Jean Paul
Palingenesien
Jean Paul

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Als ich ausgeschrieben und ausgetrunken hatte, trat ich mit allen Kellnern und Philosophen in Friedensverhandlungen, die unterzeichnet wurden, sobald ich in den Friedenstempel der Frühlingsnacht einging. Der vom Liebesmahl versöhnte Stuß wäre lieber geblieben – aber ich wollte durchaus am Anbruch des Morgens – und des andern Bändchens dieser Palingenesien – in Nürnberg sein. Wenn nur einmal das Gedränge der Begebenheiten und Zwecke, das uns immer trübe und unrein rüttelt, ablässet, so lassen wir, wie Wasser in der Ruhe, bald die fremden dunkeln Körper fallen: »Können denn die armen Kellner«, sagt' ich, »die in ihren Freihafen einlaufenden Menschen anders salutieren als nach der Flaggenkarte des Anzugs? Haben sie Zeit, Recht, Kraft, die Ladung zu visitieren? – Warum zogst du Weinküfer dein Weinzeichen ein und hingest das Bierzeichen heraus?« – Der Mensch schiebt oft darum die Schuld lieber auf sich als auf andere, weil es ihm leichter ist, sich zu vergeben als andern.

Draußen im geschmückten Sonnentempel des Tages verlieren die närrischen Kriegsspiele des Lebens ihren Schein und Glimmer nicht so leicht und eilig als vor der kühn gefüllten Baumannshöhle der Nacht, welche die Kristalle der Sterne und die Tropfsteine der Planeten und lauter große Formen über den kleinstädtischen Tag erheben. Wenn ich den weiten, zu gestirnten lichten Bildern ausgestochenen dunkeln Himmel ansah, gleichsam als den verzognen silbernen Anfangsbuchstaben unsers Seins, – und Milchstraßen und Nebelflecken gegen Kellner, Philosophen, jetzige Literatur, Ostermessen, zweite Editionen hielt: so wollten die letztern nicht mehr recht glänzen, und ich fing an, wenig darum zu geben. –

Aber weiter! Da wir in der luftigen Nacht durch stille Wälder und stille Dörfer gingen, und da in mir ein Traum nach dem andern aufstieg und jeder neue lichter und größer: so fing mein Inneres an, von einer dunkeln Entzückung aufzuwallen, die nicht das bloße Kind meiner Träume und der Gegenwart sein konnte; es war mir, als stehe mein innerer Mensch bis an das Herz in einem wärmenden Sonnenschein, nur sein Auge nicht. Da solche Entzückungen mit einem Schleier, die wie Engel nur eine gebende Hand aus der Wolke reichen, meistens von dunkeln und eilig zusammengezählten Ähnlichkeiten geboren werden, die das Herz zwischen der Gegenwart und zwischen vorigen Szenen oder alten Wünschen innen wird: so sucht' ich in beiden letztern nach dem Schlüssel. Ich würd' ihn wohl darin zuletzt gefunden haben, wär' er mir nicht plötzlich vom Himmel herabgefallen.

Gegen Mitternacht kroch nämlich einsam und ohne Gefolg das letzte Mondsviertel durch das unverzierte Morgenrot herein: nur ein wenig lichten Dunst hatte der Mond gleichsam zur Ründung seiner eingefallenen Gestalt über sich gezogen. Jetzt fiel das warme Sonnenlicht auf meine innern Augen: »O so war es vor einem Jahre auch, nur tausendmal schöner!« sagt' ich. Ich meinte die Mainacht in der Woche vor Pfingsten, wo mir dieses Leben das Neujahrsgeschenk eines zweiten vorausgegeben, nämlich die stille Gestalt Herminens, die wie der Mond in Osten wohnte und schimmerte, und die ihr Licht auf keinem prahlenden Aurorens-Wagen brachte, jene Nacht, wo wir auf immer statt der Hände die Seelen gewechselt hatten; daher ihre meinen Willen hatte und meine ihren (wenn ich bei mir war). Ach hätt' ich heute an diese duldende Seele gedacht: würd' ich da gerade in der Stunde, wo sie wahrscheinlich meinen Streitberger Brief, ein weiches, von der Liebe und Wonne abgeschicktes Olivenblatt, erhielt, diesem Inhalte so ungleich und gegen Kellner und Kantianer so hart gewesen sein? Unmöglich: von Herzen gern hätt' ich wenigstens meinen Streit und die Lesung des Briefes in verschiedene Stunden verlegt.

