Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Der Gruß des Meisters

Kaum zehn Schritte vom Fenster entfernt, unter dem dunklen Laubdach eines niedrigen Baumes, stand ein Inder und betrachtete sie unverwandt. Als sie nun diesen Blick erwiderte, mußte sie an Kala Rama denken – sie wußte eigentlich nicht, warum. Denn wohl war die Größe der beiden Männer ziemlich dieselbe, aber die Gesichter ähnelten sich nicht gerade sehr. Am ehesten noch die Augen; die des Fremden waren aber größer und leuchtender als die des Ministers und schienen sie mit ihrem Blick zu durchdringen.

«Wie lange hat er mich wohl so angesehen?« dachte sie, »gewiß schon eine ganze Weile.«

Und die seltsame Idee bemächtigte sich ihrer, daß alle jene Karmagedanken, die ihre Phantasie soeben durchzogen hatten, nicht aus der Tiefe ihres eigenen Geistes aufgetaucht, sondern ihr zugeschickt waren – eingegeben von jenem Inder, der sie mit seinen funkelnden Augen durchleuchtete.

Daher käme es gewiß auch, daß sie gar keine Angst empfand, als sie ihn so plötzlich dastehen sah. Sie sei schon von ihm durchdrungen und dadurch auf seine Erscheinung vorbereitet gewesen.

Und wer war er denn? War er ein neuer Faktor, eine neue eingreifende Macht? Gewiß war er das, sie fühlte es. Und eine gute, auch das fühlte sie. Aber was würde er wohl wirken? Hatte er vielleicht schon eingegriffen?

Der Inder, der Edmund gerettet hatte – der Yogi, vor dem selbst die Mörder scheuten; – war er es nicht?

Sie möchte fragen, aber sie scheute sich. Doch schon war es ihr, als ob diese Frage bejaht zu ihr zurückkehrte.

Wie gern hätte sie ihm gedankt! Aber vielleicht hörte er auch diese Danksagung.

Unbeweglich blieben das Mädchen und der Mann einander gegenüber, Blick in Blick. Kein Wort flog hin und her. Wenn eine Unterhaltung stattfände, dann bewegte sie sich in einem Unterstrom, der zu tief ging, um die Oberfläche des Bewußtseins, worauf Gedanken und Worte schwimmen, in Bewegung zu setzen. Und sie müsse wohl stattfinden, diese Unterredung. Woher sonst die Ruhe, die fast freudige Zuversicht in ihrem Gemüt, wo es vor wenigen Minuten noch so unselig gestürmt hatte?

Und doch empfand sie eine leise Enttäuschung, als er nun fortging, ohne ein Wort zu sagen; jedoch nicht, ohne durch eine Neigung des Kopfes und eine fast segnende Handbewegung sie zu grüßen.

Eine leise Enttäuschung: sie hatte erwartet, daß schon jetzt und hier etwas sich ereignen würde – und nun ging er!

Jedoch nur ein paar Schritte. Als ob er sich plötzlich eines Besseren besänne, blieb er stehen und wandte sich an sie: –

– Will die liebe Memsahib einen Gruß an den Minister Kala Rama überbringen?

Amanda lächelte.

– Gern will ich einen Gruß überbringen, wenn der freundliche Fremde mir einen solchen anvertrauen will.

– Memsahib möge dem Minister sagen: der Guru grüßt seinen Chela. Vor dem dritten Schakalschrei erwartet der Guru den ChelaGuru: geistiger Führer, Meister. Chela: Lehrling. an dem Ort, wo sie einst ihre bitterste Stunde erlebten.

– Ich werde den Gruß Wort für Wort überbringen, Fremder.

– Ich danke Ihnen. Gute Nacht, Memsahib!

Er grüßte mit derselben Bewegung von Kopf und Hand und verschwand im Laubschatten des Gartens.

Amanda blickte ihm sinnend nach.

Das war nun die zweite Botschaft, die sie an Kala Rama zu bringen hatte. Sie wollte nicht länger zögern.

Schon war sie aufgestanden, um sich hinüber in das Studierzimmer des Vaters zu begeben, als ein Laut aus der Dunkelheit draußen ihre Aufmerksamkeit gefangen nahm und ihren Fuß fesselte. Warum wußte sie nicht: es war nur der Schrei eines Reihers unten am Seeufer. Sie wunderte sich, ob er sich wohl wiederholen würde.

