Jean Paul
Palingenesien
Jean Paul

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Unter lauter Kanzelliedern zogen ich und Stuß langsam aus Baireuth in den langen schönen, vor uns stehenden Tag hinein: in Fantaisie wurden bei unserm Eintritt die Glocken geläutet, sowohl im Dörfchen als in Baireuth, weil verschiedene Predigten aus waren. Aber in mir gingen sie erst recht an. Es kann mir Händel machen, daß ich bei den meisten schönen Partien des Parks – obgleich jede ihr weißes Kreuz mit einer Kalvarienüberschrift hatte, die keinen Leser ungewiß ließ, was es daran zu sehen gebe – wenig empfand, und daß mich das Gepfeife eines Höfer Schuhknechts, der hinter mir lustwandelte, stärker rührte als der Turm von Cleobis und Biton, le bout du monde, le banc du prince und le lac du comte (welcher ein ansehnlicher Teich ist). Es brennt mich nicht ganz weiß, daß ich freilich schon öfter auf meinen Fußreisen einem Handwerks-Magistranden oder –Gesellen, der pfiff, bewegt und träumend nachgegangen bin, weil ich mich von seinen Trompeterstückchen – da jede deutsche Stadt ihre eignen hat – in die mir unbekannten Gassen versetzen ließ, die er sonst an Festtagen fröhlich durchstrich. Der Mund-Flötenist war für mich in Rücksicht auf Hof (denn Stuß konnte für mich so wenig als ich selber ein solcher erinnernder Pfeifer sein) der graue Stein in Fantaisie, worauf steht: aux absens (den Abwesenden!). Da ich vor diesen Denkstein selber kam – und da ich daran dachte, daß auf den Grabsteinen (den Petrefakten unsers stückweise erstarrenden Lebens) auch nichts anders stehe – und da ich an so viele schöne Stellen, wo Natalie und Firmian ihre erste Vereinigung und ihre letzte Trennung gefeiert hatten, von meinen Träumen angeschrieben sah: »Auch wir waren in Arkadien!« – und da ich sogar Lenetten das Baireuther Blech mit der Inschrift: »Der Mensch entflieht, Ach liebe mich!« in ihren toten Händen hinunternehmen sah. so tat ich einen heiligen Schwur, daß ich noch heute in Streitberg Herminen einen Brief voll beichtender Liebe schreiben wollte. »Du hast«, sagt' ich zu mir, »Firmians und Lenettens Logomachien so gut geschildert: und jetzt treibst du es selber noch ärger. Ja wohl, Firmian, gleichen wir irrende Menschen solchen, die in Staubwolken gehen: jeder von ihnen glaubt, hart um ihn fliege der dünnste Staub oder gar keiner, und nur um die weiter Entfernten sei er dicht und erstickend; und diese denken wieder wie er.«

Jetzt wollt' ich recht mit mir zufrieden sein und mich über den holden Tag, wo sich die Schmetterlinge im Zephyr und die Lerchen im Himmelsblau zu baden schienen, und auf die Rosensonne und den Rosenhof vor Streitberg unbeschreiblich freuen: als auf einmal eine Belsazars-Hand aus meinen Gehirnkammern fuhr und an diese anschrieb: »Man kennt dich: du schaffst dir die Gewissensbisse durch dein Schreiben nur vom Halse, um den heutigen Tag, besonders den Streitberger Abend recht unvermischt zu schmecken.« Aber dieser unerwartete Vorwurf konnte nur mein Verdienst (d. i. meinen Stolz) beschneiden, aber nichts zu meinem Entschlusse zusetzen als den neuen, daß ich Herminen meine ganzen innern prozessualischen Weitläuftigkeiten – und meinen Mangel an opferndem Verdienst – und den ganzen Hokuspokus eines aus der Gaukeltasche eines zu warmen Herzens spielenden Mannes vorzutragen willens wurde.

Nun war ich glücklich. Inzwischen ist die Straße nach Streitberg so abscheulich wie die nach allen Himmeln: wer zum Sternenhimmel auf ärostatischen Kugeln zu größern aufwill, erfriert vorher – um den katholischen Himmel liegt das Fegefeuer, und rings um den jüdischen die Hölle selber (nach den Rabbinen). Gerade ehe sich die Himmelskarte der Streitberger Landschaft auffaltet, hat man vorher aus einer untersten Dantes-Hölle bergauf zu klettern. Bedenklich schauete sich Stuß unter unserer Kreuzes-Erhöhung von Zeit zu Zeit nach mir um; »was hat Er, Stuß?« sagt' ich. »Nichts eben«, sagt' er und setzte mit einem Tone, der einen Gedankensprung anzeigen sollte, dazu: »es sollt' ihn wundern, wenn die Rosen oben auf dem Berge noch ständen.« – Da nicht Verstand seine Sache ist, sondern Hunger und Durst: so argwohnt' ich, er hab' etwas vor; aber er sagte bloß, er sei ein Fuchs und ihm sei nicht viel zu trauen.

