Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wohl jeder hat von dem schwarzen Tod gehört, der sich im 14. Jahrhundert von seiner Urheimat Asien über Europa verbreitet hatte. Ungeheure Länderstrecken verödeten, und auch in vielen Teilen Deutschlands wurde die Bevölkerung fast ganz ausgerottet. Von gewissen, uralten Herden in der alten Welt aus scheint diese unheimliche Seuche von Zeit zu Zeit, glücklicherweise mit langen Zwischenräumen, ihren Boden, den menschlichen Körper, oder vielmehr die Verhältnisse, unter denen die Menschen in gewissen Gegenden leben, als zu einer Razzia geeignet anzusehen. Dann verbreitet sie sich langsam, aber unwiderstehlich über weitausgedehnte Gebiete. Vor etwa zwanzig Jahren wurde China von einer solchen Pestperiode heimgesucht; 1894 hatte die Pest Hongkong erreicht und zog sich dann westwärts nach Indien hin, wo sie mehrere Jahre wütete. Besonders 1896 und 1897 wurden in Indien große Menschenmassen hingerafft, und in den neun Jahren ihrer Dauer hat die Pest in diesem Lande ungefähr drei Millionen Opfer gefordert.
Hinsichtlich der Pest und der andern großen Seuchen, die in Asien wurzeln, steht das Feld allen möglichen Vermutungen offen. Sind die Pest und die Cholera ein notwendiges Übel, ein Mittel in der Hand der Natur, das allzugroße Anwachsen der Zahl der Menschen auf der Erde zu verhindern? Und wenn die Anzahl der Menschen im Laufe der Zeiten wächst, werden dann auch diese Seuchen und ihre Verheerungen in demselben Maße zunehmen? Es ist ein Triumph der Wissenschaft, die Verbreitung der Pest mittelst des Serums hemmen und abschwächen zu können. Ist aber auch dem Menschengeschlecht in seiner Gesamtheit damit gedient, wenn nicht dann und wann eine natürliche Ausmerzung stattfindet? Im 17. Jahrhundert wütete die Pest zuletzt; etwa dreihundert Jahre lang hatte der Bazillus geschlummert. Weshalb wurde er jetzt rege und verbreitete sich unter Menschen und Tieren über einen so großen Teil der Erde? Derartige und viele andere Fragen, die mit der Pest zusammenhängen, harren noch der Beantwortung.
Nun war auch an Seïstan die Reihe gekommen. Soweit man mit Bestimmtheit wußte, hatte die erste Erkrankung im November 1904 stattgefunden. Dann hatte die Seuche sich während des Winters mit solcher Energie verbreitet, daß die indische Regierung eigens einen Arzt mit hindostanischen Assistenten nach Seïstan geschickt hatte, teils um die Krankheit an Ort und Stelle beobachten zu lassen, hauptsächlich aber, um alles Mögliche zu tun, damit die Verbreitung der Pest nach Westen verhindert wurde. Denn faßte sie von Seïstan aus festen Fuß in Persien, so wäre auch Europa bedroht.
Der dazu erwählte Arzt war der Hauptmann Dr. Kelly, der kurz zuvor General Macdonalds Stabsarzt auf Younghusbands denkwürdigem Zuge nach Lhasa gewesen war. Während meines Aufenthalts im englischen Konsulat hatten Hauptmann Kelly und ich daher einen unerschöpflichen Vorrat an Gesprächsstoff. Er gab mir interessante Auskünfte, erzählte mir manches aus Tibet und erteilte mir auch manche Ratschläge, die mir später sehr nützlich gewesen sind. Aber dasjenige, was mich unter den gegenwärtigen Verhältnissen mehr als anderes interessierte, war, seine Erfahrungen über die Pest in Seïstan zu hören.
Der Schilfgürtel rings um den Hamun heißt Nesar. In seinem im Nordwesten der Stadt Nasretabad gelegenen Teile wohnt der Stamm der Seïjat, dessen Angehörige nur innerhalb ihres eigenen Stammes heiraten. Unter ihnen trat im November 1905 im Dorfe Deh-seïjat-gur der erste Pestfall auf. Ein Kuhhirt, Meschedi Hussein, erkrankte an der Pest und starb.
Hauptmann Kelly hatte auf einer großen Karte alle Dörfer, in denen Pestfälle vorgekommen waren, bezeichnet und auch die Daten der Fälle aufgeschrieben. Dadurch, daß er von allen Seiten her Nachrichten gesammelt, war er auch imstande gewesen, die geographische Verbreitung der Pest zu verfolgen; das eben erwähnte Dorf nennt er ihren primären Herd. Von diesem Dorf aus verbreitete sich die Seuche nach drei Seiten hin: nach Ostnordosten, Südosten und Südsüdwesten.
Zwei in persischen Diensten stehende Belgier nahmen damals die persischen Zollinteressen an der Grenze von Belutschistan wahr. Sie hatten den amtlichen Auftrag erhalten, zur Abwehr der Krankheit beizutragen. Nach allerlei Schwierigkeiten hatten ihre Bemühungen Erfolg. Sie überredeten die Einwohner, Kleider, Hütten und Hausgeräte zu verbrennen, kurz alles zu vernichten, was mit Pestkranken und an der Pest Gestorbenen in Berührung gekommen war. Dafür verteilten sie neue Kleidungsstücke an die Erben und gaben ihnen die zum Erbauen neuer Schilfhütten erforderlichen Mittel. Auf diese Weise wurde das Umsichgreifen der Pest in der Richtung nach Ostnordosten und Südosten verhindert.
