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Neunundfünfzigstes Kapitel.
Am Ziele der Reise.

Dichte Wolken bedeckten während der Nacht den Himmel und hinderten die Ausstrahlung; schwüle Hitze lag daher noch über dem Erdboden. Aber der Morgen am 12. Mai war wieder klar, und mit einem gewissen Angstgefühl sieht man dem 29 englischen Meilen betragenden Tagemarsch in der Sonne entgegen. Im Süden ist das Gebirge jetzt ganz nahegerückt. Von Dalbendin an macht das Land durchaus nicht den Eindruck einer Wüste, sondern eher den einer Steppe, deren Gras in dem breiten, offenen Längental wunderbar grün glänzt. Hier weiden zahlreiche Dromedare und viele Schafe, und es ziehen sich sogar tiefe Bewässerungskanäle hin, ein ungewöhnlicher Anblick.

Hier traten die Heuschrecken in wahren Wolken auf; schnarrend und sausend flogen sie über die Straße, ließen sich auf den Dromedaren und ihren Reitern nieder und zwangen uns, einen Augenblick zu halten. Alidscho ist der Name einer Süßwasserquelle, die in einer Talmulde unterhalb des Weges entspringt und einen Bach mit fast stillstehendem Wasser bildet. Tausende gelber Heuschrecken waren gerade dabei, über dieses Hindernis hinüberzuschwimmen; sie hätten ebensogut hinüberhüpfen können, aber vermutlich fanden sie an dem Bad Gefallen.

Vegetationsloses Land mit Salzsenken, kleine Hügel und Berge, dann wieder Steppe. Beim Passieren von Kutschik-i-tscha, wo ein kleines Bungalow erbaut ist, weiß ich, daß ich 13 englische Meilen hinter mir habe und noch 16 zurücklegen muß. Keiner, der nicht dazu gezwungen ist, bleibt hier; die Gegend steht wegen ihres Mückenreichtums in schlechtem Ruf. Wir reiten daher zwischen Tamarisken zur Linken und schwarzen Gebirgskulissen zur Rechten weiter.

Im Bungalow der Station Mal (897 Meter hoch) erhielt ich während der Nacht von den Mücken einen Abschiedskuß. Um mich vor ihnen zu schützen, hatte ich mir ein weiches Tuch um den Kopf gebunden, dabei aber Nase und Mund unverhüllt lassen müssen, um in der Hitze atmen zu können; gerade auf die Lippen hatten die Mücken ihre Tätigkeit konzentriert. Doch was lag daran! Ich war seelenfroh, als ich am Sonntag, 13. Mai, erwachte, denn dies war mein letzter Tag auf dem endlosen Wege durch Belutschistan!

Durch eine schöne, ansprechende Gegend führte die Straße an malerischen Bergen (Panorama V, Abb. 4, s. S. 76) und stattlichen Tamarisken vorüber; der einzige betrübende Anblick sind die Weizenfelder mit ihren verkümmernden, dünnen Ähren und den vielen abgenagten Halmen, das Werk der Heuschrecken. Während die Eingeborenen mit Weib und Kind halbnackt damit beschäftigt sind, zu retten, was sich noch retten läßt, sitzen die hassenswerten Insekten zirpend und knarrend im Kornfeld, knappern an dem Getreide und verzehren das Brot der Armen. Ihre Lebenslust erfüllt die Luft mit eintönigem Sausen; es ist ein Glück, daß sie nur in gewissen Jahren in solcher Menge auftreten. Sie zu bekriegen, ist aussichtslos. Überall hört man sie unter den gelben, abgenagten Halmen rascheln, und ganze lange Felder liegen da, als ob die Sense durch das Korn gegangen sei. Nur dann und wann sieht man eine kleine Ecke eines Weizenfeldes, die noch von der Verheerung verschont geblieben ist.

Hütten und Zelte sind nicht zu sehen, aber man hört Esel schreien und Hunde bellen. Die Telegraphenlinie begleitet uns mit ihren achtzehn Stangen auf jede englische Meile auch heute getreulich. Im Schatten einer Tamariske verzehre ich mein letztes Frühstück im Freien, die gewöhnliche einfache Bewirtung mit lauwarmem Wasser und Kakes; es wehte aus Westen, und die Hitze war auf 41,4 Grad gestiegen, die höchste Gradzahl, die ich auf dieser Reise abgelesen habe.

Das Dorf Amed-wal (979 Meter) besteht aus Hütten, die aus Reisig, Zweigen, Strohmatten und Lehm hergestellt sind; sämtliche Einwohner waren mit fieberhaftem Eifer beim Einernten des Weizens tätig, um den Heuschrecken zuvorzukommen, obgleich einige Felder noch ganz grün standen. Sie mähten das Getreide mit kleinen Sicheln ab, luden es in Bündeln auf Ochsen und brachten es schleunigst in Sicherheit. Es war rührend anzusehen, wie auch die ganz kleinen Kinder fleißig bei der Arbeit halfen und das kostbare Brot zu retten versuchten.