Wie ich in meiner Phantasie jeder Musik Lieder – jeder Sängerin Erinnerungen und Wünsche – jeder Landschaft glückliche Menschengruppen zuteile und dadurch jedem Gegenstand ein lebendiges Herz einsetze für meines: so ließ ich auf dem schwarzen Brette der Nacht die Lichter und Reflexe der Vergangenheit vorüberlaufen und geliebte Gestalten und selige Szenen und mich selber darunter. Um aber den Weg nach Nürnberg recht für die erwähnte Mainacht vor Pfingsten zu grundieren, mußt' ich die Nadelforste aushauen zum Platze für Laubholz und die Hügel abtragen und die Berge weit in den blauen Horizont zurückschieben: der Himmel blieb, wie er war, ach dieselben Gestirne schimmerten ja damals, und derselbe halbe, in einen großen Stern verkleidete Mond zog herauf. Nun fing ich an, mich ordentlich zu erinnern.

Es war weit gegen Mitternacht und ebenso weit als jetzt erinnerte ich mich, aber langsam, und hielt bei jeder Minute einen Rasttag –, als wir, ich, Hermina und eine auf den Honig höherer Nektarien ausgehende Bienengesellschaft, aufbrachen. der Mond war noch gar nicht da, aber schon der Himmel. Wir hatten auf das Landgut nur eine gute Meile, herrlichen ebenen blumigen duftenden Weg, und die Berge nicht auf diesem, sondern wie Turmspitzen und Schiffe tief im herabgewölbten Himmel. Als ich endlich unter den Sternen und vor der kleinen, aber himmlischen Zukunft der Nachtwandelung stand, sagt' ich mit dem langen Einatmen der gewonnenen Seligkeit vor Herminen: »Endlich hab' ich die Nacht, du gutes Geschick, die in meinen Träumen und Büchern so oft aufging und in meinen Tagen nie: Sterne – und Blumen – und Seelen – und Träume – und Paradiese – und alles ist ja da. Aber heute will ich mich nichts um mich scheren, sondern ordentlich vor Freude zu sterben suchen: ich will dem Baum von Goa gleichen, der nachts alle seine Blüten hervordrängt und dem sie die Morgensonne abbricht.« – »Lieber der Nachtviole,« (versetzte Hermina) »die sie am Morgen nur verschließet. – Ach doch ist es sehr wahr! Auch mich macht der Tag nur beklommener, je blauer er ist. Aber eine Frühlingsnacht gibt dem Leben frische Farben, Hoffnungen des Morgens und Kraft.« –

»Jawohl, Hermine,« (sagt' ich und sah zu der im Blauen schwimmenden Sonnen-Flotte auf) »wer kann Eitelkeit der Dinge unter der weißen Bergkette der Milchstraße, unter so vielen in allen Universums-Ecken zugleich brennenden Tagen fühlen? oder Tod und Einsamkeit glauben und fürchten mitten in einer lebendigen pulsierenden Unermeßlichkeit, wo keine Sonne ruht und jede Erde fliegt?« –