In der Richtung nach Südsüdwesten ging es schlimmer. 38 Flüchtlinge aus Deh-seïjat-gur brachten die Pest nach Puscht-i-Kuh-i-Chodscha; 35 Flüchtlinge starben, nachdem sie dieses Dorf mit den Mikroben infiziert hatten. Ihre Leichen wurden nicht im Dorf, sondern auf einem Friedhof zwischen ihm und dem weiter ostwärts liegenden Deh-gurg begraben. Ein Mollah und mehrere Verwandte der Verstorbenen kamen aus Deh-gurg, um den Beerdigungen beizuwohnen, und als sie wieder in ihr Dorf zurückkehrten, brachten sie den Ansteckungsstoff dorthin und steckten obendrein noch alle am Wege liegenden Dörfer und Lager an. Im Dorfe Puscht-i-Kuh-i-Chodscha wohnen allerdings auch Seïjaten; aber im Gegensatz zu ihren nördlicheren Stammesbrüdern werden bei ihnen auch außerhalb des Stammes Ehen geschlossen, besonders mit Bewohnern festangesiedelter Dörfer im östlichen Deltalande. Infolgedessen fanden sich von dort her Anverwandte zu dem Leichenbegängnis ein. Puscht-i-Kuh-i-Chodscha wurde so ein sekundärer Herd, von dem aus die Pest ihren Siegeszug durch das Land fortsetzte. Das kleine, arme Deh-gurg hatte nur 170 Einwohner. Bei meiner Ankunft in Seïstan waren 150 von ihnen gestorben; die Überlebenden blieben jedoch in dem so grauenvoll infizierten Dorfe wohnen. Doch noch ehe ich das Land wieder verließ, hörte ich, daß auch die 20 Überlebenden teils gestorben, teils geflüchtet seien und daß Deh-gurg nun ganz leer und verödet liege.
Deh-gurg wurde also ein dritter Ansteckungsherd, von dem aus sich die Krankheit nach dem auf seiner Nordseite liegenden Daudeh verbreitete, wenn nicht vielleicht schon eine Mikrobenübertragung aus Puscht dieses Dorf erreicht hatte. Daudeh hatte 450 Einwohner; unter ihnen wütete die Pest in der entsetzlichsten Weise. Die Leute verhielten sich gegen die Vorstellungen der Europäer ablehnend und erlaubten keine Sicherheitsmaßregeln. Dafür mußten die meisten auch sterben. Einer Ansicht nach war die Pest nach Daudeh durch einen Bauern gebracht worden, der in Puscht Federn und wildes Geflügel gekauft hatte und dann nach Daudeh zurückgekehrt war.
Als die Seuche sich nach mehreren Seiten hin verbreitete, das ganze Land bedroht erschien und ganze Dörfer ausstarben, ließen die Behörden sich dazu bewegen, einen Kordon von einigen hundert Soldaten um das verseuchte Gebiet zu ziehen, um alle Verbindungen abzuschneiden und so die Pest zu lokalisieren. Aber man kennt die persischen Soldaten! Sie hatten von der Gefahr ebenso dunkle Begriffe wie das übrige Volk und gehorchten ihren Instruktionen nicht. Zwei von ihnen begaben sich nach dem unglücklichen Daudeh und aßen in einem Hause zu Mittag, wo eben ein Mann an der Pest gestorben war. Beide starben. Was konnte man von dem Volk erwarten, wenn die Bewachung, anstatt die Übertragung der Krankheit zu verhindern, selbst zu ihrer Verbreitung beitrug!
Die Soldaten wurden auch bald ihres Dienstes überdrüssig und wollten in ihre Heimat im östlichen Persien zurückkehren. Die Behörden erfüllten ihnen diesen Wunsch ebenso nachlässig wie unbedacht; auf diese Weise geriet das ganze Land in Gefahr.
Puscht-i-Kuh-i-Chodscha hatte die Pest Anfang Januar 1906 erreicht. Jetzt lag ihr, da der Soldatenkordon aufgelöst war, ganz Seïstan offen, und sie verbreitete sich auf unsichtbaren Wegen von Dorf zu Dorf nach allen Seiten hin. Schließlich kam sie auch, drei Wochen vor meiner Ankunft, nach der Doppelstadt Nasretabad-Husseinabad. Infolge des allgemein herrschenden Aberglaubens, des Mißtrauens gegen die Europäer und der Abneigung, sich ihren Anordnungen und Ratschlägen zu fügen, hatte Hauptmann Kelly bei seinem Versuche, die Bahn der Seuche durch das Land im einzelnen zu verfolgen, mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, und viele Angaben hatte er nicht kontrollieren können. In den Hauptzügen konnte er indessen den Verlauf doch verfolgen, und seine Karte war als Beitrag zur Kenntnis der Pest außerordentlich interessant und wertvoll. Noch waren die am untern Hilmend liegenden Dörfer unberührt, aber es schied sie auch ein unbewohntes Gebiet von dem verseuchten Lande.
