Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

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Fünftes Kapitel

Mutter Kalis Haus und das Haus Kala Ramas

Als Professor Eichstädt und Amanda mit Kala Rama in den Garten hinaustraten, empfing sie der unbeschreiblich wonnige Gruß einer indischen Nacht.

Jeder Luftzug, der, mit den hundertfachen Düften der Blumen und Sträucher balsamisch beladen, ihnen entgegenfächelte, strich wie eine sammetweiche Liebkosung über Stirn und Wange. Und wenn noch etwas Mattigkeit von dem Ohnmachtsanfall bei dem jungen Mädchen zurückgeblieben war, so mußte diese vollständig schwinden, als nun auch die vor ihnen sich ausbreitende große Seefläche ihre labende Kühle ihnen entgegenhauchte.

In demselben kleinen Hafen, von dem aus Amanda, ein paar Stunden vorher, zum Palast hinübergefahren war, lag die Gondel des Ministers, am Fuße eines kleinen, schroffen Felsenhügels, der, in den See hinaustretend, diesen geschützten Landungsplatz gebildet hatte.

Die Anhöhe war mit einer Gruppe von schönen pappelähnlichen Pipalbäumen bestanden, deren Schattenschleier einen Kiosk umhüllte, der mit seiner von geschnitzten Holzpfeilern getragenen niedrigen Kuppel sich zierlich auf dem hellen Nachthimmel zeichnete, gleich einem jener kleinen Hindutempel, die an so vielen Stellen in Rajputana sich vorfinden, offenbar von dem glücklichen Instinkt beseelt, sich gerade auf dem malerischsten Punkt der Landschaft aufzustellen. Dieser beherrschte zur einen Seite die große Fläche des Sees nach dem Gebirge zu, zur anderen die enge Bucht, an deren Ende die Hindubucht amphitheatralisch gelagert war, während der schroffe, palastgekrönte Burgfelsen gegenüber diese Seitenbucht begrenzte und scharf wie ein Schiffssteven sich in den See hinausschob.

Der Kiosk war denn auch Amandas Lieblingsplatz. Besonders verträumte sie gerne die Nachmittagsstunden dort, ein Buch in der Hand, aber den Blick öfters auf die Stadt gerichtet, die zur Hälfte vom violetten Schatten des Burgberges bedeckt war, während die andere Hälfte sich in abenteuerlichem Glanz breitete – übertünchter Lehm und schlechter Mörtel größtenteils, in der Nähe gesehen, aus denen aber die magischen Goldstäbe der indischen Nachmittagssonne Haufen von Rosen und Perlen hervorzauberten: so lag sie drohend und verlockend da, diese seltsame Hindustadt, wimmelnd voll von dem fremdartigen Leben, in das ein Europäer nie hineindringt, ja das er kaum ahnend streift. Zu dieser Tageszeit, der bewegtesten in einer indischen Stadt, drang die Stimme jenes Lebens bis zum Gartenkiosk des Bungalow, ein tausendfach zusammengesetztes Geräusch, woraus sich einzelne Laute hervorhoben: – der langgedehnte Ruf des Wasserträgers, der rauhe Kehlenschrei des Kameltreibers, gelle Gongschläge oder dumpfe Glockentöne aus einem Tempel – lauter exotische Klänge, die, auch wenn sie las, sie fortwährend daran gemahnten, unter welchem fremden Himmel sie weile, und immer wieder ihren Blick von den Blättern weg nach jenem Stadtbild hinzogen.

Die Häuser drängten sich bis an den See heran, wateten sogar auf starken Pfeilern hinaus, tauchten sich in das kühle Naß und brüteten darüber mit purpurdunklen Torbogen, lugten mit viellöcherigen, taubenschlagartigen Erkern über das Wasser hinaus, guckten mit Terrassen, Kiosken, Türmchen und kleinen maulwurfhaufenähnlichen Kuppelchen einander über die Schultern, als ob ihre sonnenversengten Höhen doch wenigstens das Wasser glitzern sehen möchten. Hier und dort wurden ihre Mengen von den Ghats auseinander geschoben; breitspurig stiegen ihre Freitreppen herunter, farbig belebt wie durch ein Gewimmel wandelnder Krokusse, deren blaue, rote und gelbe Flämmchen auch unten im Wasser leuchteten, wo die Mäntel der Badenden ihre lebendigen Farben mit den widergespiegelten mischten. Links, wo die Leichenverbrennungsstätte war, glühten ein paar Scheiterhaufen unten im Schatten und schickten ihre Rauchsäulen in das Sonnenlicht hinauf, wo sich ihre Blässe in rosige Wölkchen umwandelte – ganz so, wie sie es an jenem Abend in Benares gesehen hatte, und so wie die Scheiterhaufen in diesem uralten Lande schon jahrtausendelang Tag für Tag geraucht hatten – ein ewiges Opfer, von der Erde an den Himmel, von dem Diesseits an das Jenseits gesandt.

