Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

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Achtes Kapitel

Ohne Vergangenheit

Dies sonderbare ausweichende »noch einmal« in Verbindung mit den Worten, die Kala Rama von dem Scheiden vom Leben hatte fallen lassen, würde wohl Amanda noch lange beunruhigt haben, wenn nicht – als die leisen Fußtritte des alten Inders auf dem dürren Laub noch hörbar waren – Arthur plötzlich aus der Dunkelheit des Orangenhains hervorgebrochen wäre.

– Was hat er denn gesagt? fragte er atemlos, in den Kiosk hereintretend. Atemlos – aber in Wirklichkeit gar nicht so sehr wißbegierig. Welche Maßregeln der Minister treffen wollte – wie es mit dieser ganzen Verschwörung jetzt gehen würde – das trat gänzlich in den Hintergrund im Verhältnis zu dem berauschenden Gefühl, mit ihr in einer kleinen Privat-Verschwörung verwickelt zu sein und dadurch das volle Recht zu besitzen, mit ihr allein zusammen zu sein, ohne Aufdringlichkeit selbst in dieses Asyl hineinstürmen zu können. Mit freimütigem, freudigem Lächeln antwortete Amanda:

– Kala Rama wußte es schon: wenigstens glaube ich es, denn gesagt hat er es nicht. Aber er war nicht überrascht, geschweige denn entsetzt. Er hat mich sehr beruhigt: es sei keine Gefahr da, und er werde allen verzeihen. Ich erzählte ihm, wie ich Sie gefangen nahm, und wie Sie mich nach seinem Palast hätten begleiten wollen. Auch tat ich Fürbitte für Sie. Sie seien nur durch Ihren Vetter dazu verleitet worden. – Kurz, schloß sie in scherzhaftem Ton, ich kann Ihnen eine volle ministerielle Amnestie verkünden.

– Das ist mir lieb, wie alles, was ich von Ihnen empfange. Aber wenn es sich so verhielte, daß ich mich nur durch die Überredung Edmunds hätte verleiten lassen mitzugehen, dann würde ich diese Amnestie wenig verdienen. Ich vertraue jedoch darauf, daß ich mich besser rechtfertigen kann, als Sie es getan haben. Sagte ich Ihnen nicht drüben im Gartenkiosk, daß ich Ihnen leicht erklären könne, was ich »auf dieser Galeere wollte«, die – wie Sie sagten – einer Brigantine sehr ähnlich ist?

– Ja ja, ich erinnere mich. Sie sagten so etwas. Aber das ist ja gar nicht nötig.

Eine sichtbare Unruhe bemächtigte sich des Mädchens. Sie rückte sich sogar unwillkürlich ein wenig auf der Bank zurück, als ob sie ihm nicht zu nahe sein möchte, – eine Bewegung, die ihm einen Stich ins Herz gab.

– Glauben Sie denn, daß mir an Ihrem Urteil weniger gelegen ist, denn an Kala Ramas Verurteilung oder Pardon?

– O, nein, nein! So war es nicht gemeint. Aber ich meine nur, mir könnten Sie ja immer das auseinandersetzen – wir werden uns ja doch nicht heute zum letztenmal sprechen.

– Gott verhüte! – Nun, dann sollten Sie doch auch die kostbare Zeit nicht verlieren, hier wo so viel für Sie zu sehen ist... Ich muß hier bleiben; Kala Rama hat mich ausdrücklich darum gebeten, aber Sie müssen sich wirklich umsehen.

– Als ob der Anblick einiger alten Steine mich dafür entschädigen könnte, daß ich nicht bei Ihnen bin!

– Aber man wird Sie vermissen.

– Nein, man wird mich nicht vermissen, antwortete Arthur triumphierend, denn heute abend ist es ja gerade meine Aufgabe über Sie zu wachen. Edmund hatte einen ganz anderen Posten für mich ausersehen, der mich aber fern vom Festpark halten würde, und ich lehnte ihn ab, weil ich nur Ihrer Sicherheit meinen Dienst widmen wollte.

– Das war sehr freundlich von Ihnen, Herr Steel, und ich bin Ihnen recht dankbar, aber da jetzt gar keine Gefahr da ist – für mich gewiß nicht, wenn ich ruhig hier bleibe – –

– Ach, Fräulein Amanda, warum wollen Sie mich denn fortschicken? Nein, Sie müssen mich wenigstens anhören. Sie wissen doch, daß an Ihrem Urteil mir alles gelegen ist; wie können Sie sich denn denken, daß ich auch nur eine Minute länger als nötig in Ihren Augen als ein schwacher, prinzipienloser Mensch dastehen will. Denn das wäre ich in der Tat, wenn ich unter dem Einfluß meines Vetters mich in dieses Abenteuer hätte verwickeln lassen. Bevor Sie mit Kala Rama gesprochen hatten, konnte ich mich nicht ganz rechtfertigen; jetzt aber kann ich es. Edmund hat mich ja längst ins Vertrauen gezogen – von Anfang an, als es sich nur um eine romantische Schwärmerei für die orientalischen Augen der Rani handelte, die er durch eine Lüftung des Schleiers flüchtig gesehen hatte – –

– »Eine Lüftung des Schleiers« – murmelte Amanda und starrte in die blütensternige Blätternacht des Orangenhaines hinaus, dessen schwerer Duft wie in matten Atemzügen hereinwehte.