Nach Hauptmann Kellys Ansicht konnte man sich gar keine vorteilhaftern geographischen Verhältnisse denken, um eine Seuche zu hemmen und zu lokalisieren: im Osten der Fluß, im Norden und Westen der Hamun und im Süden eine Wüste. Man würde den ganzen Jammer wie in einer Mausefalle fangen, wenn alle Aus- und Eingänge des verseuchten Gebietes gesperrt würden. Schlimmstenfalls könne dort die ganze Bevölkerung aussterben; denn was seien jene hunderttausend Menschen gegen ganz Persien! Gelange die Pest erst dorthin, so liege ihr die ganze Welt offen, und kein Mensch wisse, was das Ende sein werde!
Eine Frage, auf die Hauptmann Kelly trotz eifriger Bemühungen, Versuche und Experimente noch keine Antwort hatte finden können, war: wie ist die Pest nach Seïstan gekommen? Wie kam die Ansteckung zuerst nach Deh-seïjat-gur? Seïstan war auf allen Seiten von pestfreiem Lande umgeben, und das 1000 Kilometer entfernte Karachi war der nächste, von der Pest heimgesuchte Ort. Man konnte sich nur drei Wege der Verbreitung denken: zu Land, zu Wasser und durch die Luft. Der Wasserweg war ausgeschlossen, denn der Hilmend kommt aus gesunden Gebirgsgegenden, und sein Wasser bleibt im Hamun. Mit Karawanen kann die Seuche auch nicht gekommen sein, denn teils waren die Leute in Deh-seïjat-gur arm und kauften keine Waren aus Hindostan, teils brauchen die Karawanen etwa zwei Monate, um von Nuschki nach Nasretabad zu gelangen. Wenn sie die Seuche eingeschleppt hätten, müßte doch sonst noch ein Punkt auf ihrem Wege infiziert worden sein; dies war aber nicht geschehen. Der Wind trägt den Ansteckungsstoff auch nicht weiter, denn in Indien hat man festgestellt, daß er sich unabhängig von allen Winden weiterverbreitet.
Es bleiben also noch die Zugvögel; sie hatte Hauptmann Kelly in Verdacht. Er dachte an die Wildgänse und Enten, die von Indien nach Seïstan ziehen und vielleicht mit Pestleichen, die man in die Flüsse geworfen, in Berührung gekommen sind. Dabei erhebt sich aber eine neue Schwierigkeit: die Wildgänse und Enten ziehen im Frühling von Indien nach Nordwesten, und der erste Pestfall kam im November vor. Es läßt sich allerdings die Möglichkeit annehmen, daß der Ansteckungsstoff wirklich im Frühling übertragen, die Krankheit aber erst im Herbst zum Ausbruch gelangt sei.
Gedankenlose und egoistische Menschen arbeiteten im Interesse des mörderischen Bazillus. Die überall im Lande herrschende Hungersnot schwächte das Volk und machte es für die Krankheit empfänglich. Unter gewöhnlichen Verhältnissen werden schon große Mengen der Kornernte des Jahres von einer kleinen Anzahl reicher Leute aufgekauft, die später beim Wiederverkauf die Preise zu mehr als doppelter Höhe hinauftreiben. Der Mangel, der jetzt herrschte, war zum großen Teil eine Folge der fehlgeschlagenen Ernte in Kain, wohin aus Seïstan solche Kornmengen geschickt werden mußten, daß das Land schließlich selbst in Not geriet. Alle Armen, d. h. der größere Teil der Bevölkerung, mußten jetzt entweder verhungern oder ihr Leben mit Schilfschößlingen und Kräutern fristen; auf diese Weise mußten sie noch weitere sechs Wochen um ihr Dasein kämpfen, bis sie das diesjährige Korn ernten konnten.
Als die gewissenlosen, reichen Spekulanten ihre Einkünfte einbüßten, reizten sie das Volk gegen die Belgier auf und streuten unwahre Gerüchte über sie aus. Sie behaupteten, jene verbrennten den Koran und das Verbrennen der Kleider der Kranken und das neue Einkleiden der Hinterbliebenen geschehe nur, weil jene Fremdlinge sich in den Besitz anständig gekleideter Frauen setzen wollten; die Belgier täten alles, was in ihrer Macht stehe, damit die Seuche sich verbreite, die Bevölkerung entarte und es den Europäern leichter werde, sich des Landes zu bemächtigen.
Dazu kamen noch die Muschtehids und Mollahs, die Schriftgelehrten und die Geistlichen, die ebenfalls dahinterstanden und Unzufriedenheit und Mißtrauen säten. Sie fürchteten, daß das Volk Europäern und Heiden Vertrauen schenken könne und daß sie selbst ihren Einfluß auf die Massen verlieren würden. Mit Recht hofften die Europäer, daß dieser oder jener mohammedanische Priester selbst von der Pest befallen werde, damit die Arbeit zum Nutzen des Volkes ungehindert fortschreiten könne.
