Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

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Sechstes Kapitel

Der Diener Kalis

Wie eine Kulisse schob sich der Kioskhügel zur Seite, als die Barke vorwärts glitt. Im Hintergrund erglänzte die Stadt mit ihren zahllosen kleinen Lichtern und warf eine goldige Fransenreihe über den atlasblanken See. Alle charakteristischen Laute des nächtlichen Lebens der Hindustadt wimmelten ihnen entgegen: leichtsinniges Geklimper der Banjosaiten, schwermütig und sehnlich hingehauchte Seufzer der Rohrflöten, das trockene, aufdringliche Dröhnen der Tomtoms und das rastlose Pochen der kleinen stundenglasförmigen Handtrommeln, das wie die hörbaren Herzschläge fieberhaft pulsierenden Lebens ist. Momentweise wurde dies von dem heiseren Heulen und Bellen der Pariahunde übertäubt, die sich auf der offenen Strecke zwischen Stadt und Bungalow balgten; ab und zu aber drang durch all dies ein voller, etwas gedämpfter Glockenton, gleich einem großen, immer aufs neue sich bildenden und herabfallenden Lauttropfen, der die blanke Wasserbahn herab direkt zum Boot hinüberzugleiten schien.

Amanda wußte sehr wohl, aus welchem heiligen Gefäß der Tropfen fiel. Jedesmal sah sie vor sich die alte schwarze Bronzeglocke, die in schweren Ketten von der niedrigen Kuppel herunterhing, gerade über der steinernen Statue Nandis, des heiligen Stiers Shivas; sah auch, wie der alte grimme Priester den Klöppel gegen die Glockenwand schlug, wenn ein Besucher eine Opfergabe niederlegte und sich nach dem Allerheiligsten verneigte, wo Shivas Gemahlin, Kali selbst, in finsterer Majestät thronte und aussah, als ob sie nicht übel Lust habe, ihren alten Sport zu erneuern: feindliche Dämonen zu verschlingen und ihre Kriegswagen mit den Zähnen zu zerkauen ... Aber das war lange her – tausend mal Tausende von Jahren, einen ganzen Kalpa her. Längst, längst hatte sie statt der Dämonen und ihrer Kriegswagen mit Menschen vorlieb nehmen müssen. Unlängst war es nun gar ein Zicklein geworden, und wer wußte, ob ihr nicht auch diese entzogen werden würden, in einer Zeit, wo man es wagte, ihre getreuesten Diener scharenweise aufzuhängen! ... Aber noch waren inbrünstige Anbeter die Menge da, noch klang die Opfergebetglocke, Schlag auf Schlag, Schlag auf Schlag, in die Nacht hinaus, über den See hinüber, zu ihren Feinden und Verächtern hinüber! –

Um diese Stunde hatte sich sonst der Tempel in das nächtige Dunkel zurückgezogen, das seiner finsteren Herrin so wohl eignete. Heute abend aber waren alle die gedehnten Kurvenlinien seines Kuppeldaches durch Lichtpünktchen abgezeichnet. Auch war dieser Schmuck nicht das einzige Lichtzeichen eines ungewöhnlichen Lebens des Kalihauses: – unten war eine lange Reihe ähnlicher Flämmchen in langsam gleitender Bewegung den Kai entlang – nach dem dunklen Raume unter den Lichtkuppeln zu und von denselben fort. Offenbar eine Prozession von Lampenträgern. Von ihr schien auch der hundertstimmige Ruf auszugehen, der jetzt anhub und sich mit tödlicher Monotonie wiederholte – eine wilde Kadenz von drei, vier Tönen und von drei Worten, von denen Amanda das mittlere als »Kali« auffaßte.

– Was singen sie nur immer?

– Sie singen: » Jai Kali mâ«. – »Sieg der Mutter Kali« ... Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?

Als Amanda und der Vater den Minister mit fragender Wißbegierde anblickten, fuhr dieser mit einer Stimme fort, an der seine Gäste zu ihrer Überraschung eine nicht ganz beherrschte Erregung bemerkten:

– Sie haben vielleicht gehört, daß in Gvalior die schwarze Pest seit kurzem viele Opfer fordert?