Ich wußte recht gut, daß ich Herminen damit an ihre zum Vater gegangne Mutter und an die Stunde ihres offnen Grabes erinnerte; aber war nicht jeder Stern ein Trost und der Himmel eine Zukunft? – Ich und Hermine machten jetzt in einem durchsichtigen Laubholzwäldchen – obgleich die Nachtzephyre sich drinnen lauter umherdrehten und auf uns die Wolken von den Rauchaltären der Blütenbäume trieben – eiligere Schritte, bloß damit wir den Abendstern, der wie eine blühende Wasserpflanze im Blauen schwamm und seine Blüten immer weiter ausdehnte, noch einmal schimmern sähen, eh' er in die Himmelstiefe hinabgezogen wurde. Ich und sie – ich erinnere mich immer weiter – waren vor der Gesellschaft voraus und schaueten wartend dem Falle des Hesperus zu. Dieser Stern ist für mich ein am Himmel hängender verkleinerter Frühling, wie der Mond ein Nachsommer: mir war, da er fiel, als wäre mir eine Hoffnung unter den Horizont gegangen. Aber auf einmal ragte in Morgen die Gletscherspitze des halben Monds, aber mit weggeschmolzener Schneide, blinkend über die Erde herein. »O wie schön sich die Gestirne einander ablösen gleich den Lebensaltern der Menschen«, sagte Hermina. »Wohl!« (sagt' ich) »denn der Hesperus ist der Stern der Jugend und Liebe, der Mond ist das stille kalte, aber helle Alter, und dann nach der Nach-Mitternacht geht doch noch die warme Morgensonne auf.«

O du Unendlicher! wie groß webst du das Große mit dem Kleinen, aufgehende Welten mit erquickten Herzen zusammen, deine entbrennende Sonne mit dem entpuppten Würmchen! Wenn der Mensch, dir so ungleich, Millionen unsichtbare kleine Herzen, indem er die Arme zur Hülfe eines größern ausbreitet, mit den Füßen ertritt: o so ist bei dir alles so tausendfach verschlungen und gebraucht, daß die Katarakte des ewigen ausgebreiteten Stroms aus Sternen, der über den Himmel springt, ebensogut die Wiege unsers schlaflosen Herzens in Bewegung setzt, als die Wasserfälle des RiesengebirgesIn Schmiedefeld auf dem Riesengebirg. Auswahl kleiner Reisebeschreib. I. S. 8. die Wiegen armer Kinder rütteln! –

Die herrliche Nachtluft wurde frischer und lebendiger. Der kalte Mond, dessen halbe Scheibe im Frühling heller und höher um uns zieht als seine volle, floh vor der heißen Sonne in den tiefen Himmel hinauf. Auf den wehmütigen Abend schaueten wir nur zurück wie Selige auf eine im Mondschein abblühende Erde. Die bleiche Seele bekam jetzt wie blasse, ans Licht gestellte Blumen unter färbenden Sonnen gesunde Farben, und der Genius der Jugend ging mit uns und sang: es gibt eine ewige.

Wir gingen fern vor einem in Blüten nistenden Dörfchen vorüber, woraus uns der Glockenschlag und die Verse des abrufenden Nachtwächters nachflogen oder nachklangen, der damit die Menschen an ein helleres oder längeres Erwachen erinnern wollte als an das nächste. Auf einem Steige durch ein einfach-grünes Weizenfeld, das mit bescheidenern Farben als die Auen weniger verhieß als gab, fuhren neben uns zwei schlafende Lerchen zitternd auf, wovon die eine zwischen grauen Morgenflocken hängen blieb und ihr hohes Lied ausrief und jetzt nicht furchtsam, sondern bloß singend zitterte. Der Mond stieg lichter zu seinem Mittag und zum hohen Sirius herauf. Die nachtwandelnde Abendröte bezeichnete schon in Osten die Stelle seiner Geburt mit einem Flor von Rosenknospen. O wie kräftig stieg das Herz und die verhüllte Morgensonne miteinander höher! –

Wir kamen an einen Bach, auf welchem ein hängender Garten von aufgeblühten Wasserpflanzen schwamm, und Hermine bückte sich über die in Flittersilber zerflatternde Wellen herein, um den wiegenden Baumschlag, der unter den Wogen bebte und doch über dem Ufer ruhig stand, und die kleinen, auf das Wasser gesäeten Frühlinge, die sich den Wellen nachbogen, selig anzuschauen: plötzlich entfiel ihr unter dem Herüberneigen ihr Aurikelnstrauß ins Wasser, den sie unterweges so oft an den Mund gedrückt und zuweilen ans Auge. Ach die kalten Blumen sollten vielleicht jenen kühlen und diese trocknen! – Die Wogen nahmen, gleich denen der Zeit, die leichten Blätter mit. Ich folgte ihnen lange und brachte sie Herminen spät zurück.

