Jean Paul
Palingenesien
Jean Paul

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Mein Protokoll und Nachtblatt der Schläfer.

Haller beweiset, daß man so lange nicht höre, als man gähne: daher ist die große Welt in jedem Sinne ebenso taub als schläferig, sie hat zwar ein musikalisches, aber auch ein schweres Gehör. Da ich in meiner Kindheit keine Hauben um die Ohren litt: so kann ich sie gleich einem Wilden bewegen und spitzen wie ein Pferd und höre trefflich, indessen das gehaubte Publikum seine Ohren so wenig, als wären sie von Silber, falten kann. – Jedes Wort, das die Leute im Schlafe sprechen, fährt mir wie einer Fledermaus ins Ohr, wenn ich nachts auf der Gasse vor den Sprachgittern der Schlafkammern vorbeigehe. Oft fället es einem zur Last, wenn eine ganze schlafende Hauptgasse auf einmal spricht.

Um für die taube Welt sogar mit meinen Gehörknochen zu arbeiten, bracht' ich um 1 Uhr in einer schönen Sommernacht das Erheblichste, was ich die Schläfer sagen hören, praeter propter zu Papier. Den Tag darauf wurde gerade der Geburtstag des Landesherrn gefeiert.

Vorher merk' ich zwei Dinge an. Erstlich die Todsünden, die Simonien, Meineide und Blutschulden, die ich im Beichtstuhl der Gasse erfuhr, verleib' ich meinem Nachtblatt – so sehr sie es zieren möchten – ein für allemal nicht ein: ich steckte ja die Stadt in Kriegsflammen und läutete mit meiner Türkenglocke Generalstürme, Dragonaden, Approchen gegen den Hof, Kontraapprochen des Hofs gegen die Stadt und Lusttreffen in den Familien ein. – – Gott bewahre! Verfahr' ich nicht zehnmal gewissenhafter, wenn ich diese babylonische Turm-Baute oder vielmehr deren Einreißung verhüte und lieber den Jesuiten folge, die niemals das, was das Beichtkind bekannte, eröffnen, sondern nur, wenn man schärfer in sie dringt, das offenbaren, was es nicht beichtete? – So flattert auch die Nachtigall um die Stellen, wo sie kein Nest hat, schreiend herum, schweigt aber plötzlich an der, wo es ist, um es nicht zu verraten. Ich würde mir z. B. kein Bedenken machen, es allgemein auszubringen, daß der Minister nichts vom Gießen und Anbrennen der Wachsfackel der Aufklärung – dieses fatalen Grubenlichts, das oft den ganzen Schwaden moralischer Giftdämpfe entzündet – im Schlaf gesprochen habe; aber für unbesonnen würd' ich es halten, es publik zu machen, ob er von der Krone als bonsoir oder Lichttöter der Fackel etwas geäußert. –

Zweitens freu' ich mich, daß ich hier Gelegenheit habe, die deutsche Nation auf die Zensur- und Sprechfreiheit aufmerksam zu machen, die sie allgemein genießet, wenn sie im Bette ist und im Schlafe spricht. Die Schriftsteller, die so häufig über das Zensur-Nestelknüpfen des Geistes, über das ewig-offne Dionysius-OhrBekanntlich ein oben zu einem Trichter zugespitztes Gefängnis, das wie ein Hörrohr dem Dionysius alle Klagen der Gefangnen sagte. der Großen klagen – indes diese ihre andern Ohren vor dem tausendzüngigen Elend zuhalten und ebenso viele taube als stumme Sünden begehen –, diese Skribenten können unmöglich daran gedacht haben, daß der Reichsbürger gerade die Hälfte seines Lebens, nämlich die Nächte durch, wornach ja sonst der Teuton rechnete, unter der Bettdecke die freiesten Religionsübungen hat, daß er hinter dem Bettvorhange, ohne die geringste Gefahr vor stechenden Mouchards oder Traum-Fiskalen, alles ungehindert sagen kann, was er über die wichtigern Gegenstände der Menschheit etwan denkt. In den Gassen sind keine Schlaf-Denunzianten mit guten Ohren verteilt, welche etwan den semperfreien Bürger behorchten, wenn er im Hemde ist, und die am Morgen darauf ein Reichsnachtsjournal seiner Träume ablieferten: nein, hat er einmal die Augen zu, so soll und darf er mit eignen sehen, gleichsam als wenn das Bettuch oder die Matratze die britische Küste sein sollte, die den Neger emanzipiert. Ich habe oft die hohe Geistlichkeit hinter dem Bettschirm Meinungen äußern hören, die in keinem Freistaat am Tage geduldet würden – der Schwur auf symbolische Bücher, das schema examinandi, das Edikt vom 9ten Jul. wollen sich gar nicht auf die Gardinenpredigten erstrecken – die verbotensten Bücher werden in Wien auf dem Kopfkissen zu lesen und zu machen (welches im Traume eins ist) erlaubt. – – Auf diese Freiheit tue der Deutsche groß, und er erkenn' es, daß die Schlafmütze seine Freiheitsmütze ist. –