– Gewiß, Exzellenz, stammelte der Professor, sichtbar unangenehm berührt.

– Sie liegt ja immer auf der Lauer in einer Hindustadt. Ich schmeichle mir freilich, durch sanitäre Maßnahmen die Gefahr hier bei uns bedeutend vermindert zu haben ...

– O, darüber kann kein Zweifel sein, Exzellenz! Auch englische Zeitungen haben das ja ausdrücklich konstatiert, – beeilte sich der Professor seinem hohen Gönner zu versichern – und vielleicht noch mehr sich selber; denn schon die Äußerung dieser tröstlichen Worte verlieh ihm wieder ein mutiges Aussehen.

– In Gvalior tritt sie, wie gesagt, seit einigen Wochen lebhafter auf... Deshalb diese Prozession. Aber zu welchem Zwecke, – meinen Sie wohl?

– Doch wohl um die Göttin anzuflehen, daß sie diese Stadt beschützen möge, vermutete Amanda.

– Ganz wie sie in ähnlichen Fällen in Italien eine Prozession an die Mutter Gottes veranstalten, und um ihren Schutz flehen, sagte der Professor, – obwohl ich freilich diese beiden Göttinnen nicht verglichen wissen möchte.

Kala Rama schüttelte den Kopf mit einem Lächeln, das einen Stich ins Sarkastische hatte: –

– Sie sind eine Fackel der Wissenschaft, Professor-Sahib, und das arische Indien des Veda, das Land, worin der Buddha predigte, liegt offen wie ein Buch vor Ihnen. Aber das spätere Indien, das Hinduland des durchsickernden schwarzen Blutes – das durchschauen Sie nicht. Seine Wege sind, leider Gottes, nicht die Ihrigen. – O nein! – nicht um die Pest abzuwehren: um sie hierher zu beschwören, findet jene Kali-Prozession statt.

– Hierher! rief Professor Eichstädt und fuhr unwillkürlich vom Sitz empor, als ob der Ruf der Kalianbeter, der laut und drohend herüberklang, den tödlichen Pesthauch der schädelgegürteten Göttin mit sich trüge. Auch Amanda fühlte ein kaltes Schauern in allen Gliedern.

– Ja, fuhr Kala Rama fort, sie beschwören die Göttin, den ganzen Kelch ihres Zornes hier über ihre Feinde auszugießen, über diejenigen, die es wagen, die blutigen Gebräuche eines finsteren Aberglaubens zu bekämpfen, die die Witwenverbrennung nach Kräften einschränken und die Thags verfolgen, die für Gesundheit und geistiges Wohl des Volkes sorgen – über jeden, der sich an dieser Kulturarbeit beteiligt bis zum letzten Tagelöhner, der einen Stein zu einem Schulgebäude oder einem Krankenhaus trägt. Und wenn sie auch selber, die getreuen Anbeter der Götter, mitfallen müssen: – o, das schreckt sie nicht! Ich muß ihnen das lassen – sie würden alle mit Freuden sterben, wenn sie wüßten, daß mit demselben Griff die würgende Hand Kalis auch ihre Feinde vernichtet, und mit dem letzten Seufzer würden ihre blauen Lippen ein Jai Kali mâ hinhauchen!

Kala Rama hatte mit der Bitterkeit gesprochen, deren sich ein großer und edler Mann, wenn er auch sein Herz mit der erhabensten Philosophie der Resignation gepanzert hat, kaum erwehren kann, wenn er sieht, daß seine besten Bestrebungen an der Blindheit seiner Zeitgenossen teilweise scheitern, oder daß sie doch nur in verkümmerter Gestalt an ihr vorüber kommen können.

Nach diesem Ausbruch folgte ein allgemeines Schweigen – eine Pause, die durch das Geräusch und die Laute aus der Stadt, vor allem von dem ewig sich wiederholenden Kaliruf ausgefüllt wurde.