Es war gegen Abend – der Tag mit seinen Quellen des Scheines in Wassern und auf Auen versiegte allmählich – das Sonnenlicht rückte von den Gipfeln auf die Bergspitzen und ergoß sich schon halb in den bloßen durchsichtigen Himmel hinein – wir gingen den dunkeln Berg eiliger hinauf, um die tiefe Sonne noch auf der Küste des Streitberger Tales liegend anzutreffen. Als wir endlich die Aussicht erreichten und wir die himmlische Ebene mit Hügeln und Bäumen wie flatternde Zauberschlösser eines Feuerwerks in grünen und goldnen Strahlen brennen sahen – und als ein Windstrom von Morgen gleichsam die verglühende Sonne zu Wolkenflammen anblies – und als ich endlich mit zitterndem Herzen vor meine unzerstörte Rosenpflanzung kam und sie voll harter Knospen und weicher Dornen fand, und als in meiner Seele diese Eden-Ruine und Hermine und die Sonne als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit gleichem Lichte nebeneinandertraten: so kam mir das Leben, das für so viele ein tierischer dicker Mitternachtstraum, bei andern eine tappende Schlaftrunkenheit, bei wenigen ein tagender Morgentraum ist, plötzlich entziffert, entschieden, hell und leicht und wie eine dämmernde erfrischende blumige Sommer-Nachmitternacht vor, und alle Türen des zweiten lichten Morgen standen schon offen.

In dieser innern Offenheit oder Fülle von Licht kam mein Begleiter zu mir und gab mir einen Brief von – Herminen. Ich erschrak und erstaunte: mit Augen, die durch die Sonne und die Rührung dunkel wurden, durchflog und dann durchlas ich ihn. Die Gute hatte ihn dem Boten gerade in jener Minute vor meiner Abreise, wo ich wie Petrus hinausgegangen war, aber weniger um zu büßen als zu fehlen, hoffend anvertrauet. Ach diese Märtyrin des Herzens hatt' ich nicht verstanden, sondern nur verwundet! Ich hatt' es nicht verstanden, daß sie die Lesung der fremden Briefe nur abgebrochen, um den Schein einer vergeltenden nachforschenden Eigensucht – sich und mir zu ersparen – und daß ihr Schweigen und Trauern nur aus der irrigen Vermutung entstanden war, woraus meines gekommen: – und doch hatte sie jetzt geschrieben, um beinahe einem abzubitten, dem sie nur zu vergeben hat. »O,« sagt' ich im Enthusiasmus wider mich und mein Geschlecht, »wenn wir euch wehrlose Seelen verletzet haben, so reißen wir die Wunde so lange weiter, bis ihr die Tränen und das Blut abwischt und uns um Vergebung bittet, daß ihr beides vergossen habt.« Wie aufrichtend war es für mein Herz, daß ich den Entschluß eines abbittenden Briefes gefasset hatte, eh' mich ihrer beschämen und bestimmen konnte! –

Ich schicke hier diesem geistigen Adelsbrief bloß eine Bemerkung über einen Traum darin voraus. Wem es schwer wird, den Traum für keine Erdichtung zu halten, der kennt nicht nur Herminens Charakter, sondern auch den der weiblichen Träume nicht. In den männlichen findet man wild gärende Welten, Miltons arbeitendes Chaos und Geister-GefechtWie wild müssen z. B. in einem Callot, Dante, Cromwell, Robespierre etc. die Wolken der Träume gegeneinander rennen! ; aber in den meisten weiblichen traf ich bisher idealische und sanft gereihete Zusammensetzungen an, die bleichen gesammelten Perlenkränze aus dem erschütterten Meersboden der männlichen – dichtende und religiöse Idyllen des Lebens – gleichsam als hätte das Geschick ihnen die am Tage geschlossenen Nachtviolen der Ideale in den Träumen auseinander getan, oder als glichen sie den Bienen, die noch im Mondschein umhertönen und die Lindenblüten, zu deren Genosse der lange Sommertag zu kurz geworden, noch in der Nacht ausschlürfen. Die größere Harmonie und Poetik der weiblichen Träume nimmt von der körperlichen und von der geistigen Mäßigkeit dieses Geschlechts und von einer auf einfachere und wenigere und stillere Zwecke gerichteten Seele den Ursprung.

