Jean Paul
Palingenesien
Jean Paul

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Mens sana in corpore insano.

»Einem Gelehrten fehlet immer etwas, entweder die Farbe – oder der Atem – oder die peristaltische Bewegung – oder der Magensaft – oder der sogenannte gesunde Verstand; wie die Juden (zum Andenken des ruinierten Jerusalems) an ihren Häusern etwas unausgebauet stehen lassen oder wie aus einer gewissen bekannten Galerie nach einer Inhibitiv-Bulle (zum Andenken der verstümmelten Antiken) nur amputierte Nachbilder und Krüppelkopien ausgehen dürfen, denen zu Hause der Kopist erst die Füße oder die Hände oder die Köpfe anschient. Griechen und Römer, bei denen die körperliche Gesundheit der geistigen mehr Vorschub als Eintrag tat und die den tierischen Leib und die menschliche Seele miteinander unterwiesen und hoben, wie in der Reitschule zugleich die Pferde und die Scholaren reiten lernen, diese Nationen können vielleicht keinen andern Vorteil von dieser Schulfreundschaft zwischen unsern beiden zankenden Teilen aufzeigen als den, daß der Mensch damals gleich gut dachte und handelte. Aber der Gelehrte soll eben besser denken, als er handeln kann, er soll eben seine Stärke, wie der Tolle, oder sein Werk, wie der Instinkt, der siechen Einseitigkeit verdanken. Man schieße lieber den einzigen Kopf zur Bildung aus, wie die Juden an Gänsen die Leber zum Mästen, worein eben die Auguren das Ich verlegten. Zwerge haben große Köpfe; man sorge also zuvörderst für Zwerg-Rümpfe. Eben alsdann werden in den niedrigsten Wechselbälgen unsers Handelns niemals edle Ahnenbilder glänzender Entschlüsse fehlen, weil gerade die körperliche Gebrechlichkeit uns an Vorsätzen erstattet, was sie uns an Taten benimmt. Genie und Krankheit sind so sehr Milchbrüder, daß in unsern Tagen Männer von Talent sich häufig den giftigsten Ausschweifungen unterziehen, bloß weil sie ihrer satirischen Schärfe mit ihrer skorbutischen, und mit den Nervenfiebern den Nervengeistern nachzuhelfen denken: so impfte Linné auf dieselbe Art den Perlenmuscheln – die desto mehr Perlen ballen und liefern, je kränker sie sind – künstliche fruchtbringende Krankheiten ein.«
 

In drei Terzien sieht Deutschland mich und den Boten reisefertig unter der Tür. Nachdem der disharmonische Sonnabend ausgehalten war, wo ich die häuslichen einheimischen Gefühle, die ich von den für das Fest aufgerichteten Thron- und Futtergerüsten erhielt, immer durch die weltbürgerlichen einbüßte, die mir der Reise-Bündel zuführte: so tat es mir am Ostermorgen viele Dienste, daß ich aus meiner weichen Schneckenhaut eine steinerne Schale ausschwitzte und mich damit überzog; ich wollte durchaus nicht eher gerührt sein als bei meiner Retour, und da desto heftiger. Ich behielt deswegen immer den Botenmeister Stuß im Zimmer, der geschmackvoll in einem geschenkten Paar grünplüschenen Hosen erschien, aus deren Wiesenrund die Sense der Zeit ganze lange grüne Ränder noch nicht ausgemähet hatte. Hermine sagte auf einmal mit leiser, aber wankender Stimme (die immer Neben-Monde des Gedankens anzeigt): »Vergiß vor Streitberg unsern Rosenhof und die Rosensonne nicht; sie blühen vielleicht dieses Jahr – und du kommst wohl morgen abends hin?« – »Beides!« sagt' ich; aber ich ging hinaus. Ich will nur in der Eile dem Leser berichten, daß ich – als ich einmal mit ihr auf jener Anhöhe die Sonne wie einen Apollo aus diesem Arkadien gehen sah, der unter der Trennung ein Gott wurde und glühend verschwand – auf meinem und ihrem Standort eine wachsende Spur zu lassen suchte, indem ich Zimtrosensamen so enge und rund und Samen von weißen Rosen so weit und zirkelförmig steckte, daß die Blumen des erstern einmal eine purpurne Sonnenscheibe und die weißen einen bleichen Kranz oder Hof um sie bilden konnten. Ich ging hinaus, halb als Petrus, halb als Judas, und der Gottseibeiuns war bei mir. Als ich mir draußen einige Fühlfäden abgeschnitten hatte, die ich nicht eher regenerieren wollte als unterwegs: kam ich wieder hinein und fand sie redend neben dem Hornrichter, dem sie – mutmaßt' ich damals – Sorge und Fleiß für ihren ehelichen, zur Salzsäule angeschossenen Loth empfohlen hatte, der wie ein Gewitter gerade bei dem Abzuge am schlimmsten war. Beim Himmel! auf demselben Mensch wachsen, wie auf einem Weinberg, oft viererlei Weine, auf der Mittagsseite der herrlichste und auf der Nordseite einer, der nicht zu trinken ist.