Mein Nachtblatt ist folgendes:

Als ich aus meinem Hause trat, hört' ich zehn Schritte weit nichts als eben diese und ein paar Sphären der schönen Nacht. – Im Hause des Kommendanten hört' ich einige zu undeutliche Flüche, es ist mir unbekannt, tat er sie selber oder sein Kerl.

Im untersten Zimmer saßen ein paar eingeschlafne Kammerherren einander in zwei Wachsesseln (Veilleuses) gegenüber und wünschten – wahrscheinlich kam ihnen der Geburtstag ihres Herrn im Traume vor –, daß er den Hals bräche.

Im rechten Flügel (ich sprach bisher vom linken) hielt der kleine Erbprinz eine deutsche Anrede an seinen Herrn Vater. Ich will aus Liebe annehmen, daß ers im Schlafe getan – und ich wollte darauf schwören, da er wachend wissen müßte, daß man mit Menschen wie mit Hunden nur französisch spricht –; aber den Oberhofmeister mach' ich aufmerksam, daß er bei seiner Cyropädie auch auf eine anständige ausländische Sprache des kleinen Moguls im Schlafe acht gebe.

Im prächtigen Nebengebäude hört' ich ein herrliches Englische, das ich dem Papagei zuschrieb, den der englische Gesandte der Frau des Hauses geschenket hatte; aber der Herr des Hauses hatte diesem gefederten Thersites und Denunzianten einen kurzen Injurienprozeß gemacht und dem Zoilus den Kopf abgedreht. Seine Frau hatt' ich gehört.

Ich unterdrücke gern das, was eine sogenannte philosophische Dame drei Häuser weiter sprach, um die Schamhaftigkeit meiner männlichen Leser zu schonen.

Zwei Kantianer, ein Paar junge Leute, sahen aus einer Mansarde disputierend heraus, hielten aber ihr polemisches Vesperturnier leise und sanft, um sich nicht einander aufzuwecken. Es ist schön, daß der Mensch gerade in den jungen wilden Jahren, wo er am wenigsten systematisch handelt, am leichtesten neue Systeme, ohne sie zu verändern und zu kastrieren, aufnimmt; so bemerkt Sydenham, daß der Veitstanz, den er den Würmern beimisset, gerade Personen ergreife, die noch nicht mannbar sind; so verwarf Belling, der Kommandeur der schwarzen Husaren, Rekruten, die schon bärtig waren; so mußten die Priesterin des pythischen Orakels und die Sänger des säkularischen Jubelgesangs durchaus ordentliche wahre Kinder sein.

»Porto und der Teufel!« rief der Sammler einer Monatsschrift im Eckhaus; aber hatte denn der wunderliche Heilige nicht die unfrankierten Briefe, die er im Traume erbrach, selber geschrieben? Und wurd' ihm von dem Verleger nicht die Auslage wieder erstattet, als er erwachte?

Ein alter Ratsherr (der Mietsherr des Sammlers) votierte in seiner Schlafkammer, als säß' er auf dem Rathause und urteilte über die wichtigsten Dinge. es ist nur sonderbar, daß er der Session am andern Tage selber erzählte, ihm habe geträumt, er schliefe.