In Amed-wal verweilten wir mehrere Stunden; ich nahm ein Bad in dem Zelte, ruhte ein wenig, aß zu Abend und bestieg, als es schon spät war, wieder mein hohes Dromedar. Nun begaben wir uns nach Nordosten hin in die Nacht hinein. Funkelnde Sterne versuchten vergeblich, die Dunkelheit zu zerteilen. Mir war dieser nächtliche Ritt ein hoher Genuß; mit jeder Viertelstunde wurde die Luft kühler, und die Nacht zog Schritt für Schritt über die Erde hin. Ich sitze träumend und meinen Gedanken nachhängend auf meinem Dromedar; heute ist der 13. Mai, auf den Tag genau ein halbes Jahr, seit ich Trapezund verlassen habe. Das türkische Armenien, Persien, Seïstan und Belutschistan liegen hinter mir, nun trennen mich nur noch Indien und Kaschmir von Tibet.

Wir überschreiten mehrere wasserführende Kanäle; ich sehe nicht viel von ihnen, aber ich höre schon von weitem an der quakenden Serenade der Frösche, daß wir uns ihnen nähern. Die tanzenden Mücken bleiben mir heute erspart, aber mein Gesicht und meine Hände sind geschwollen und brennen wie Feuer. Die Nacht ist still; aus der Ferne hört man Hunde bellen und Pferde wiehern.

Mein Reittier bleibt stehen. Mustafa Chan sagt, wir seien angelangt. Wir sind in Nuschki! Aber alles ist dunkel und still. Wir laden unsere Tiere ab, und nach einer Viertelstunde lege ich mich im Wartesaal des Bahnhofs schlafen.

Am folgenden Morgen sagte ich meinen redlichen Belutschi, die mir treu und gut gedient hatten, Lebewohl, setzte Riza in ein Abteil und nahm selbst in einem feinern Platz. Wie seltsam berührt es, wieder die Dampfpfeife der Lokomotive zu hören, nachdem ein halbes Jahr in der Einsamkeit unermeßlicher Wüsten vergangen ist!

Mustafa Chan und die andern stehen auf dem Bahnsteig und sehen uns an der ersten Kurve verschwinden. Die Steigung beginnt sofort, und die Lokomotive muß sich sehr anstrengen, um den Zug bergauf zu schleppen; ich habe immer das Gefühl, daß er jeden Augenblick zurückrollen kann. Dies liegt indessen nicht an der Steigung, sondern nur an den Heuschrecken; sie werden auf den Schienen zermalmt, und diese sind davon wie mit Fett überstrichen. Die gefährliche Landplage hatte sich bis nach Keschingi erstreckt, und überall sah man die Leute auf den Feldern arbeiten, um das Getreide zu retten.

Auf der Station Keschingi hatte sich Major Benn mit seiner liebenswürdigen Gemahlin eingefunden, um mich zu begrüßen und mit einem herrlichen Frühstückskorb zu überraschen. Der Zug mußte eine Weile halten, so daß wir ein bißchen miteinander plaudern konnten. Aber ich sah aus, daß ich mich schämte; mein Kostüm war nicht für Damengesellschaft berechnet. Es war nur ein Glück, daß mein Stanleyhut aus Zeitungspapier am Abend vorher in den Flammen des Lagerfeuers verbrannt worden war.

Dann arbeitet sich der Zug in unzähligen Windungen zwischen den Bergen immer höher hinauf. Wir steigen bedeutend, und die Temperatur wird wie auf dem nächtlichen Ritte von Stunde zu Stunde niedriger.

Noch nie hat mir eine Eisenbahnfahrt so großes Vergnügen bereitet. Ich bin allein im Abteil, rauche, lese und esse Mrs. Benns freundlich gespendetes Frühstück. Wie herrlich ist es, nach all der Sonnenglut jener langen Tage wieder einmal ganz und gar im vollen Schatten zu sitzen! Draußen badet sich das Land in Licht und Wärme. Ja, scheine nur, du grausame Sonne, hier belästigst du mich durchaus nicht!

Galangur, Kurdagab, Scheichwasil, welch hochtönende Namen tragen doch diese öden, kleinen Haltestellen des äußersten Fühlhornes, das das große indische Eisenbahnnetz nach Osten hin streckt! Hinter der zuletzt genannten Station schlängelt sich der Zug zwischen kahlen, von der Sonne versengten Felswänden hinauf.

Draußen ertönen Trommelwirbel. Ein Hochzeitszug schreitet vorbei, die Frauen in roten Kleidern und mit schlichtem Schmuck, die Männer in Weiß mit weißen Binden um die spitzen Mützen. Die meisten gehen zu Fuß, aber auch zehn Dromedare tragen Hochzeitsgäste. Alles ist überflutet von der glühenden Sonne; dunkel liegen die Schatten neben den schreiend bunten Farben, und ringsumher umrahmen die heiße Einöde und die durchglühten Berge das Bild. Der Hochzeitszug gleitet wie ein Traum vorbei; kaum habe ich das Bild meinem Gedächtnis einprägen können, so ist es auch schon fortgehuscht, und die Trommelwirbel ersterben in der Ferne.