Endlich wurde geschieden, und ich vertröstete mich darauf, daß ich bei meiner Ankunft den Abschied nachholen würde. Ich weiß es, daß oft das verhüllte überbauete weibliche Herz voll Tränen hängt wie die von der Glocke überdeckte Blume voll Tau; aber Hermine, mit welchen hellen warmen Marientagen wird nicht deine Natalie dein doppeltes Siechen umgeben und das Regenwetter verjagen, das dem Blühen deines Weinbergs Schaden täte! Wie arkadisch und in reiner Himmelsluft mehr schwimmend als fliegend werdet ihr Ostern verträumen! Gleich Tönen, die geräumig und leicht und unverworren und doch verbunden in der Luft ihr wiegendes Leben führen, so werden euere Gefühle und Wünsche und Stunden nahe, frei, leicht, harmonisch und doch unterschieden nebeneinander schweben und verklingen!Weibliche Freundschaft ist zwar seltener als unsere, aber dann auch zärter: unsere grenzt nicht so nahe an Liebe – da wir einander nur im Widerschein der Taten lieben – als die weibliche, da die Freundin von der Freundin (wie vom Liebhaber) weniger die Beweise als die Äußerungen der Liebe begehrt und die Liebe fast nur fodert, um eine zu fühlen und zu erwidern.
Und als mir das Kirchengeläute durch das Himmelsblau noch einige Nachklänge des zurückweichenden Lebens nachwarf und an der Stadt das, was Tithon behielt, hinter mir starb, ihre Stimme: so sagt' ich: jetzt zieht vielleicht Natalie das gefüllte Herz der Guten an ihres und lässet sie weinen, ohne zu fragen worüber. – –

Welcher frische kräftige Morgen! – Wie schrumpfen in dem weiten Gebäude der Natur unsere Schnittwunden zu roten Mückenstichen ein! Hier fühlet man es, daß unser Geschrei über jeden Stich des Lebens höhern Wesen in diesem Tempel klingen muß wie uns in der Kirche unter dem Nachdenken über große Gedanken der Aufschrei eines Kindes.

Nach Leid kömmt Freude, die Sonne tanzt am Ostertage, die der Karfreitag verfinsterte. Und in der Tat war unsere die Vortänzerin, und ich und der Bote tanzten nach. Ich würde mich freuen, wären ich und Stuß auf Glas gemalt und steckten in einer magischen Laterne, und der Leser könnte unsere marmorierten Schatten über die lichte Wand weglaufen sehen – erstlich mich voraus mit dem langen geschwenkten Dintenfaß des Stocks, wie ich freudig den Kopf im Sonntagsmorgen umherwerfe, weil mir das Schicksal die vollsten Blumenrabatten der Freude immer an den Straßendämmen herumsäet (daher kann mein künftiger Himmel in bloßen Durchmärschen durch Himmel bestehen) – zweitens den Hornrichter, wie er nachschreitet und nachträgt in einem geschenkten knappen Jagdkleide und mit einem Spazierknüttel, um seinen Reiseprinzipal in der Not zu decken, und wie er die Spitzsäule eines Morgenbrots anbeißet – und endlich uns zusammen, wie wir auf der erhelleten Wand bald hinter grünen Bäumen, bald hinter kouleurten Staketen, bald hinter offnen Scheuern hervorkommen, bis wir uns in die runde Nacht des Laternenrands verlieren. – –

Da meine Reiseträume, wie ein Geisterschatz, bei jedem fremden Worte zurücksinken und verschwinden: so durfte der Träger nicht reden, aber gar wohl (wie in kleinern Kirchen) in den Wäldern singen. Es wäre zu wünschen, ich könnte der musikalischen Welt die Partitur seines schmetternden Singspiels, worin er das fröhliche sorgenlose Wandern der Handwerkspursche besang, aus der Rellstabischen Musikhandlung mitteilen: – welche Vollstimmigkeit! Die Zugvögel hatten die zweite Stimme – der Wind rauschte durch alle gedackte Register des Waldes – die Türme der Dörfer läuteten mit zergangenen Chortönen darein und ich ging als Echo voraus mit vier Gehirnkammern, als vier Schallgewölben, worin die Klänge wachsend umliefen.