Aber wie sonderbar und schwer kommt mir jetzt die Gabe des Briefes an!

»Jetzt da ich nichts mehr für deine Reise, mein Lieber, zu bestellen habe, mach' ich noch ganz zuletzt diesen Brief für dich zurecht, den du aber erst am Montag abends neben unsern Rosen überkömmst. Es ist mir, als wärest du jetzt schon ferner, bloß weil ich schreibe, und es fället mir auch schmerzlich, daß ich die Feder nehme, da ich ja reden könnte. Aber nein, am schönen Rosenbeet unserer ewig blühenden Stunde und nach drei Tagen ist dir wohl das Blatt aus der fernen Hand willkommen. – Wie sag' ich dirs? Ach, Guter, du hast mich mißverstanden und zürnest nun – und ich konnte dir nichts sagen: ich habe schon oft über Wahrheiten blöde geschwiegen, wenn ich nicht gewiß sein konnte, man ahne sie schon und glaube sie leicht. Ich kann aber nichts mehr dazusetzen, als du hast mich gewiß und schmerzlich mißverstanden, Teuerer. Und darum schloß sich eine Blume meiner Freude nach der andern zu, und es tat mir so wehe, weil ich dachte: 'Es sind ja seine auch.' O wie doch im Schmerze das Leben seine vielfachen schönen Gestalten verliert und nur in eine dunkle zusammenfließet, gleich den Wolken, die sich am stillen Himmel in alle Farben und Formen teilen, und die nur im Gewitter und Regen in eine düstere Fläche zusammenrinnen! – Ach du kamest nie in die Stellen, wo ich das Auge trocknete, um dann zu dir und unserer Freundin ausgeheitert zurückzukehren, und deine Trauer verhüllte dir meine leicht.

Aber Natalie fand unter dem Rosenkranz die Dornenkrone und die bedeckten Wunden. Als du uns gestern dein Reisen mit frohen Worten angesagt hattest und hinausgegangen warest: blickte Natalie mich verwundert über mein Erröten an und legte ihre Hand auf mein Herz und sagte: 'Aber wie es auch pocht!' – Und ich sah sie schmerzlich an und wollte lächeln – sie blickte mir in die Augen und lächelte auch – dann verzog sich unser Lächeln immer mehr zum Schmerz – wir konnten uns nicht mehr verstellen und fielen einander um den Hals und weinten stumm recht lange.

Den ganzen Abend dacht' ich. diese kurze Erdpartie, wie du das Leben nennst, ist nur ein kurzer schwüler Dezembertag – unsere Freuden sind Torsos – unsere Erinnerungen Ruinen in einem Park – unsere Liebe ist eine ewige Sehnsucht und unsere Jugend nur ein süßerer Seufzer. Ich erschrak über alles: den aufgehenden Mond hielt ich für ein aufsteigendes Schadenfeuer, und als eine Saite sprang, so forscht' ich abergläubisch nach, welchem Lieblingsgesange nun eine Saite seines Haupttons fehle.

Aber ein Traum der vorigen Nacht hob die beschwerte Seele auf. Heute gerade, am Karfreitage, war mein Inneres, wie man sagt, daß er selber sei, sanft bewölkt, aber still, ohne Regnen, ohne Wehen. Der Traum macht' es nicht allein, sondern eigentlich mein Entschluß, diesen Brief zu schreiben: denn ich weiß wohl, wenn ich dir sage, du hast mich mißgedeutet, so glaubst du es deiner Hermina ewig. Ach das Zürnen einer entfernten Seele drückt zu schwer! und jetzt ist mir alles zu schwer! Ach nie vergießet man Tränen leichter, als wenn man Tränen vergossen hat. Daher wird das Schicksal mich schonen wie wir Blumen, bei denen wir mit dem zweiten Guß so lange warten, bis der erste eingetrocknet ist.

Ich erzähle dir den Traum, weil du ja wider die männliche Sitte Träume gern erzählen hörst.