Indessen glückten diesen Schuften ihre bösen Anschläge so gut, daß der Pöbel, von Haß und bösem Willen entflammt, am 27. März einen Angriff auf das Lazarett der Belgier machte und es niederbrannte. Gegen fünfhundert Fanatiker zogen dann nach dem englischen Konsulat, wo sie in unbändiger, herausfordernder Weise auftraten. Die Hauptleute Macpherson und Kelly gingen zu ihnen hinaus, um sie zu beruhigen, wurden aber mit einem Hagel von Steinen und Lehmklumpen empfangen. Nun brach die Menge in die Apotheke ein und zerschlug nicht nur alle Gefäße, die Medizinen enthielten, sondern auch alle Möbel, Türen und Schränke. Zum Glück waren die Serumtuben zufälligerweise an einem andern Ort aufbewahrt. Ein Kerl kletterte auf das Dach, um die Bande von dort herab noch mehr aufzureizen, und erst als einige Revolverschüsse durch die Luft pfiffen, zogen sich die Unruhstifter zurück. Der Konsul Hauptmann Macpherson hatte sofort einen reitenden Boten nach Rabat in Belutschistan geschickt, um Entsatz herbeizurufen.
Die nächste Folge dieses Angriffs war, daß die Verteilung der Arzneimittel aufhörte; sie waren vernichtet worden. Bisher hatten alle Kranken, die sich meldeten, kostenlos Medizin erhalten. Man begann bald einzusehen, wie dumm man gewesen war, und nun richtete sich die Unzufriedenheit gegen die Erreger und Führer des Aufruhrs.
Seitdem war die Bevölkerung ganz sich selber überlassen geblieben; aber im englischen Konsulat mußte man jeden Augenblick auf einen neuen Angriff gefaßt sein. Alles war zur Verteidigung bereit. Der große Proviantvorrat, den man sonst in einem Speicher verwahrte und der dort leicht gestohlen werden oder mit dem in Brand gesteckten Gebäude verbrennen konnte, wurde in das Haupthaus gebracht. Dieses ließ sich schnell in eine Festung verwandeln, und von dem platten, mit Zinnen umgebenen Dache herab konnte man im Fall eines Sturmes auf das Haus den ganzen Hof beschießen. Die Eskorte des Konsulats bestand freilich nur aus zwanzig indischen Kavalleristen, aber sie waren gleich den sechs Sahibs vorzüglich bewaffnet.
Man muß dem irregeführten, unwissenden Volke wirklich verzeihen; denn, durch Hungersnot und Pest zur Verzweiflung gebracht, weiß es nicht, was es glauben soll. Die Leute können nicht begreifen, weshalb die Europäer ihnen ohne Vergütung, ja unter bedeutenden Kosten, mit Rat und Tat beispringen; sie können sich nicht denken, daß dies nur aus menschenfreundlichen Gründen geschieht. Wenn ihnen ihre eigenen Schriftgelehrten und Priester versichern, daß die Engländer die große Handelsstraße in Belutschistan nur angelegt hätten, um die Pest in das Land zu bringen und daß sie unter dem Vorwand, Arznei zu verteilen, nur das Gift verbreiten wollten – ja, dann ist es wirklich kein Wunder, wenn dieses arme Volk in Wut gerät. Dazu kam noch, daß die Bevölkerung sah, wie sie selber dezimiert wurde, während die Europäer verschont blieben, – nicht ein einziger Europäer erkrankte an der Pest. Der Gouverneur Mir Mohsin Chan eilte auf seiner Flucht vor der Pest wie ein Wahnsinniger von Dorf zu Dorf; und von dem Oberst eines Regiments sagte man, daß er beabsichtige, auf den Kuh-i-Chodscha hinaufzuflüchten – als ob die Pest sie darum nicht ebenso gut befallen könnte! Man war der Ansicht, daß eine Steigerung der Pestfälle und der Hungersnot jeden Augenblick eine allgemeine Panik herbeiführen könne und daß sich die Wut dann vermutlich zu allererst gegen die Engländer richten werde. Das Volk konnte sich auch sagen, daß große Proviantmengen im Konsulat aufgespeichert sein müßten, und dies allein schon konnte in einem Hungerjahre zu Gewalttätigkeiten reizen.
Unter normalen Verhältnissen hat die kleine Doppelstadt 7000 Einwohner, von denen 2500 in Nasretabad und 4500 in Husseinabad wohnen. In diesen beiden, dicht zusammengedrängten, ungesunden, armen und schmutzigen Gemeinwesen hatte der Pestengel jetzt sein Hauptquartier aufgeschlagen. Am Tage vor meiner Ankunft hatte man 35 Erkrankungsfälle festgestellt, darunter 10 mit tödlichem Ausgang. Am 10. April wurden 11 Todesfälle gemeldet, am 13. 13 und am 14. 15; die Pest schien Fortschritte zu machen. Am 17. April waren schon vormittags um 11 Uhr 8 an diesem Tage eingetretene Todesfälle gemeldet worden. Aber beinahe niemals meldeten die Eingeborenen den Tod ihrer Verwandten und Angehörigen selber an. Im englischen Konsulat erhielt man nur durch Kundschafter und durch Kaufleute Nachricht. Man ließ besonders die Friedhöfe beobachten, obgleich auch dies nicht zuverlässige Kunde gab, da die Eingeborenen, um die Todesfälle zu verheimlichen, die Leichen an allen möglichen Orten beerdigten und die Beerdigungen meistens bei Nacht vor sich gingen. Die Engländer nahmen daher an, daß die wirklichen Todesziffern viel höher sein mußten als die gemeldeten. Aber auch so schon war es erschreckend viel für eine so kleine Stadt, aus der noch obendrein große Massen der Bevölkerung ausgewandert waren. In Husseinabad sollten nur gegen 2000 Einwohner geblieben sein, aber Nasretabad war so gut wie gänzlich geräumt worden; es wohnten dort nur noch etwa 100 Menschen, meistens Soldaten und Bettler. Die Stadt war ganz ohne Behörden; alle Läden und Basare waren geschlossen, die Straßen leer und verödet.