Es tat Amanda herzlich leid, daß sie durch ihre unüberlegte Frage diesen ehrwürdigen Greis zu Äußerungen verleitet hatte, die er aus eigener Initiative offenbar nicht getan hätte, und die er vielleicht jetzt schon als eine gar zu offenherzige Vertraulichkeit bereute. Ihrem feinfühligen weiblichen Instinkt gehorchend, strengte sie ihre ganze Erfindungskraft an, um das dadurch eingetretene Schweigen auf eine Weise zu brechen, die von jenem Thema abführte, ohne doch die Absicht zu verraten, dies zu tun. Sie meinte schon, einen passenden Weg gefunden zu haben, und wollte ihn gerade betreten, als sie zu ihrer Überraschung bemerkte, daß Kala Rama, den Kopf zur Seite neigend, angespannt lauschte.

Ein kurzer, leise ausgesprochener Befehl, und die sechs Ruderer stellten ihre Arbeit ein. Die Barke glitt noch eine kurze Strecke vorwärts – – auch das Rauschen des Wassers am Bug des flachbodigen Fahrzeuges verstummte...

Ein neuer Laut war da. Er mischte sich wie ein stetiger Unterton in das wüste Bellen der Pariahunde – tief und glockenweich. Ob er wohl von den Glockenfröschen herrührte, von denen Amanda hatte erzählen hören?

Ein Blick auf das Gesicht Kala Ramas genügte, um ihr zu zeigen, daß es sich um etwas Wichtigeres handle. Der Minister lauschte nicht mehr, er spähte – nach dem jenseitigen Ufer hinüber.

Vom Schatten des Palastberges aus gesehen, der sie jetzt umhüllte, leuchtete die Küste zwischen der Stadt und dem Bungalow wie eine Schneelandschaft. Man konnte die ganze Strecke deutlich übersehen, bis dorthin, wo die Stadt unregelmäßig und wie zerbröckelnd aufhörte, und wo Amanda noch die Wellenlinie der verlassenen Webstühle erkannte, vor denen sie sich kürzlich in ihrer Traumvision befunden hatte – in jener Vision, die sie wieder vergessen hatte und deren Spuren auch jetzt nur teilweise und dunkel in ihr erwachten. Die Schatten der wenigen Bäume und der Unebenheiten des Bodens lagen tiefschwarz in unbeweglicher Ruhe da.

Aber einer dieser Schatten bewegte sich. Er flog, wie von einem Sturmwind getrieben, von der Stadt in der Richtung nach dem Bungalow – oder vielmehr, wie es jetzt schien, nach einer Stelle in der Mitte zwischen beiden, wo die Küste sich abflachte; denn in der Nähe der Stadt war das Ufer noch felsig und schroff, wenn auch nicht von bedeutender Höhe.

Das Heulen der Pariahunde verstummte, als ob sie auseinandergesprengt worden wären. Jener neue Laut hingegen, der sich damit vermischt hatte, drang selbständig und herausfordernd ans Ohr. Und jetzt erkannte Amanda ihn. Sie hatte ihn vernommen, als sie alle einige Wochen vorher die Ställe des Rajas besuchten. Es war das Bellen eines Spürhundes. Der fliegende Schatten war der eines Mannes, dessen Gestalt man, ihrer weißen Kleidung wegen, nicht unterscheiden konnte. Und der Mann wurde von einem Hund verfolgt.

Amanda erhob sich in atemloser Spannung, obwohl sie von ihrem Sitzplatze aus eine ebenso freie Aussicht hatte. Der Minister und die Ruderer starrten sich um die Wette die Augen aus. Nur der Professor war durch seine Kurzsichtigkeit von der allgemeinen Erregung ausgeschlossen. Auch dachten weder sein Freund noch seine Tochter daran, ihm den Grund ihres sichtbar gespannten Interesses mitzuteilen.

– Was ist's? seht Ihr denn etwas Besonderes? fragte er, ein wenig ungeduldig.