Weil Stuß dem Portier des Höfer Tors aus Spaß berichtet hatte, er wandere wieder mit dem Wanderbündel: so hatt' ich seiner Kehle unter der ganzen Kantate den Text meiner Phantasien, die sich bloß auf seine Wander- und Jugendjahre bezogen, untergelegt. Ich erinnere mich fast gerührter und lieber der fremden Erinnerung, des Morgenhimmels einer fremden Jugend – und gehe dabei mit dem Cyanometer oder Himmelsblaumesser zu Werk –, als ich mich nach meinem eignen Osten umkehre. »Im Ehestand singt Er aus einem andern Tone, Meister?« sagt' ich zum Weibergesellen. »Was will man machen?« versetzt' er mit der lustigsten Ergebung, womit der gemeine Mann so oft unsere unersättlichen Bittschriften um vermehrten Lebens-Gehalt beschämt. Ich suchte gegen seine Singstimme gerecht zu sein. »Im roten Roß« (sagt' er und meinte den Gasthof) »loben sie mein Singen sehr; und ich schreie mir oft an zweiten Feiertagen die Lunge entzwei. Denn was ein ordentlicher Mann ist, bleibt am ersten zu Hause und trinkt seinen Krug Bier viel lieber mit seiner Frau und Kind: ich kann nicht so sein wie manche.«

Jetzt war Mittag und Berneck da und der Eßtisch. Der Meistersänger holte seinen Brottorso heraus und wollte drei Quärge fodern – denn nach meinem hanseatischen Fürstenbund mit ihm sollt' er bloß von seinem Gelde leben –; aber wie hätte das ein Oberhaupt verstatten können, dem heute der Himmel voll welscher Viole d'amours und anderer Instrumente hing? Und hätte mich nicht wenigstens sein Donum zu einer Änderung der capitulatio perpetua vermocht, daß er nie zwei Dinge satt bekam, das Leben und das Essen im Leben? Denn ich verlange wenigstens keinen Boots- und Hausknecht in die Kost, der diese wie ein stummer Knecht nur bringt und nicht braucht, und der in den Magen ein so philosophisches Anatomiermesser wie sein Befehlshaber setzt. Die offne Tafel eines Fürsten ist ein fataler sättigender Anblick, aber die des Volks ist ein schöner voll Magensaft. Mein Bedienter, sagt Voltaire, soll einen Teufel haben; – wenigstens einen Magen, sag' ich. Stuß hatte beides. »Es kommt doch meinem Leib zugut«, sagt das Volk, wenn von der Wahl zwischen Essen und anderem Genuß die Rede ist, und zeigt und schlägt auf den plexus solaris, wo Herr Fabre und Parmenides die Seele und die gemeinen Leute das Glück derselben suchen. Und müssen denn diese Armen nicht aus dem Körper und dessen Stärkungsmitteln zu viel machen, da ihre Ernährung von seiner abhängt und sie von diesem Nicht-Ich gerade die Schmerzen, die Freuden, die Unterstützung empfangen, die uns das Ich zuteilt?

Während der Häresiarch und Dozent der Glückseligkeitslehre, der Bote, im Treibkübel seines Leibes Freuden-Vergißmeinnicht statt der vorigen Distelköpfe des Hungers erzog, suchte sein Brotherr im Gasthof etwas zu verdienen und eine oder die andere Stelle in den Teufels-Papieren neu aufzulegen: mit einem besondern Vergnügen bau' ich mir aus jeder Passagierstube meine Studierstube. Ich hatt' aber lange keine Materie, bis ich endlich eine aus dem Glücksrad zog, und zwar – über das Rad selber. Mir gegenüber steckte die königlich-preußische Lottokollektion die herausgekommenen fünf Wunden-Nummern heraus. Auf einmal kam ein armer Teufel freudig in Dreihaar-Samthosen herein und berichtete, er hätte beinahe eine Terne gewonnen und nur immer um eine Zahl fehlgegriffen: »Statt meiner 15, 36, 79«, sagt, er, »hätt' ich nur 14, 37, 78 nehmen dürfen: ich muß es erzwingen, und sollte das Bett unter dem Leibe daraufgehen.« Daher sollt' auch jede Lottokollektion zugleich ein Pfandhaus, dieses Widerspiel eines britischen Assekuranzhauses für Möbel, sein; ja es sollte angenommen werden, wenn einer sich selber und Frau und Kinder ins Lotto einsetzen wollte: könnte dadurch nicht ein Regent die Untertanen insgesamt erspielen und damit machen, was er wollte? –

Der Samt mit seinen Knieglatzen machte endlich meinem Plüsch mit seinen – denn Plüsch und Samt dienen wie Pferde von oben herab, aus dem Lustschlosse ins Armenhaus, und oft bettelt Samt am Hofe und Samt vor der Türe – Lust zur Sache, und Stuß wollte in Baireuth sein heutiges Botenlohn daran wagen. Ich machte daher in Berneck weiter nichts als eine verbesserte Auflage vom Lobe der Lottos S. 368. Auf der Landstraße las ich ihm, bevor er ein Rädertier des Lottorads wurde, folgende Umarbeitung vor:


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