Er tat es, und mit seltsamer Neugierde, die ihr Herz pochen ließ, lauschte sie.

Ein dritter Reiherruf erfolgte.

Amanda erblaßte, zitterte am ganzen Körper und sank auf den Stuhl nieder. Sie hörte nicht mehr den Ruf «Edmund! Edmund!«, der bald danach fast unmittelbar unter ihrem Fenster ertönte. Noch weniger vernahm sie, als die Türe des Studierzimmers sich nun öffnete, und die Stimmen des Vaters und Kala Ramas laut im Korridor erschollen.

Der Minister verabschiedete sich und bat Professor Eichstädt, seine liebe Tochter recht herzlich zu grüßen.

Da bemerkten sie, daß Garuda, der mit ihnen die Studierstube verlassen hatte, durch die nur angelehnte Türe zu Amandas Zimmer hineinschlüpfte und sofort ein gar jämmerliches Wimmern anstimmte. Sie traten ein und fanden das Mädchen besinnungslos am Fenster.

Der Vater erschrak tödlich.

– Mein Gott, Exzellenz! wie Sie sagten, hat meine Tochter doch bis jetzt das Klima sehr gut vertragen, und nun finden wir sie ohnmächtig. Ist es möglich, daß das indische Klima dennoch – –

Kala Rama, der sofort den Wasserkrug ergriffen hatte, und das Gesicht der Ohnmächtigen mit dessen allerdings etwas lauem Inhalt besprengte, tröstete den bestürzten Indologen, der schon die Wahrscheinlichkeit voraussah, seine Tochter nach Europa zurückschicken zu müssen.

– Ich denke, verehrter Freund, daß dieser kleine Anfall nicht so sehr eine klimatische als vielmehr eine seelische Ursache haben dürfte, wie wir ja wohl jetzt gleich erfahren werden.

In der Tat schlug Amanda jetzt die Augen auf und sah sich verwundert um. Sie würde von der Ohnmacht nichts gewußt haben, wenn nicht die besorgten Fragen ihres Vaters gewesen wären: Wie sie sich jetzt fühle, – wie das wohl gekommen sei, – ob sie unmittelbar vorher etwas verspürt habe oder durch irgend etwas erschüttert worden sei? Diese Fragen, die durch ein paar ruhige Bemerkungen des Ministers unterstützt wurden, brachten ihr bald alle kleinen Vorgänge in vollständiger Deutlichkeit zurück.

– O, es war ein plötzlicher Schrecken, oder wie ich es nennen soll, ganz unbegründet, ja, töricht, wenn man will. Ich vernahm drei kurz nacheinander folgende Reiherrufe. Bei dem zweiten wurde mir ganz sonderbar zumute. Und gar bei dem dritten – – Nun ja, ich habe ja, wie Sie sehen, das Bewußtsein verloren.

Professor Eichstädt sah ratlos den Minister an. Dieser Vorgang schien nichts zu erklären. Es mußte wohl doch eine klimatisch bedingte Krankheit sein, die sich ankündigte. – Sonderbar genug, sagte Kala Rama, nur Reiherrufe vom Seeufer?

– Ja, ick denke, vom Seeufer – doch zugleich so fern, unendlich fern, als hallten sie durch Zeiten und Ewigkeiten wider. Nein, ich kann nicht sagen, wie mir ward.

Kala Rama nickte nachdenklich.

– Wahrlich, ich würde denken, daß Sie weiter in der Sage vom Schlangenstein gelesen hätten, wenn ich nicht gesehen hätte, wie ihr Vater das Manuskript in den Schrein einschloß, der noch immer auf dem Tisch steht.

– Wenn ich Sie recht verstehe, Exzellenz, fragte der Professor, so kommen in jener Sage solche Reiherrufe vor.

– Gewiß, und zwar unter so unheimlichen Umständen, daß, wenn Ihre Tochter diesen Teil der Sage gekannt hätte, eine solche Wirkung auf ein so zartes und sensitives Wesen, wie Amanda Memsahib bei aller natürlichen Gesundheit der Seele und Kraft des Geistes offenbar ist, durchaus nicht unerklärlich sein würde.

– Sie machen mich recht begierig, Exzellenz, diese Stelle zu lesen, sagte Amanda; – also auch dort drei Reiherrufe?