Da ich wiederkam und ihr Auge vergrößert gegen die erlöschenden Sterne aufgeschlagen fand, als wollte sie damit dem Zusammenrinnen seines feuchten Schimmers widerstehen: so glaubt' ich, die kurze Einsamkeit habe das volle Herz mit einem sanften Schmerze geöffnet, weil ja jede bessere Brust, gleich seltenen durchsichtigen Bernsteinstücken, einen ewigen hellen zitternden Tränentropfen in sich trägt, der weder fließen noch vertrocknen kann. Unter dem Niedersehen tropfte ihr Auge wie die Blumen, die sie empfing – sie bückte sich schnell über das Wasser und sagte mit gebrochner Stimme: »Wie die Wellen die grauroten Wölkchen drunten um den Mond herumtreibend – und als sie darin ihre weinende Gestalt erblickte, weinte und lächelte sie stärker – sie bedeckte und trocknete das Auge nicht mehr, aber sie konnte sich nicht gegen mich umwenden – das Gewölke glühte höher an, und die Lerchen schwankten, vom Morgenwinde ergriffen, zwischen den Farbenfeuern und flogen mit heißen Gesängen höher auf, sich abzukühlen. – Ich nahm aus Sorge und Liebe ihre Hand und sagte: »Hermine, bist du traurig?« – Sie sagte mit leisem gezognen Ton: »Nur selig!« und zerfloß in ein weinendes Lächeln, wie das eines Engels über einen ganzen Frommen-Himmel ist. Jetzt war mir plötzlich, als säh' ich ihre Seele mit fallendem Schleier zwischen bergigen zurückweichenden Wolken, die der auflaufende Widerschein beleuchtete, gen Himmel ziehen: »Hermina,« sagt' ich hingerissen, »die Sterne und der Morgen und der Frühling haben dich erhoben, und du hast gefühlt, daß deine Mutter unsterblich ist: gute Hermina, darum bist du selig?« Da sie sich aufgerichtet und edel gegen mich wandte und da die Morgensonne heraufkam und ihr gerührtes verklärtes Antlitz überstrahlte: so glich sie einer Unsterblichen, und sie sagte heiter wie eine Selige: »Ja, darum bin ich glücklich – wie diese Sonne ist es in mir aufgegangen, und in meiner ganzen Seele ist es Morgen.« – »So innig-selig bleibe ewig« – sagt' ich begeistert – »und werd' es noch mehr!«

Sie blickte mich dankend an, und in ihre heiligen Augen kehrten die Zeichen der Rührung zurück. In meinem Herzen war das Entzücken und in meinem Auge der kleine Schmerz, den uns die Sehnsucht macht. Ich wiederholte bloß: »Werde glücklich!« und ich konnte nur bange dazusetzen: »Sag es zu mir auch!« und dann das aufrichtige Auge auf sie heften und schweigend länger bitten. Sie blickte zur Erde – hielt die Hand vor das bestrahlte Angesicht – errötete wie von der Morgenröte – ließ viele Tränen, ohne sie zu trocknen, fließen – und dann trocknete sie die letzten ab und stammelte unter dem Verhüllen: »Mögen wir glücklich sein und der Unendliche unsern Wunsch erhören!« – – –

»O diese Sonne«, sagt' ich, als heute wieder eine Morgenröte durch die betaueten Zweige eines Alleenwäldchens vor Nürnberg schimmerte, »strahle dich heute in deiner Ferne wieder in einem Entzücken an wie an jenem Morgen: ach dein Wunsch, du Himmlische, traf ja öfter als meiner ein!« Und als ich aus dem Wäldchen trat, sah ich schon die Sonne den höchsten Nürnberger Turm »Lug ins Land« vergolden....

Ende des ersten Bändchens


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