Husseinabad zeigt ein Gewirr von Kuppeln und Mauern, würfelförmiger Häuser und Windmühlen, alles grau und farblos, nur sehr selten durch ein bißchen Grün unterbrochen, durch irgendeinen armseligen Garten mit Maulbeer- und Apfelbäumen, den Mauern vor dem heftigen Sommerwinde schützen.
Nasretabad bildet ein Rechteck, das im Norden und Süden ein wenig länger ist als im Osten und Westen. Eine Lehmmauer und ein mit Wasser gefüllter Wallgraben umschließen die Stadt. Man fühlt sich nach einem Spaziergang durch die Straßen dieser unglücklichen, heimgesuchten Stadt seltsam bedrückt. Um dorthin zu gelangen, wendet man sich von dem großen Portale des Konsulats westwärts und geht über die platzähnliche Straße zwischen den beiden Städten. Zur Linken hat man zuerst einige verpestete Hütten und rechts die englische Bank hinter ihrer Mauer, weiterhin die ganze Südseite der Nasretabader Stadtmauer mit runden Türmen an den Ecken und in den Flanken. Eine Strecke weiter liegt auf der linken Seite ein langes, niedriges Gebäude; hier befinden sich die Läden englischer Untertanen und dahinter die Speicher russischer Untertanen.
Ich passiere das südliche Stadttor von Nasretabad, wo einige halbverhungerte, bemitleidenswerte Bettler ihre Hände ausstrecken. Hier beginnt die Hauptstraße, die quer durch die ganze Stadt, von einem Tor zum andern, führt; in ihr liegen auch die Basarläden. Die Straße ist eng, staubig und schmutzig, eine scheußliche Rinne voll Kehricht und Abfall; die einzigen Leute, denen ich begegne, sind schmierige Soldaten und Bettler, denen die Lumpen beinahe vom Leibe fallen. Die Stadt ist so klein, daß es nur einiger Minuten bedarf, um sie zu durchqueren. An ihrer Nordwestecke liegt die »Ark«, die Wohnung des Gouverneurs. Alles sieht verfallen, häßlich, heruntergekommen aus. Man möchte auch nicht eine einzige photographische Platte damit verunzieren. Sogar der Gouverneurpalast war leer und öde, seit der Gouverneur die Flucht ergriffen und seinen ganzen Hofstaat an Dienern und Polizisten mitgenommen hatte.
Und doch hatte dieses Nest gerade jetzt die Aufmerksamkeit der Welt in hohem Grade verdient. In politischer Hinsicht war Seïstan wegen des stillen Wetteifers zwischen England und Rußland um den Einfluß sehr interessant. Das Land liegt auf halbem Weg zwischen Indien und Teheran und zwischen Transkaspien und dem Persischen Golfe. Die jetzt herrschende Gespanntheit konnte jeden Augenblick akut werden, und der Kampf um Iran konnte von Seïstan aus beginnen.
Aber noch unheimlicher war die Gefahr, daß die Pest sich von Seïstan aus weiter verbreitete. Nach dem Gerücht, daß Turbet-i-Haidari infiziert sei, schienen alle Voraussetzungen vorhanden, daß die Seuche nach Westen hin um sich greifen werde. Drang sie nach Mesched, das alljährlich 150 000 Pilger besuchen, so war alles verloren; dann würden die vielen wie Radien von dieser Stadt ausgehenden Straßen die ganze mohammedanische Welt Westasiens verpesten, und dann war jeder Versuch, den Siegeszug der Pest zu hemmen, aussichtslos. Wie einfach wäre es doch gewesen, der Ansteckung in Seïstan Halt zu gebieten! Glücklicherweise verbreitete sich die Pest damals nicht weiter nach Westen; aber es hätte leicht geschehen können, und die Schuld an all dem unberechenbaren Unglück, das daraus entstanden wäre, hätten die persischen Behörden und vor allem die Geistlichkeit getragen.
Die Pest ist in ihrem Auftreten insofern viel weniger rätselhaft als die Cholera, als man ihr lokales Umsichgreifen erklärlich findet. Tritt sie in einem Hause auf und ergreift in der Familie ein Opfer, so weicht sie erst dann wieder aus dem Hause, wenn sie alle seine Bewohner hingerafft hat. Die Cholera dagegen befällt ein Mitglied der Familie und verschont die übrigen. Die Cholera ist tückischer und unberechenbarer; von der Pest weiß man wenigstens, daß ein völlig isoliertes Haus vor ihr geschützt werden kann, während alle, die in unmittelbarer Nähe der Erkrankten wohnen, so gut wie verloren sind. Nur durch außerordentlich energische Maßregeln läßt sich das Umsichgreifen der Seuche verhindern. In dem infizierten Hause oder, richtiger, der Lehmhütte sollte man den Lehmfußboden mit Brennholz bestreuen und dieses anzünden; die Lehmmauern würden durch eine Erhitzung von mehreren hundert Graden nur an Festigkeit gewinnen. Alle Kleider und sämtliches Hausgerät müßten in die Flammen geworfen werden, dann könnte man den Ansteckungsstoff vernichten. Auf diese Weise hatte man ja in den nördlichen Seïjatendörfern das Umsichgreifen der Pest erfolgreich verhindert.