Nun ging ich vor dem Gasthofe zum Teufel vorbei: im ersten Stockwerk (auf dem Stroh) beteten, im zweiten (auf Federn) fluchten die Schläfer. Im fünften vorne heraus parlierte einer, den ich für den neuen Sprachmeister des Gymnasiums nahm; aber am andern Tage fuhr Herr von Kempele mit seiner linguistischen Sprachmaschine ab. Im vierten referierte ein Kammergerichtsassessor aus Wetzlar dem geträumten Reichsgericht einen dreißigjährigen Krieg rechtens.

»Mehr als Roman – kein Roman – leider doch nur Roman – weder Roman noch Journal – Halbroman – diese Titel waren ja doch bei Gott schon alle da, Herr!« – sagte der Verleger zu dem Autor, von dem er träumte.

»Gut Freund!« sagte selber die Schildwache im Schilderhause, welche mich im Schlafe für eine hielt und dachte, ich fragte: wer da?

»Opium, Opium!« rief unser schlummernder Landesherr in einem Lusthaus und Dormitorium des Publikums, das viele lieber besuchen als benennen. Erst einige Monate nachher erfuhr ich, daß jetzt die Großen anfangen, der Gehirn- und Rückenmarksdörre ihres zerstörten welken Geistes durch den türkischen Metallreiz des Opiums wenigstens die Zuckungen eines momentanen Lebens abzulocken.

Ich hätte wenig vom Lust- und Raubhaus und vom Fürsten herausgebracht ohne den eingeschlafnen Kammerdiener, der bei seinem Herrn den Nomenklator der Untertaninnen, die zu regieren waren, samt dem Sachregister machte. Fürsten, die das Land und das Vergnügen lieben und die sich nicht verbergen, wie wenig die nicht geräumige Spitze des Thrones eine große Familie gut fasse oder wie wenig die Landeskassen große Apanagengelder, Fürsten von solcher Einsicht springen gern vom Wipfel des Thrones auf dessen breitere Stufen hernieder, um darauf weniger ihre Ebenbilder als ihre Landeskinder zu vermehren und zurückzulassen: völlig der Lerche gleich, deren Flug und Sang in der Höhe und deren Nest in einer schmutzigen Furche ist, oder auch dem Johanniswürmchen, das herunterfliegt auf sein ungeflügeltes und an den Boden geleimtes Weibchen.

Im Waisenhause war eine allgemeine Klage über den Spitzbuben von Vorsteher: woraus ich den allgemeinen Schlaf ersah; denn wachend ist man mit ihm zufrieden; auch schlägt er die Unzufriedenen tot.

Ich kam wieder vor meiner Wohnung vorbei, wo mein Staats- und Ladendiener vor dem Lichte schlief und auf mich wartete: er hinterbrachte den Meinigen ganz kurz mein frühzeitiges Ableben und beantwortete die Kondolenz gut genug. Zu meinem Erstaunen stammelte er nicht – er wiedergebiert sonst jedes Wort –; ich will aber dieses Phänomen den Philosophen ganz unerklärt zuwerfen, damit sie etwas davon haben.

Eine ganze Gasse lag stumm hinab wie ein Gottesacker. – Im Rücken des letzten Hauses war jemand auf jenem umgekehrten Rauchfang und Isolierschemel eingeschlafen, der wenig genannt wird – außer von den Ärzten, deren Objektenträger er ist – und auf dem, wie Swift anmerkt, der Mensch am ernsthaftesten aussieht – wiewohl er meines Bedünkens ebensowenig lacht, wenn man ihn balbiert –: das schlafende Wesen (Mitarbeiter an recht guten Journalen) beurteilte die Romane mit Nachsicht, mit welchen in der Hand es eingeschlafen war und die von ihren Fischbeinreißern, den Lesern, ordentlich wie Fürsten nur in sezierten Gliedern der Erde übergeben werden, wovon sie genommen sind. Es hat mich oft gefreuet, daß die deutschen Romane jene unsichtbare Kirchen oder Filiale, die man in großen Gärten bald in einen hölzernen Obeliskus, bald in ein Monument, bald in ein Wasserhaus, bald in einen ausgehöhlten Holzstoß verkleidet, im literarischen Lustgarten unter ebenso niedlichen typographischen Einkleidungen vorstellen, man mag nun den Inhalt oder den Gebrauch von beiden oder auch das vergleichen, daß die gebaueten die Re- und Korrelationssäle der gedruckten sind.