Bei Kanah begegnen wir einem Zug, bei Mastung entzücken dicht aufeinander folgende blühende Gärten und grünende Felder das Auge. Eine gelbgekleidete Frau geht, ein Liedchen summend, unter dem schattigen Laubgewölbe eines Parkes spazieren. Der Himmel ist bewölkt, die Luft schön und kühl. Um 5 Uhr treffe ich in Quetta ein, wo mich Hauptmann A. L. Jacob empfängt, der angewiesen worden ist, sich meiner anzunehmen.

Quetta liegt 1680 Meter über dem Meere, daher war es hier frisch. In Nuschki hatten wir uns in 930 Meter Höhe befunden, wir waren also während der Fahrt ganz bedeutend gestiegen. In Quetta gibt es übrigens alles, was das Leben bieten kann: großartige Gärten und Parke, prachtvolle, elegante Häuser und breite, schöne Straßen, auf denen man, der großen Entfernungen halber, stets reitet oder im »Tam-tam« fährt. Die Stadt hat eine aus 5–6000 Mann bestehende Garnison, darunter zwei Regimenter englischer Truppen, zwei Batterien und auch schwere Artillerie. Auch hier gibt es liebenswürdige, nette Menschen, englische Offiziere und ihre Gemahlinnen, die nicht wissen, was sie einem Fremden, der nur einen flüchtigen Besuch in ihrem Kreise macht, alles Gutes erweisen sollen. Dort gibt es Kaufläden, die sich auch in der Regentstreet in London nicht zu schämen brauchten und in denen jeder Fremde große Einkäufe macht – in Quetta gibt es einfach alles, und Pfirsiche, Trauben und Pflaumen werden dort schon im Juni reif. Im Winter aber ist es dort rauh, und dann ist es nicht leicht, die hohen, luftigen Zimmer warm zu halten.

Ich verlebte in Quetta mit den dortigen Offizieren fünf herrliche Tage. Der politische Agent Mr. Tucker und die Majore Archer, Tottenham und Roddy sorgten für mich in jeder Weise, und in General Smith Dorriens Hause verlebte ich köstliche Stunden.

Am 20. Mai verabschiedete ich mich von allen und zuletzt auch von Riza, dem ehrlichen Jungen, der von der Sonne gebräunt, frisch und gesund aussah und bei dem sich keine Spur von Pest entwickelt hatte. Betrübt stand er auf dem Bahnsteig und sah mir traurig nach, als der Zug um 4 Uhr aus der Station Quetta fortrollte. Ich hatte dafür gesorgt, daß er bequem und sicher durch Belutschistan in seine Heimat zurückkehren konnte. Du lieber Himmel, dachte ich, jetzt ist der Arme wirklich zu bedauern, daß er den endlosen Weg noch einmal im Sonnenbrand zurücklegen soll; es ist jetzt viel heißer, und dann hat er obendrein Seïstan, das verpestete Land, als Reiseziel!

Die Fahrt durch die Täler und Tunnels in die Indusebene hinunter ist außerordentlich malerisch. Obgleich der Abend und die Nacht herannahen, wird es mit jeder Stunde heißer. In Kolpur, wo ich um 6 Uhr eintraf, sind es 25,8 Grad, in Mach, eine knappe Stunde später, sind es schon 34 Grad, und in Peschi, um 8 Uhr, sogar 37 Grad!

Es ist wie am Morgen in Belutschistan, wo die Wärme nach Sonnenaufgang zunimmt. In Jacobabad befinde ich mich schon in der indischen Tiefebene, in der heißesten Gegend von ganz Indien. Hier sind die Abteilfenster mit einer praktischen Ventilation versehen; sie sind mit einem Wurzelfasergeflecht überspannt, das automatisch mit Wasser übergossen wird und durch das ein Ventilator Zugluft in den Abteil hineintreibt.

Mitten in der Nacht rollte der Zug über den mächtigen Indus, Alexanders Fluß, und seine trüben Fluten zur Linken, die endlosen Ebenen des Pendschabs im Osten führt die Bahn nach Nordosten. Es ist erstickend heiß im Abteil; der indische Sommer zittert draußen auf den Ebenen wie überhitzter Dampf. Bald sehe ich als Hintergrunddekoration das Gebirge, bald lausche ich dem Rauschen frischer Bäche. Kühlende Winde flüstern in den Himalajazedern Simlas, und noch höher droben, jenseits der ewigen Schneeberge, liegt das Land der Wildesel und der wilden Yake.

Karte

Hedins Reise durch die Kewir
bis nach Afghanistan und Belutschistan


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