversammlungen würd' es z. B. ein Leichtes sein, von Stußen folgendes drei Stunden nach seiner Ankunft ausgemittelt zu haben: 'Ein Hornrichter ist der Mensch? und hat in Nürnberg gelernt und pekziert? Das lass' ich zu. – Metzger hieß sein Nürnberger Meister? So! – Er sieht nichts gleich, und viel hat er wohl nicht im Mantelsack? Nicht? – Der Mensch soll schon tolles Zeug geschrieben haben; wie?' – Das war aber ich, nicht Stuß.

Es wäre unbegreiflich, warum aus so vielen mündlichen Nouvelles à la main nicht mehrere Vorteile für die große chronique scandaleuse der Menschheit, für die Weltgeschichte gewonnen würden, wenn man nicht wüßte, daß die kleinern ärgerlichen Chroniken nie gedruckt werden, und zwar aus einem sonderbaren Naturgesetz.

Es ist dieses, daß das Wunderbare und Wichtige die Menschen nur im umgekehrten Verhältnis seiner Entfernung reizt. Z. B. für die Stadt selber ist immer die Geburt eines Kindes interessant genug; aber zwei Wersten davon tuns nur Zwillinge, drei Wersten Drillinge, und so muß man mit den Wersten die Geburten häufen, die zuletzt ohne Abbruch des Interesse gar keine Menschen mehr sein können, sondern greuliche Mißgeburten. Lieber prügle ein in Baireuth angemessener Mann seinen Bedienten obenhin aus – oder ein Schutzverwandter seine Frau, ich seh' es lieber und werde mein Referat davon den Baireuthern mit größerem Glücke machen, als wenn ein Westindier seinen Neger zerschnitzt und lebendig gerbt und ich mit der Nachricht davon zu gefallen habe: ja wenn er mit den größten Qualen den Schwarzen durch eine Dampfnudelmaschine preßte, so bliebe doch immer Westindien außer der Stadt. So geht die Geschichte mit zunehmender Nähe und abnehmenden Wundern und bleibendem Interesse von Herschels Universalhistorie des Universums durch die Reichsgeschichte der Erde in die Gassengeschichte – Eckhausephemeriden – Alkoven-Moniteurs – Bette-Pseudoevangelien und noch weiter herab bis zu dem Universitätsroman, den ich einmal mit einem Mädchen in einem Muffe spielte. Ich glaube, ich werde nachher den Roman der Welt vergönnen, aber vorher ist noch eine durchdachte Erklärung des vorigen Phänomens zu geben. Sie ist diese, daß ein fremdes Ich als Ich, ohne Rücksicht auf Menschenliebe und Eigennutz, eine solche Allmacht an uns ausübt, daß Wahrheiten – daher die Wirkung dramatischer Einkleidungen – und Tugenden – daher die Allgewalt der Beispiele – und die ganze physische WeltSogar die großen Erscheinungen des körperlichen Weltalles nehmen einen Teil ihres Reizes von der heimlich zu einem Ich personifizierten Natur oder vom Glauben her, daß sie Äußerungen des unendlichen Ur-Ichs sind. erst als Zustände eines Ichs uns am tiefsten ergreifen. Daher kommt die Neigung der Gelehrten für Literargeschichte und Johnsons Erhebung der Biographie über die Welthistorie, weil in dieser die Geisterwelt unkenntlicher ferner Ichs in eine bloße verworrene Körper- und Schattenwelt zerläuft. In den Spezialkarten und in den Spezialhistorien stecken, wenn sie alle da sind, die allgemeinen, aber nicht umgekehrt; allein in diesem Sinn gibt es nur einen einzigen Spezialhistoriker und Geographen, den Urheber des gelehrten Deutschlands sowohl als des ungelehrten und der übrigen Welten.«

 
Ich sah' auf, und es waren alle Baireuther fort, nur eine Frau schauete sich noch im Wagenfußtritt um und erwog, ob sie mich kenne. Ich kannte sie recht gut, es war dieselbe Betta (Lieschen), mit der ich im gedachten Muff den Universitäts-Roman gespielet und mich darin verlobet hatte. Sie hatte sich nachher auch außerhalb des Muffes mit einem gewissen Herrn P. verlobt und ihn allein geheiratet. Ich will meine Sponsalien im Federmuff dem Leser geben, da sie ohnehin mein fünftes Werk vor Nürnberg sind:


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