Hauptmann Kelly hatte viele Pestkranke besucht. Er erzählte mir, daß der Patient große Schmerzen habe, apathisch und gleichgültig werde und nur den Wunsch habe, in Ruhe gelassen zu werden, um in Frieden sterben zu können. Besonders die Stellen des Körpers, an denen sich die Beulen bildeten, seien außerordentlich schmerzhaft. Wenn die Beulen rechtzeitig aufbrächen, könne der Kranke wieder gesund werden. Wenn aber der Eiter sich innerlich in die Lymphdrüsen hineinfresse und ins Blut gehe, so trete der Tod sehr bald ein. Die » Pneumonic plague«, d. h. die Form der Krankheit, die die Lungen angreife, habe fast immer einen tödlichen Ausgang, weil die Mikroben dort vor den sie verzehrenden Zellen geschützt seien. Bei einem solchen Patienten sei der behandelnde Arzt mehr der Ansteckung ausgesetzt als sonst. Der Kranke brauche nur zu husten und dabei ein einziger minimaler Tropfen dem Arzt ins Auge spritzen, in dessen Feuchtigkeit der Bazillus fortwuchern könne, dann sei der Ansteckungsstoff schon übertragen; erhalte die Hornhaut des Auges auch nur die feinste Schramme, z. B. durch ein unmerkliches Sandkorn, so drängen die Mikroben nach innen und führten ihr Werk aus.
Die Ratten tragen in hohem Grad zur Verbreitung der Pest bei; in Nasretabad gab es leider viele Ratten. Sie sterben selber an der Pest, und ihr Ungeziefer trägt dann den Ansteckungsstoff weiter. Wenn eine Ratte gestorben ist, verläßt ihr Ungeziefer den Kadaver, sobald er erkaltet ist, und wartet dann auf Gelegenheit, das erste beste lebende Wesen, sei es auch ein Mensch, in der Nähe anzukriechen. Ich erfuhr von Hauptmann Kelly, daß der Hund als immun gilt, aber sein Ungeziefer, der Hundefloh, die Ansteckung auf Menschen übertragen kann, denn in diesem leben die Mikroben. Während meines Aufenthalts in Nasretabad mußten meine Hunde angebunden vor der Wohnung meiner Leute liegen, aber die Hunde des Konsulats gingen ungeniert aus und ein und versäumten es nie, sich zur Tischzeit einzustellen.
In einem großen, prächtigen Offizierszelt auf einem Anger außerhalb des Konsulats hatte Hauptmann Kelly sich sein Laboratorium eingerichtet; auf einem Tische war das Mikroskop aufgestellt. Hier hatte ich Gelegenheit, die scheußlichen Mikroben kennenzulernen, die mir in verschiedenen Präparaten gezeigt wurden. Sie waren getötet und gefärbt und traten mit bewunderungswürdiger Deutlichkeit hervor. Eigentlich ist nicht viel daran zu sehen – eine Menge kleiner, winziger, schwarzer Punkte; und doch sind diese Pünktchen einem Volke gefährlicher als die raffiniertesten Vernichtungswerkzeuge der modernen Kriegskunst und richten größere Verheerungen an als ein Krieg. Mit einem gewissen Respekt betrachtet man sie durch das Mikroskop.
Als ich aber den Wunsch aussprach, die Mikroben, wenn auch nicht als lebendige Individuen, so doch wenigstens auf ihrem Arbeitsfelde zu sehen, einen Sterbenden besuchen und Augenzeuge der Symptome werden zu dürfen, unter denen ein Unglücklicher in dem ungleichen Kampf unterliegt, sagte Hauptmann Kelly bestimmt »Nein«, weniger wegen der Gefahr, die mir dabei durch mißtrauisches Übelwollen drohen konnte, als vielmehr wegen der direkten Ansteckungsgefahr. Ich hatte vorgeschlagen, daß wir das nächste Mal, wenn der Doktor einen Kranken in sehr weit vorgeschrittenem Stadium besuchte, zusammen hingehen und dort warten wollten, bis der Tod eintrete. Aber er wollte nichts davon hören, das Risiko sei zu groß.
»Aber Sie selber riskiren ja ebensoviel«, erwiderte ich.
»Ja freilich, aber ich tue nur meine Pflicht und Schuldigkeit, wenn ich einen Kranken besuche.«
»Ich kann Sie als Assistent begleiten.«
»Nein, ich würde die Verantwortung für Ihr Leben nicht übernehmen können. Sobald der Pestkranke stirbt, verläßt ihn sein Ungeziefer, und alle, die sich in der Nähe befinden, sind in hohem Grad der Gefahr der Übertragung ausgesetzt.«
Bedeutende Mengen Pestserum waren Hauptmann Kelly von Bombay aus zur Verfügung gestellt worden. Die Mikroben, die man zur Kultur benutzt, werden aus den Beulen Kranker genommen, eine ziemlich gefährliche Operation; man muß sicher sein, auch nicht die kleinste Ritze an den Händen zu haben, und sich sehr in acht nehmen, daß man sich nicht mit der Spitze der kleinen Saugspritze verwundet, mit der die mörderische Flüssigkeit aus der Beule gezogen wird. Einer der Assistenten Kellys hatte bei einer solchen Gelegenheit einen kleinen Riß am Finger nicht beachtet; 13 Stunden darauf war er tot.