– Es ist ein Mann, der aus der Stadt flüchtet, Vater ... von einem Hund verfolgt – hörst du nicht, wie er bellt? – ein Spürhund ... mein Gott! wenn er den Ärmsten einholt!

Der flüchtige Schatten flog über das Ufer hinaus.

Ein leises Platschen – Ringwellen im Wasser – eine silberleuchtende Dreieckspitze, die sich über die blanke Fläche vorwärts schob.

– Hörtest du, Vater? er entkam – er schwimmt hierher. Ach, der Hund!

Noch ein Platschen, plumper, patschiger – neue Ringwellen, die anderen überfließend – noch eine silberleuchtende Dreieckspitze, der ersteren nacheilend ...

Sie lagen etwa zwanzig Faden von der schroff abfallenden Felsenwand entfernt, und nicht sehr weit von der Stelle, wo ihre scharfe Ecke in den See hinaustrat. Von dem Augenblick an, wo Kala Rama seinen Ruderern den Befehl gegeben, waren sie unbeweglich dort liegen geblieben. Während Amanda aber jetzt unverwandten Blickes die beiden über die Wasserfläche hineilenden Dreieckspitzen beobachtete, merkte sie, daß sich das Fahrzeug bewege. Anfangs wunderte sie das keineswegs: – was war natürlicher, als daß man dem Schwimmer entgegenruderte, um ihn aufzunehmen? Anstatt aber dies zu tun, zeigte es sich bald, daß die Barke mählich der Felsenwand zuglitt; dabei mußte sie sich langsam drehen, so daß sie den hohen Achtersteven dem Schwimmer entgegen wandte; denn Amanda war genötigt, ihren Kopf immer mehr hervorzustrecken, um ihn in Sicht zu behalten.

Als sie nun, überrascht durch dies unbegreifliche Manöver, sich umwandte, sah sie mit wachsender Verwunderung, daß Kala Rama im Begriff war, seinen Turban abzuwickeln, und daß die Ruderer und der Steuermann schon barköpfig waren. Und als in diesem Augenblicke der Vater sich hervorbeugte, berührte Kala Rama seine Schulter und bat ihn mit leisem Flüstern, seinen Strohhut abzunehmen.

Offenbar versteckte sich die Barke und wollte durch keinen hellen Punkt die Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Amanda wollte sich wieder umwenden und nach den Schwimmenden hinausblicken; aber als ob Kala Rama sie auf andere Gedanken bringen wollte, reichte er ihr gerade jetzt den gelben, nadelförmig gefaßten Edelstein, den er aus seinem Turban losgelöst hatte, und bat sie, diesen für ihn in Verwahrung zu nehmen. Es mochte sich nach indischem Gedankengang wohl nicht leicht ein kräftigerer Magnet für eine junge Frauenseele finden lassen, als dies auserlesene Juwel, zumal Amanda glaubte, den berühmten Schlangenstein selbst, von dessen märchenhafter Herkunft sie soeben gehört hatte, in der Hand zu halten.

Hier stand aber ein Menschenleben auf dem Spiel, und das junge Mädchen ließ durch das anvertraute Kleinod ihre Aufmerksamkeit nicht ablenken. Der Abstand zwischen den beiden Dreieckspitzen hatte sich vergrößert; offenbar war der Mensch der bessere Schwimmer. Er steuerte auf sie los. – Wollte er aber auf dieser Seite landen, oder um die Ecke herumschwimmen, und irgendwo an der langen Seewand des Palastberges sein Glück versuchen, wo es ihm ein Leichtes sein dürfte, eine Stelle zu finden, die wohl er, nicht aber der Hund erklimmen konnte?