Im Hause einer vornehmen Witwe hielt ein verwitibter Vesperprediger eine gute Trauungsrede im Schlafe: der Trauredner foderte zu tausend Tugenden und zu den reinsten Sitten auf; ich nenne ihn aber aus Schonung nie.

Die Tragiker und die Inquisiten stellen sich gern wahnsinnig an, beide, um ihre Richter zu bestechen. Ich weiß also nicht, wars ein Poet, der ein englisches Trauerspiel machte, oder ein Akteur, der es memorierte, oder ein physischer echter Narr, den ich aus der Dachstube herunter hörte – und ich wollte, ich hätte deswegen das ganze Haus aufgeweckt. Ebenso kann in der Dachkammer zwar ein träumender Hund, aber ebensogut ein träumender Versemacher gebollen haben, der seine Verse, worin jetzt Tierstimmen so künstlich wie die Menschenstimme in der Orgel eingebauet werden, einem freundschaftlichen Zirkel – der darüber nicht einschlief, weil er gar nicht existierte – vorzudeklamieren wagte.

Ich kam vor dem Postwagen vorüber, worauf ein unter dem Abpacken in Schlaf gefallener Jude Christen- und Judenschwüre tat: »er habe wahrlich seinen Leibzoll schon bezahlt, und ob es denn recht sei, ihm solchen zweimal abzufodern?« – O armer Passagier, es war schon unrecht und himmelschreiend, ihn einmal zu fodern, diesen Blutzehnten, diese Schandmedaille an unserer Brust; aber unser kaufmännisches, zu den Metallen verurteiltes Jahrhundert, dessen Licht wie das elektrische bloß den Metallen nachgeht, dankt nur graue kostspielige Barbarismen ab, nicht aber einträgliche, wie diese christliche Weglagerung ist. – –

Da ich vor dem Gasthofe zum Teufel wieder vorbeiging, um heimzukommen: fuhr der Wetzlaer Assessor in seinem gedrängten Aktenauszug fort, und ich glaube, in einer dem Reichstag an Länge gleichen Reichsnacht hätt' er die Relation spielend hinausgebracht.

Drei Stimmen überraschten mich jetzt mehr als den Leser. Die eine gehörte dem Nachtwächter, der, auf einer steinernen Bank liegend, im Schlafe sang und schon abdankte, obgleich erst zwölf Uhr vorüber war. Die zweite sagte:»Unmöglich! – Ach was gäb' ich darum, wenns wäre!« Ich guckte hinauf: zwei gut frisierte Damen verwachten die Nacht am Fensterbrett, um den Ofenaufsatz und die erhobene Arbeit ihres Kopfes, die sie sich vom zeitarmen Friseur vierundzwanzig Stunden voraus hatten machen lassen, unzerbrochen auf den Geburtstag aufzusparen.

In einer Obstbude schlummerte gebückt ein blinder grauer Bettler, dem ich am Tage einen Notpfennig samt der Valvationstabelle des Pfennigs geschenkt. Der Traumgott führte ihn aus der finstern Trophonius-Höhle der Blindheit heraus und stellte ihn vor die blumige fruchttragende Welt, und das genesene Auge weinte über die schönen Farben und den Tag. Du Armer! wie gönn' ich dirs! Mög' es ein Genius auch uns so gönnen, daß die Träume der Dichtkunst unsere dunkeln Augen heilen und uns die elysischen Felder zeigen, die das Wachen bedeckt! –

Am stillen Komödienhause hielt ich das nächtliche Schweigen darin und die Finsternis und den unbewegt hängenden Vorhang gegen den Glanz und Lärmen des Tages und dachte an das künftige Verstummen und Verfinstern des großen Erdtheaters, wovon die kleinen Nationaltheater nur Dekorationen sind.

Ich hörte jetzt hinter mir gehen: der Blinde war aufgestanden und ging mit geschlossenen Augen umher und sagte zur Nacht: »Teilt einem armen stockblinden Manne auch was mit.« Ich weckte den betörten Nachtwandler auf und führte ihn in seine Bude zurück. Dann ging ich meiner zu, und der Ernst meiner Betrachtungen über den dunkeln gestirnten, rund um unsern Geist gezognen Schlummer ließ bald vor den Träumen, die den Morgen der Jugend heraufzogen, seine Wolken fallen.


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