– Damals dachte er an nichts weniger denn an eine Palastrevolution; aber die Schwierigkeiten, die ein solches Liebesabenteuer fast als eine Unmöglichkeit erscheinen ließen, stachelten bald seine müßige Träumerei zum leidenschaftlichsten Begehren auf, und aus diesem entwickelte sich durch die Anstiftung der machtgierigen Brahmanen, die ihn als angeblichen Ramasproß hier zum Mauerbrecher verwenden wollten, diese ganze verbrecherische Intrige; nun aber galt es für mich: entweder – oder. Ich mußte mit ihm gehen, oder ich mußte Stadt und Land verlassen; das aber bedeutete, Sie allein, von Gefahren umgeben, hier zurückzulassen. Nun urteilen Sie selbst: konnte ich das tun? Sie können meine Handlungsweise nicht verdammen – Kala Rama kann es auch nicht tun; er am allerwenigsten. Sagte er doch noch gestern abend: »Wir alle müssen über unsere gute Fee wachen.« Wenn er – der alte Inder – so fühlen kann, was mußte dann ich –

Amanda sah, daß der gefürchtete Moment gekommen war, daß keine Vorsicht ihrerseits ihn weiter zu verschieben vermochte; und mit der plötzlichen Entschlossenheit, die ihr oft zu Gebote stand und sie doch jedesmal überraschte, blickte sie Arthur fest an und sagte:

– Nein, Herr Steel, sagen Sie das nicht! Sie verstehen das alles nicht. Kala Ramas Gefühl für mich ist tiefer als das Ihrige.

Arthur sprang von der Bank auf.

– Fräulein Amanda, wie können Sie mir das antun? Habe ich das von Ihnen verdient, daß Sie meine Liebe mit dem Wohlwollen eines Greises vergleichen, und dieses »tiefer« finden? Wenn Sie auch keine Ahnung davon haben können, wie ich Sie liebe – vom ersten Augenblick an geliebt habe – aber immer inniger – immer – –

Seine Stimme schlug über und stockte. Er wagte nicht mehr, ihr ins Gesicht zu sehen. Sein Blick haftete an ihrem Arm, der auf der Marmorbrüstung lag – rund und weich, fast unmerklich nach der kleinen Anschwellung des Gelenkes in die kurze Hand übergleitend, alles in ein gleichmäßiges warmes Braun gebrannt, durch welches die Adern an der Rückseite der Hand bläulich schimmerten: so ganz und gar ein vergrößerter Kinderarm.

Und sein Blick umflorte sich. Würde doch zuletzt diese kleine, feste Hand, die – was auch sonst die Cheiromantie aus ihr von Glück und Unglück herauslesen mochte – selbst dem uneingeweihten Auge so deutlich von Güte und Treue sprach – würde sie sich doch schließlich in die seine legen, würde dieser Arm sich um seinen Nacken schmiegen?

Es schien ihm ein so großes Glück zu sein, daß es wohl unmöglich wäre; und im nächsten Augenblick schien es ihm wieder, es müsse ja doch so kommen. Sollte denn dieses liebliche Mädchen einsam durch das Leben gehen? Oder mit wem? Sicher doch nicht mit Edmund? Mit wem also sonst? War er nicht da, um sie zu schützen, um sie zu retten?

Er fühlte, daß auch sie den Blick weggewandt hatte, und daß sie ihn jetzt wieder ansah, als sie zu sprechen anfing – und ihre Stimme klang so traurig, daß sein Mut sank.

– Es ist möglich, daß ich das nicht ahnen kann. Ich habe es ja schon längst gewußt, daß Sie glaubten, mich von ganzem Herzen zu lieben – –

– Glaubte? gab ihr Arthur mit betrübtem Vorwurf zurück.

– Ja, denn ich bin überzeugt, daß Sie für eine Andere bestimmt sind, und eine Andere für Sie.

Arthur schüttelte den Kopf:

– Ich habe mich für Sie bestimmt!

– Das kann niemand, das ist der große Irrtum. Wir bestimmen uns nicht, wir haben uns bestimmt – längst. Das ist meine Überzeugung. Glauben Sie nicht, daß ich nicht zu schätzen weiß, was Sie mir bieten. Wenn ich wählen könnte, wie könnte ich einen jungen Mann finden, auf dessen Treue ich fester bauen dürfte?