Das letztere schien das wahrscheinlichere. Einmal weil er durch längeres Schwimmen seinen Vorteil besser ausnutzte; dann aber auch, weil es ihm kaum möglich sein würde, auf dieser Seite des Berges, an der Bucht, zu entkommen. Der Hund war keineswegs mehr sein einziger Verfolger. Vielmehr wimmelte schon das ganze jenseitige Ufer von Indern. Viele warfen sich ins Wasser und setzten schwimmend die Verfolgung fort. Andere liefen die Küste entlang, jeden hervorspringenden Punkt suchend, um von dort aus die Schwimmenden durch Zurufe anzufeuern und ihnen die Richtung, die der Verfolgte nahm, anzugeben. Die Eifrigsten stürzten nach dem Park des Bungalow und schienen jenen Lieblingsplatz Amandas, den kioskgekrönten Felsenhügel, erstürmen zu wollen, von wo aus sie allerdings am längsten den Flüchtling im Auge behalten könnten, falls er aus der Bucht hinaus wollte.

Daß aber dies der Fall war, unterlag keinem Zweifel mehr. Er steuerte links von ihnen auf die hervorspringende Ecke los. Die Barke kehrte ihm unentwegt den hohen Achtersteven zu, dessen Form am leichtesten mit denen der nahen Felsenwand zusammenschmolz. Aber gleichzeitig bewegte auch sie sich nach jener Ecke hin. Lautlos, wie kein europäisches Boot mit langen, zwischen Dollen arbeitenden Riemen es hätte tun können, glitt sie nach links; und in diesem seitwärts und halb rücklings Sichhinschieben des verschwiegenen Fahrzeuges lag etwas unaussprechlich Lauerndes und Heimtückisches, das Amanda den Atem benahm und ihr gleichzeitig ein Gefühl gab, als ob sie im nächsten Moment laut aufschreien müßte.

Ein Blick auf Kala Rama genügte aber, um einen solchen Ausbruch zu ersticken. Blitzenden Auges, die Lippen zusammengebissen, jede Falte seines Gesichtes starr, als ob sie in Stein gehauen wäre, spähte er über den Reeling hinaus, während er mit fast unmerklichen Bewegungen der rechten Hand seine Leute dirigierte, die keinen Bruchteil einer Sekunde ihre schwarzen, glitzernden Augen von ihrem Gebieter wegwandten. Kaum erkannte das seltsam ergriffene Mädchen ihren väterlichen Freund wieder, der kürzlich noch so vertraulich mit ihr geplaudert hatte: sie meinte, seinen Vorfahren Mahimsasa zu sehen, der irgendeine gefahrvolle Expedition gegen »die schwarze Haut« leitete.

Der Schwimmer war jetzt nur ein Dutzend Faden entfernt und hatte noch immer keine Ahnung von der Nähe eines Fahrzeuges. Sein Blick haftete starr an der scharfen Felsenecke, hinter welcher er mit gutem Grund hoffte, seine Sicherheit zu finden. Das glatte, geölte Haar, an dem die Wassertropfen abglitten, glänzte bläulich; Turban und KummurbundKummurbund: langes baumwollenes Tuch, das die Inder um den Leib wickeln. hatte er abgestreift, um seinen Verfolgern weniger sichtbar zu sein. Jedesmal, wenn beim Zurückführen der Arme Kopf und Schulter sich aus dem Wasser ein wenig erhoben, sah man jetzt ziemlich deutlich sein Gesicht mit der vor Anstrengung gerunzelten Stirn, der hervorgeschobenen Unterlippe und dem kurzen Bart, der in einer nassen, zusammengeklebten Spitze vom Kinn herunterhing.

Bald kam es Amanda vor, als ob ihr dies Gesicht wohlbekannt wäre; bald schien es ihr wiederum in seiner wilden Häßlichkeit völlig fremd zu sein.

Kala Rama erhob die Hand.

Die Barke schwenkte links um und schoß mit ihrem langen, spitzen Steven wie ein Alligator auf den Schwimmer los, der augenblicklich unter dem Wasser verschwand.

Ein kurzer Ruf von Kala Rama, und fünf von den sechs Ruderern waren überbord, verschwunden im erregten Wasser. Der Minister hatte schon seinen faltenreichen Mantel von sich geworfen; mit einem einfachen Kaftan angetan, ergriff er das eine Ruder, das er mit einer Sicherheit handhabte, als ob er sein Lebenlang Bootsmann gewesen wäre.