Die gelbe Serumflüssigkeit wird in kleinen, zugeschmolzenen Glastuben aufbewahrt, deren jede 5 Kubikzentimeter Serum, für eine einzige Injektion ausreichend, enthält. Der Arzt muß sich vergewissern, daß die Kapsel durchaus fehlerfrei und hermetisch verschlossen ist, ehe er die Spitze abbricht und die Injektionsspritze füllt, nachdem er sie zuvor gereinigt und sich die Hände mit Karbolsäure gewaschen hat. In Bombay kam es einmal vor, daß eine große Glastube einen unmerklichen Riß hatte, der aber groß genug war, eine Verunreinigung der Flüssigkeit zu ermöglichen. Die 17 Personen, die mit Serum aus dieser Tube geimpft wurden, starben alle, ein um so beklagenswerteres Ereignis, als es natürlicherweise großes Mißtrauen gegen die Ärzte erweckte.
Anfangs war das Volk in Seïstan nicht dazu zu bewegen, sich impfen zu lassen, und die Geistlichkeit verbot den Rechtgläubigen geradezu, sich auf so abenteuerliche Geschichten einzulassen. Als aber die Pest um sich griff und Unruhe und Angst die Unglücklichen dazu trieben, kein Mittel unversucht zu lassen, kamen sie, entblößten ihren linken Arm, ließen ihn vom Assistenten mit Karbolsäure waschen und den Doktor die feine Spitze der Spritze unter die Haut stechen. Die meisten glaubten nicht, daß dieses seltsame Verfahren sie von der Pest erretten könne, aber sie sahen wenigstens, daß es ihnen nichts schadete. Zwei glückliche Zufälle kamen dem Doktor zu Hilfe. In einem Hause hatte sich nur der Mann impfen lassen, seine Frau und Tochter aber hatten sich nicht dazu verstehen wollen. Beide starben, während der Mann am Leben blieb. Einen tiefen Eindruck machte es auf die Leute in Nasretabad, als die Pest in dem Hause des Konsulatsgärtners auftrat und vier Mitglieder der Familie hinraffte, den Mann, der sich vorher hatte impfen lassen, aber verschonte. Da begriffen sie, daß diese Behandlung das einzige ihnen zu Gebote stehende Rettungsmittel war. Absolut sicher ist es ja auch nicht, aber es verringert doch die Aussicht auf Todesfälle um 75 Prozent, und das ist schon sehr schön. Sonst starben 95 Prozent der erkrankten Eingeborenen.
Gleich bei meiner Ankunft in Nasretabad wurde mir geraten, mich impfen zu lassen, wie alle hier wohnenden Europäer es getan hatten. Die Operation ging in einem kleinen Zimmer im Krankenhause vor sich. Eine ordentliche Beule bildet sich auf dem Arme, sobald die 5 Kubikzentimeter unter die Haut gespritzt worden sind; zugleich stellt sich ein leicht brennendes Gefühl ein. Es hört allerdings bald auf, kommt aber nach zwei Stunden wieder. Der Arm wird steif und läßt sich nicht biegen, und in der Nacht hat man schwaches Fieber, das jedoch durchaus nicht lästig wird. Am nächsten Morgen merkt man gar nichts mehr davon.
Hauptmann Kelly führte über alle Geimpften genau Buch. Meine Nummer war hoch über 400. Von allen bisher Geimpften war keiner gestorben. Die Eingeborenen fingen schon selber an, sich, wenn jemand starb, danach zu erkundigen, ob er geimpft worden sei oder nicht, und man ließ sie daraus ihre eigenen Schlüsse ziehen. Doch noch war das Mißtrauen nicht ganz überwunden, und 400 war ja ein verschwindend kleiner Prozentsatz der ganzen Bevölkerung.
In Husseinabad wandten die Bewohner folgendes raffinierte Mittel an, das noch vom Mittelalter her spukte. Die schmerzende Beule wird mit einem Filzlappen bedeckt; auf diesen gießt man Wasser und aufgelöstes Salz, und dann drückt man die weißglühende Spitze eines eisernen Spießes so fest darauf, daß sie durch den Lappen und durch die Beule bis in die Muskelmassen des Kranken dringt. Dies ist wenigstens ein Radikalmittel, und die Bazillen, die mit dem glühenden Eisen in Berührung kommen, müssen sich nicht gut danach befinden. Einige, die man auf diese Weise behandelt hat, sollen wirklich wieder gesund geworden sein.