Auf dem Berge, wo du dieses Blatt erhältst, stand ich in einem Zirkel hoher weißer Rosen mit weißen Dornen, über welche ich nicht hinauskommen konnte: die roten waren umgetreten und einige Dornen blutig gefleckt. Hinter mir in Morgen hört' ich ein Gewitter und Wetterläuten in einem fort, und bald wurde ein roter Blitz vor meine Füße geworfen, bald ein langer Schatten; aber ich durfte mich nicht umschauen. 'Ist es denn hier nicht mehr wie sonst?' fragt' ich. Auf einmal sah' ich, daß das Tal froher und heller war: eine Ebene voll Papillonsblumen bewegte sich wie eine Ernte, und unter dem Aufblättern wurde ein leuchtender gestirnter Fußboden entblößet. Auf dem Hügel daneben stand eine weißverschleierte Gestalt, die eine große Passionsblume abbrach und damit gegen das Tal herniederging. Je näher sie herunterkam, desto heftiger fing das wankende Blumengewimmel zu wallen an. Ich schmachtete wie mit einem zerflossenen Herzen nach der verhüllten Gestalt, die ich für eine weißtrauernde Fürstin hielt: ich streckte inbrünstig die Hände nach ihr aus, und sie winkte mit der Blume.

Endlich glitt sie in das Tal: da flatterten alle Blumen stärker, bis sie losrissen und sich als Schmetterlinge in einer bunten Wolke gen Himmel hoben. Von der Passionsblume flogen die großen Blätter auf, und statt des Blumenkelchs trug die Gestalt einen goldnen Kelch. Das Gewitter hinter mir wehte mich hebend an, der Schatte vor mir schwoll zur Wolke auf, und ich sank endlich wie auf Wogen, die verliefen, tiefer bis in das himmelblaue Tal, das mit blassen widerscheinenden Sternchen ausgelegt war und woraus die weiße Gestalt, über welche die Sterne wie silberne Funken glitten, mir entgegenschwebte. Der Gang war mir bekannt, aber namenlos und schmerzlich. Sie hielt mir ein Traumbuch entgegen. Als ich darin gelesen hatte: 'Blumen deuten Tränen an', so ging mein ganzes Herz entzwei, und unzählige Tränen flossen und versiegten und flossen wieder. 'Tochter,' sagte sie, 'bist du glücklich, seitdem ich dich verlassen habe?' – Ich fiel an ihr verschleiertes Herz und weinte bloß vor Freude fort und sagte:
Mutter, bin ich wieder bei dir? Ja du bist es schon, entschleiere dich!' – Sie sagte sanft: 'Noch nicht! Bist du glücklich?' – Ich weine wohl, gute Mutter,' versetzt' ich, 'aber ich bin glücklich.' Sie streifte leise mit dem Finger über meine Augen unter den Worten: 'Der Finger der Toten heilet durch Berühren, ich will die Schmerzen deiner Augen nehmen.' Da trockneten sie schnell, und ich konnte auf der widerscheinenden blauen Aue neue Sterne sehen. – 'O Mutter, Mutter,' sagt' ich mit harter Sehnsucht, 'nun hebe den Leichenschleier weg, damit ich deine Lippen wieder sehe und wieder küsse! Liebst du mich denn im Himmel noch?' Sie reichte mir den funkelnden Kelch und sagte: 'Trinke den Kelch der Leiden aus, dann zerfällt der Schleier. Ich liebe dich ewig. denn die Liebe ist ewig wie Gott'; und die letzten Worte sangen schöne Stimmen weit hinter den Sternen nach. O wie froh ergriff ich den kalten schweren Kelch und trank seine langen Bitterkeiten – und er wurde immer leichter und heller, und ich sah endlich meine Gestalt darin die Augen schließen, und er war leer. Ach dann nahm mich die geliebte Mutter in den Arm – ihr Schleier zerrann – ihre Augen und ihre Lippen öffneten sich lebendig, und ich lag wieder an dem unvergeßlichen Angesicht, und ich küßte sie und blickte sie an und küßte sie wieder – dann schwangen sich die Schmetterlinge verkettet nieder und wurden Blumengirlanden und legten sich verschlungen um uns und hoben uns, und wir wurden verbunden aufgezogen – die Sterne glänzten heller – die blaue Ebene wurde Äther und wallete uns nach – und ich lag am Herzen meiner Mutter, und sie sang, da wir unter die Sterne kamen: die Liebe ist ewig; und nahe hinter ihnen klang es nach. – –

Dann erwachte ich und hatte noch die Tränen im Auge, die im Traum getrocknet waren, und die Morgenröte und die Sonne standen am Himmel! Lebe glücklich! Denk es auch: die Liebe ist ewig!

Hermina.«


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