Hier und dort tauchte ein Kopf auf – und wieder unter. Der Steuermann, der auf seinem erhöhten Standpunkt einen freien Überblick hatte, gab den Schwimmenden fortwährend die Richtung an. Jetzt schien ein vielköpfiges Seeungeheuer, mit einem von Riesenschlangen geflochtenen Körper, und mit vielen Köpfen versehen, wie ein indisches Götzenbild, emporzutauchen und sich hin und her zu wälzen – ein Dutzend Faden vorne und links von der Barke, gerade außerhalb des Schattenbereiches, wo das wogende Wasser wie eine Silberkaskade schäumte und spritzte um den blanken Gliederknäuel.

Im Handumdrehen war die Barke neben der Gruppe. Emporgehoben und geschoben von den Schwimmenden, gezogen vom Minister und seinen Bootsleuten wurde ein halbnackter, scheinbar lebloser Körper in das Fahrzeug hinüberbefördert und sofort mit Stricken kreuz und quer gebunden. Das Mondlicht fiel gerade auf die starren Züge des zurückgesunkenen Kopfes.

Amanda sah jetzt, an wen das Gesicht des Schwimmers sie erinnert hatte. Sie glaubte, Mool Roy zu erkennen, den reichen Musselinhändler im Bazar.

Glaubte es, und meinte dann im nächsten Augenblick, sich getäuscht zu haben, als dies Gesicht sich belebte, die Züge sich zu einem dämonischen Ausdruck verzerrten, und aus den schwarzen Augen ein stahlblaues Blinken seitwärts schoß, von so unheimlicher Wildheit, daß sie entsetzt zurückschauderte.

Ein Faustschlag in den Nacken hatte den Gefangenen nur auf kurze Zeit betäubt. Seine erste Bewegung überzeugte ihn, daß die Bande fest waren; sein erster Blick starrte in den heißatmenden Rachen des Spürhundes, der soeben vom Steuermann ins Boot gezogen worden war, wo er zitternd vor freudiger Erregung über seiner zur Strecke gebrachten Beute stand. Mit der plötzlichen Resignation des Orientalen lag der Hindu jetzt ruhig und scheinbar teilnahmslos auf dem Boden des Fahrzeuges: nur ab und zu schoß einer jener stahlblauen Blitze, gleich dem Blinken eines Messers, aus dem Augenwinkel.

Es war in der Tat Mool Roy.

Die Barke glitt schon in voller Fahrt auf die Stadt zu.

Aber ein Wort des Steuermannes veranlaßte Kala Rama, das Rudern einstellen zu lassen. Man hörte Ruderplätschern von vorne. Eine große Barke wurde sichtbar. Sie kam ihnen schnell entgegen.

Wenige Minuten danach lagen die beiden Fahrzeuge ruhig nebeneinander. Das angekommene war die Polizeibarke. Ohne Schwierigkeit ward der Gefangene in diese hinübergetragen. Der Hund folgte, offenbar entschlossen, seine Beute nicht mehr aus den Augen zu lassen.

Der Sekretär des Ministers stand im Vordersteven der Polizeibarke und stattete seinen Bericht ab, wodurch das Rätsel, das Kala Rama fortwährend geneckt, ja sogar beunruhigt hatte – wie sie in so kurzer Zeit hin und zurück sein konnten – in Bälde gelöst wurde.