– Ja, aber keine wirklichen, von keinen Vögeln herstammend, sondern ein verabredetes Zeichen.

– Vielleicht war es auch hier solch ein Zeichen. Es kommt mir fast vor, als ob es das sein müßte. Aber das wäre doch wohl zu sonderbar, wenn so ein ganz zufälliger Zug an demselben Ort nach Jahrtausenden sich wiederholen sollte, sagte Amanda und starrte, das Kinn in die Hand gestützt, sinnend in die Dunkelheit hinaus.

– Wir sind ja im alten Indien, wo alles wiederkehrt, warf Professor Eichstädt fast scherzend hin, denn es gefiel ihm nicht, wenn seine Tochter in ihrem jetzigen Zustand sich in Grübeln verlöre und dadurch vielleicht ihre Gereiztheit erhöhen könnte.

– Wir sind in der alten Welt, wo alles wiederkehrt, sagte Kala Rama mit ruhiger Überzeugung. Wir kehren wieder, und die Welt mit uns.

Alle drei schwiegen eine kleine Weile. Amanda strich sich mit der Hand über die Stirn, und zum Minister aufblickend, fing sie an: – Ach, daß ich das ja nicht vergesse, ich habe zwei Botschaften für Eure Exzellenz.

Der europäische Titel kam ihr jetzt, nach den letzten Worten des Inders und im Zusammenhang mit dem Gruß des Guru, recht sonderbar und unangemessen vor, aber die Etikette mußte wohl gewahrt werden.

– Nun, Memsahib, da bin ich in der Tat begierig.

– Der erste Gruß ist von Sir Trevelyan; er bat mich, Ihnen zu sagen, daß er die Sache mit Afghanistan sich doch reiflich überlegen würde.

– Es ist mir lieb, das von ihm zu hören, und besonders lieb ist es mir, daß er es mir durch Sie sagen läßt. Dies ist mir eine Bürgschaft dafür, daß seine Überlegung zum besten ausfallen wird.

Weder Vater noch Tochter begriffen, wie Kala Rama dies meinte. Aber sie fühlten beide, daß er gar wohl den Sinn seiner Worte wußte.

– Die andere Botschaft ist von einem Fremden – von einem Inder, der plötzlich vor meinem Fenster draußen stand. Er bat mich Ihnen zu sagen: Der Guru grüßt seinen Chela. Vor dem dritten Schakalschrei erwartet der Guru den Chela an dem Ort, wo sie einst ihre bitterste Stunde erlebten.

Professor Eichstädt blickte bestürzt von seiner Tochter zum Minister. Daß ein Fremder diesen hochgestellten siebzigjährigen Greis seinen Jünger nannte und als Meister ihn zu sich rief, kam ihm bei aller indischen Sonderlichkeit doch etwas zu sonderbar vor. Er fürchtete also, daß Amanda auf einen schlechten Scherz hereingefallen sei, und er wäre in dieser Ansicht nicht wenig bestärkt worden, hätte er geahnt, daß dieser Fremde, nach der Schätzung seiner Tochter, ein etwa vierzigjähriger Mann war.

So war er denn nicht wenig besorgt, ob nicht sein Gönner sich durch diese zweite Botschaft verletzt fühlen würde.

Aber im Gegenteil. Kala Rama, der mit großem Ernste diesen Worten gelauscht hatte, neigte, als Amanda schwieg, seinen Kopf wie in demütiger Annahme eines höheren Befehls, und sein schönstes, wärmstes Lächeln umspielte seine Augen und Lippen als er sprach:

– Sie sind in der Tat die Überbringerin einer guten Botschaft, Memsahib. – Und zu ihrer großen Verwunderung ergriff der Greis ihre Hand und drückte einen Kuß darauf.

Dann blieb er am Fenster stehen und blickte lange schweigend in die Nacht hinaus.

Ein perlmutterartiger Glanz breitete sich über den Rajapalast, dessen Türme und Kuppeln in immer deutlicheren Schattenrissen hervortraten.

– Der Tag war heiß, die Nacht wird kühl und köstlich werden, brach Kala Rama endlich das Schweigen und wandte sich an die beiden. Der Mond ist im Aufgehen begriffen, und es ist sogar, wie ich mich besinne, Vollmond. Wäre es nicht gut, diese Nacht zu einer Wasserfahrt zu benutzen?