– Ach Amanda! rief Arthur überwältigt und wollte ihre Hand ergreifen – jene Kinderhand, deren Anblick ihn so sehr rührte – aber sie entzog sich ihm und erhob sich mit einer halb bittenden, halb abwehrenden Bewegung:

– Aber, lieber Freund – denn das werden Sie mir immer sein – es kann nicht sein; glauben Sie mir, es kann nicht, es darf nicht. Nein, ich hatte recht, als ich Ihnen sagte, daß trotz aller leidenschaftlichen Bewegtheit Ihres Gefühles dasjenige dieses edlen Greises tiefer ist; denn es wurzelt tiefer. Sie hörten gestern, was er uns in den Ruinen erzählte. Sehen Sie da nicht überall geheimnisvolle Beziehungen? O ich weiß, Sie taten es. Als ich an Ihrem Arm zum Landungsplatz ging, dachten Sie mit plötzlicher Wut an – Ajatasattu, sagten Sie. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Sie dachten an Ajatasattu-Edmund. Und das sind nicht die einzigen, die Sie identifiziert haben. Nun, ist Ihnen dabei nichts aufgefallen? – ich meine etwas, das Sie und mich betrifft? Wo waren Sie selber?

Arthur vermochte nicht, ein unwillkürliches Aufstampfen seines Fußes, das einem » confound it!« gleichkam, zurückzuhalten.

– Ich war nicht dabei, antwortete er in einem dumpfen, halb resignierten, halb trotzigen Ton, wie ein Angeklagter, der weder eine schwer belastende Tatsache leugnen kann, noch ihre Tragweite anerkennen will.

Amanda erhob sich, berührte leise seinen Arm und sah ihm mit ihrem festen, ehrlichen Blick tief in die Augen.

– Sie sagen das so richtig: »Ich war nicht dabei.« Und glauben Sie denn, daß ich nicht aus Ihrem Ton heraushöre, wie dieser Gedanke Sie schon beunruhigt und enttäuscht hat? – daß Sie jetzt seine Bedeutung gar wohl sehen? Wir haben keine Vergangenheit zusammen, darum auch keine Zukunft. Sie sind wie ein verirrter Stern in ein fremdes Planetensystem hineingeraten – Sie werden gewiß einst Ihr eigenes finden. Nun verstehen Sie, nicht wahr? Sie wissen ja, was alle in diesem alten Lande – was die ganze Welt von hier aus ostwärts glaubt: daß die echte und unwiderstehliche Liebe auf Wiedererkennen beruhe, daß sie nur die Fortsetzung der Liebe eines vorhergegangenen Lebens sei.

– Und wenn dem auch so wäre – wir haben hundert und aberhundert Leben hinter uns, warum sollten wir beide uns nicht in einem von diesen angehört haben? Wie kannst du denn sagen, daß wir keine Vergangenheit haben? O, Amanda, vertraue meiner Liebe, setze sie auf die Probe! Sie soll dir zeigen, daß wir eine Vergangenheit haben müssen, eine viel bessere –

Aber Amanda unterbrach ihn mit einem traurigen Kopfschütteln:

– Das mag so sein oder nicht so sein, was hilft es? In mir lebt jetzt nur jene Amara – wie könnte ich das hier vergessen? Hier! – O, Sie ahnen nicht, welche Stelle Sie gewählt haben – nein, nicht gewählt, sondern gefunden – um mir Ihre Liebe zu gestehen, um die meinige zu begehren. Wir stehen an der Aschenurne Amaras und Ajatasattus.

Mit einem eisigen Schaudern trat Arthur von der kleinen Stupa zurück, auf deren Kuppel seine linke Hand zufällig geruht hatte.

Dann lehnte er sich aber mit aller Gewalt gegen diesen ersten, unwillkürlichen Eindruck auf.

– Nein, nein, Amanda! Ich lasse mich nicht zum Sklaven eines Toten machen, und Sie dürfen es auch nicht tun! Nein, Sie dürfen sich nicht durch ein Wahngebilde in ein verderbliches Netz einspinnen lassen, aus dem es keinen Ausweg gibt! Nehmen Sie meine Hand! einen Schritt und Sie sind heraus – heraus aus dem Schatten der Vergangenheit in das Licht eines neuen Tages. Das liegt ja alles an uns – das ist ja doch nur ein Glaube, womit wir uns selber binden.

Wir? unterbrach Amanda ihn – ja, denn Sie glauben ja selber daran. Seien Sie ehrlich, und seien Sie vor allem barmherzig gegen sich selbst und gegen mich! Machen Sie es uns nicht noch schwerer – mein Gott, es ist ja so schon schwer genug!

Sie sank auf die Bank nieder und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Als er aber eine Bewegung machte, um auf sie zuzutreten, streckte sie, ohne aufzublicken, ihre rechte Hand abwehrend gegen ihn aus, mit einer solchen Entschlossenheit der Geberde, daß der junge Schotte nur schüchtern diese Hand ergriff, sich über sie beugte und einen ritterlichen Kuß auf sie drückte, dort wo die blauen Adern durch die braune Haut schimmerten – einen Abschiedskuß mit einem treuherzigen › God bless you‹ in sich.


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