Als die Seuche in Nasretabad ihr Vernichtungswerk begann, dachten die Muschtehids und Mollahs, sie könnten das Pestgespenst dadurch verjagen und beschwören, daß sie täglich mit einer Opferziege an der Spitze in feierlicher Prozession um die Stadtmauern zogen. Sie trugen den Koran und lasen Sprüche daraus vor, sie hatten Musik und schwarze Fahnen oder, richtiger, zwischen je zwei Stangen ausgespannte schwarze Zeuglappen, und wenn sie so die Runde gemacht hatten, wurde die Ziege dem Ali geopfert. Diese Beschwörungsprozessionen wurden sehr populär, und das Volk glaubte an ihre Wunderkraft. Sie verkörperten den leicht zu beeinflussenden Menschen sozusagen die göttliche Macht, und die Priester in ihren weißen Turbanen und langen Kaftanen imponierten ihnen als die Dolmetscher und Fürsprecher der Menschen vor Allahs Thron. In Wirklichkeit trugen sie in hohem Grad zur Verbreitung der Seuche bei; manche der in diesen Prozessionen Wandelnden kamen ja direkt aus Pesthäusern und steckten die an ihrer Seite Gehenden an! Der Beschwörungszug unter Allahs Schutz war nichts anderes als ein Zug des Todes, eine Wanderung nach dem Grabe.
Allmählich hörten diese Prozessionen auf – nicht aus dem Grunde, weil sie doch nichts nützten, sondern einfach deshalb, weil es an Leuten und – Ziegen fehlte. Anstatt sich an der Prozession zu beteiligen, starben die Leute und hatten so eine gute Entschuldigung für ihr Fernbleiben; andere flüchteten aus der verpesteten Stadt, und schließlich gab es dort niemand mehr, der Lust und Geld gehabt hätte, die Opferziege zu bezahlen.
Die Zurückgebliebenen nahmen ihre Zuflucht zu einem andern Mittel. Der vornehmste Muschtehid der Stadt, Mollah Mahdi, rief das Volk zu »Rosa-chaneh«, zu Gebetversammlungen auf dem Platze vor der Moschee, die seinen Namen »Mestschid Mollah Mahdi« trägt, zusammen. Bei diesen Betstunden wurden den Anwesenden Tee und Kalian, die von Mund zu Mund gehende Wasserpfeife, serviert; die verblendeten, verhärteten Menschen hatten so eine neue Art gefunden, die Seuche durch Volksversammlungen zu verbreiten.
Vergeblich hatten die Engländer versucht, diesem Mollah Mahdi und der übrigen Geistlichkeiten in Nasretabad Vernunft beizubringen. Mit Hilfe der Priester wäre es möglich gewesen, die Pest in vier Wochen auszurotten. Aber sie ließen nicht mit sich reden, denn für sie war es die Hauptsache, daß sie ihre Macht und ihren Einfluß auf das Volk nicht einbüßten. Die Todesfälle wurden den Engländern soviel wie möglich verheimlicht, und die meisten Beerdigungen fanden daher bei Nacht statt. Einmal, als Macpherson und ich spazieren gingen, begegneten wir einigen Männern, die einen Sarg trugen, und ein andermal sahen wir, wie man eine Leiche in einem Tümpel stagnierenden Wassers wusch. Es kamen scheußliche Szenen vor, wenn arme Leute die Beerdigung nicht bezahlen konnten und daher die Leichen ohne weiteres auf die Straße warfen.
Die kleine Stadt verfügte nur über zwei Särge, und in diesen einfachen Laden sollten alle Toten die letzte Reise nach den Friedhöfen zurücklegen. Die Särge werden nämlich nicht mitbegraben, sie dienen nur als Bahren; am Grabe wird die Leiche hinuntergelassen und in eine Nische oder Aushöhlung hineingeschoben, um nicht durch die Erdschollen gedrückt zu werden. Die Särge, die von Männern getragen werden, sind natürlich auch noch ein Mittel zur Verbreitung der Ansteckung. Jetzt waren diese Särge sehr in Anspruch genommen und wanderten in einer Nacht oft mehreremal hin und her. Man wurde deshalb auch immer nachlässiger mit dem Beerdigen der Toten, und von mehr als einer Seite wurde uns erzählt, daß sehr viele Eingeborene sich selber ihr Grab grüben, damit es rechtzeitig bereit stehe und sie die Gewißheit hätten, anständig beerdigt zu werden und nicht nach ihrem Tode den Schakalen und Raubvögeln als Speise zu dienen. Darin liegt jedenfalls eine gewisse ansprechende Resignation. Am 15. April wurde gemeldet, daß aus zwei Häusern, in denen Sterbefälle vorgekommen, die Bewohner mit Sack und Pack ausgezogen seien, nachdem sie die Türen verschlossen und die Leichen drinnen zum Verwesen hätten liegen lassen. Man hielt es für selbstverständlich, daß armes Gesindel die Türen dieser Häuser erbrechen und sich dort einquartieren werde. Schon am 11. April hatten wir gehört, daß ein armer Kerl eine Leiche mehrere Straßen weit durch den Staub geschleift und sie vor den Läden der Kaufleute hingeworfen habe, damit die Ladenbesitzer sie auf ihre Kosten beerdigen lassen sollten.
Das kühle, frische Wetter, das noch immer herrschte, war der allgemeinen Ansicht nach der Pest sehr günstig. In Indien hat man beobachtet, daß die Pest während des Hochsommers abnimmt und oft sogar ganz aufhört. Man hoffte daher, daß die große Hitze auch in Seïstan der Seuche ein Ende machen werde. Man glaubt, daß dies zu nicht geringem Teil darin seinen Grund habe, daß man bei kühlem Wetter daheim bleibe und sich in den kleinen, engen Räumen zusammendränge. Wenn es heiß ist, sitzen die Leute nicht so dicht beieinander und dadurch wird verhindert, daß die Ansteckung von dem einen auf den andern überspringt.