Eher durch Zufall als aus Einsicht hatte der Sekretär nicht gewartet, bis sie an Ort und Stelle waren, um den Hund an dem Romal riechen zu lassen, sondern dies sofort beim Aufbruch getan. Die glückliche Wirkung zeigte sich, als man noch kaum den halben Weg zurückgelegt hatte. Denn plötzlich wollte der Hund nicht weiter, sondern mit der Schnauze an der Erde drehte er rechts ab und suchte sich seinen eigenen Weg mit solcher Sicherheit und Energie, daß er seinen Führer mit sich zog. Man konnte kaum zweifeln, daß er unerwartet auf die Fährte des Würgers gestoßen sei. In einem großen Bogen führte der Hund sie nun zur Stadt zurück, die sie durch das nördliche Tor verlassen hatten und durch das östliche wieder betraten. Es war schon dunkel. Um diese Tageszeit waren die Straßen immer gedrängt voll; heute aber hatte die Kalifeier mit der angehenden Lampenprozession ihre Belebtheit dermaßen gesteigert, daß es ein richtiges Hurriburree – wie das bezeichnende Hindostaniwort lautet – gab. Ohne jedoch sich dadurch im geringsten irreführen zu lassen, stürmte der Hund durch Gäßchen und Höfe. Bald zeigte es sich, daß er die Richtung nach dem Kalitempel einschlüge. Je näher man der langsam schreitenden Prozession kam, um so ärger wurde das Gedränge. Durch die hierbei erfolgte Verzögerung ungeduldig geworden, ließ der Hund sein tiefes Bellen ertönen; – in den Reihen der Prozession entstand plötzlich Unruhe; das vorwärts drängende Gebaren des Hundes wurde so ungestüm, daß man sich genötigt sah, ihn loszulassen. Aber vergebens versuchte er die Reihen der Lampenträger zu durchbrechen, die sich, Bein an Bein, vor ihm schlossen. Auf die Vorstellungen des Sekretärs und der Rechtsdiener antworteten fanatische Ausbrüche: – Schmälerungen der Rechte Kalis seien genug dagewesen – ihr Zorn ging sichtbar über die Lande! diese Verunglimpfung, diese Störung der heiligen Prozession würde nicht ungerächt bleiben – ihre Feinde möchten sich vorsehen! Drohungen wurden ausgestoßen, Schmähungen des Ministers wurden laut. Man mußte sich dazu bequemen, dem Beispiel des Hundes zu folgen und die unendlich lange Prozession zu umgehen – was freilich für die Menschen längere Zeit in Anspruch nahm als für das Tier. Dies war klugerweise auf der anderen Seite der Reihen zurückgeeilt, bis es die Fährte des Flüchtlings auffand; aber mittlerweile hatte dieser einen solchen Vorsprung gewonnen, daß er uneingeholt die niedrige Stelle des Gestades erreichte, wo er ins Wasser springen konnte, um im Schwimmen sein Heil zu suchen, was ihm wohl auch gelungen wäre, wenn der Minister selber ihn nicht abgefangen hätte.

Dieser schien mit der ihm vorbehaltenen Rolle im Drama nicht unzufrieden. Ein barsches Lächeln umspielte seine schmalen Lippen, während er kopfnickend dem Schluß des Berichtes lauschte. Er lobte das ganze Verhalten des Sekretärs und seiner Leute, gab einige kurze Anweisungen zur Sicherung des Gefangenen unter den veränderten Umständen: an welchem Ghat man landen müsse, welcher Weg zum Palast einzuschlagen sei, um nicht unnötiges Aufsehen zu wecken – und vergaß schließlich nicht, gute Pflege und Belohnung für den braven Hund, der sein Bestes getan, einzuschärfen.

Das eifrige und aufgeregte Schreien der Verfolger hatte aufgehört. Man sah sie das Ufer entlang nach der Stadt zurückeilen. Die verschiedenen Laute von dort her machten sich wieder geltend: das Geklimper der Banjos, das Dröhnen der Tam-tams, das fieberhaft-rastlose Pochen der kleinen Handtrommeln – vor allem aber der immer sich wiederholende, fanatische Kaliruf der Prozession, deren Tausende von kleinen Lampen in stetiger Bewegung waren, auf den Tempel zu und von demselben fort:

Jai Kali mâ! jai Kali mâ!

Und indem die Barke mit dem Gefangenen von dannen glitt, schickte Kala Rama einen trotzig-fröhlichen Blick dort hinüber: –

– »Sieg der Mutter Kali!«? – Nun, durch diesen Diener Kalis nimmermehr! –


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