Vater und Tochter waren beide gleich freudig überrascht durch diesen unerwarteten Vorschlag.

– Gewiß könnte nichts einladender sein, sagte der Professor, besonders wenn Exzellenz, wie ich Sie verstehe, auf dieser Fahrt uns begleiten oder wohl gar uns führen werden.

– Gerade das beabsichtige ich. Das heißt, wenn ihre Tochter sich hinlänglich erholt hat, um einen solchen Ausflug zu unternehmen.

O, Amanda befand sich schon vollkommen wohl und schien bereit, bis an das Ende der Welt mit Kala Rama zu gehen. Immer hatte sie sich ja gewünscht, eine indische Nacht draußen in der Natur so recht genießen zu können.

– Und ich vermute sogar, fügte sie hinzu, daß Eure Exzellenz etwas ganz Bestimmtes haben, was Sie uns zeigen wollen.

– Was Sie doch für ein kluges Töchterlein haben, Professor Sahib! lächelte Kala Rama. – Ja in der Tat habe ich so etwas vor. Drüben, hinter den Palastfelsen geht eine Bucht ein, und wo in sie ein kleiner Fluß deltaartig ausmündet, stehen ein paar uralte Ruinen, die Sie wahrscheinlich noch nicht besichtigt haben.

– Nein, wir waren nicht da, Exzellenz. Ich besinne mich jetzt freilich, von ihnen gehört zu haben, aber es gab bis jetzt so viel anderes, was dringenderes Interesse für mich hatte.

– Ganz recht. Ich glaube aber, daß diese Ruinen jetzt für ihre Tochter und für Sie selbst ein nicht nur landschaftliches Interesse haben werden. Nun wohl, unten wartet meine Gondel, denn ich habe sie herbestellt, weil ich die Absicht hatte, in der Abendkühle auf dem Wasserwege zurückzukehren. Diese Botschaft aber, die ich jetzt empfing, ruft mich anderswohin und zwar gerade nach jener Ruinenstätte. Bis zur letzten Nachtstunde ist noch weit hin, und wir werden Zeit haben, alles in Ruhe zu besehen; dann können Sie mit der Gondel zurückkehren, denn ich werde sie nicht mehr gebrauchen.

Der Professor bezeugte eine passende, wenn auch unnötige Besorgnis, daß Seine Exzellenz sich ihretwegen irgendeine Unbequemlichkeit auferlege – eine Besorgnis, die er sich bereitwillig genug ausreden ließ; während Amanda, ganz von dem bevorstehenden Ausflug erfüllt, sich schon über die Kommodenschublade beugte, um einen Schal hervorzusuchen und auch ein seidenes Tuch für den Kopf, falls es später in der Nacht etwas kühl werden sollte.

– So führt das eine Gute das andere mit sich, sagte Kala Rama, und dieser mir so willkommene Gruß bringt auch Ihnen etwas Schönes. Ja, Sie könnten in der Tat diesen Tag, an dem ich Sie schon etwas in meine Familienchronik eingeweiht habe, nicht würdiger beschließen, als gerade durch einen Besuch dieser Ruinen, denn die eine ist der Überrest des Palastes, den der Prinz Ajatasattu gerade an der Stelle errichten ließ, wo er zum erstenmal Mahamaya begegnete. Die Bauwerke rühren von Baku her und wurden als seine hervorragendsten Schöpfungen geschätzt.

– Das ist ja aber ungeheuer interessant, rief Professor Eichstädt. Hörst du, Amanda? Zwei Meisterwerke von jenem Baku, mit dem die Feder unseres hochverehrten Freundes uns schon vertraut gemacht hat! Denke dir nur, Amanda!

Amanda dachte in der Tat.

An jenem Ort – so dachte sie – haben unser Kala Rama und jener ehrwürdige Fremde ihre bitterste Stunde erlebt. Wann war sie aber? Gehörte sie diesem ihrem Erdenleben an, oder einem früheren? Haben sie diese Bitterkeit gekostet zwischen den Ruinen längst vergangener Herrlichkeiten? oder damals als jene Bauten so standen, wie Bakus Meisterhand sie vollendet hatte? Werde ich das je erfahren? Werden mir vielleicht schon heute Nacht diese Steine reden? –


 << zurück weiter >>