Aber auch andere Opfer wurden dem undurchdringlichen Jenseits gebracht, auch Lebendiges opferte diese indische Erde – und nicht nur dem Himmel!

Rechts, am südlichen Ghat, auf einer in den See hervortretenden Bastei stehend, erhob ein kleiner, reich verzierter Tempel seine Dachgruppe von zusammengewachsenen hochgestreckten Kuppeln, die blutrot gefärbt und mit goldigen Sternen übersät waren. So hoch und spitz war dies Kuppeldach, so gering der Umfang des vieleckigen Gehäuses, daß das ganze Bauwerk wie eine prächtige Riesenlaterne aussah. Dies Heiligtum war der furchtbaren Göttin Kali geweiht. Oben in der Luft und unten im Wasser mit dem im Sonnengold gebadeten, glitzernden Steinschmuck seiner reich gegliederten Architektur und mit seiner hochragenden roten Tiara leuchtend und glühend, beherrschte dieser Tempel das ganze Stadtbild, ein nicht zu umgehendes Symbol des Allerfremdartigsten, des Dämonisch-Furchtbarsten in diesem geheimnisvollen Indien, das sie so seltsam lockte und sie so seltsam abstieß.

Amanda wußte gar wohl, was für Scheußlichkeiten dies eigenartige Bauwerk drüben unter seinem pittoresken, ja fast eleganten Äußeren verbarg. Hatte sie doch von der Vorhalle aus in die Zelle hineingeschaut, wo das Abscheu und Grauen erregende Bronzebild der Göttin aus der Dunkelheit unheimlich hervorschimmerte. Das Schädelhalsband baumelte ihr auf den blanken Bauch hinab. Sie hatte den von haubenblähenden Kobras gekrönten Kopf nach der Seite gedreht und blickte den Besucher mit einem seitwärts schießenden Blick aus dem gelben Steinauge an, während ein unsagbar grausames Lächeln ihre vollen, mit Blut frisch bestrichenen Lippen umspielte.

Ein alter häßlicher Priester erzählte ihr und ihrem Vater, die Göttin habe ursprünglich geradeaus geblickt. Das war in den alten, frommen Zeiten, als täglich zu ihren Füßen einem Menschen der Kopf abgeschlagen wurde. Seitdem aber der Mensch durch ein elendes Zicklein ersetzt worden war, habe sie verächtlich den Kopf zur Seite gedreht, und obwohl ihr manchmal an ihrem Festtage hunderte von schwarzen Ziegen und viele Stiere geopfert worden seien, habe sie sich nicht mehr ganz versöhnen lassen; erst wenn das alte, rechtliche Menschenopfer wieder eingeführt werden würde, dürfe man hoffen, daß Kali wieder den Kopf drehen und ihre Anbeter mit einem geraden, gnädigen Blick ansehen würde; erst dann würde sich auch wieder Glück und Segen über das Land ergießen. Und Amanda hatte sich beeilt, aus den unheiligen Schatten der Tempelsäulen wieder hinaus unter den offenen Himmel zu kommen, so magnetisch lebendig schien ihr plötzlich das Wesen dieses von Tausenden inbrünstig angebeteten, tagtäglich mit Blut gespeisten Phantasiegebildes drinnen in seinem eigenen Bezirk zu walten.

Nie konnte sie aber mehr aus der Ferne jene blutrote spitze Kuppelgruppe sehen, ohne an die kleinen Zicklein zu denken, die jeden Tag drinnen geopfert wurden vor jenem unglaublich lebendigen Götzenbild, das sie kaum eines Blickes würdigte, weil es von alters her an kostbareres Blut für seine Bronzelippen gewöhnt war. Selber hatte sie einer solchen Opferung nicht beigewohnt, aber Arthur hatte ihr davon erzählt. Wie häßliche schwarzgekleidete Priester ein schwarzes niedliches Zicklein vor das Bild hinziehen, wo es von einem Priester festgehalten wird, während ein anderer eine Schnur an seinen Hörnern befestigt. Wie neben das Tierchen ein plumpes krummes Messer, alt und schartig von härteren Halswirbeln als den seinigen hingelegt wird, und wie die Klinge und der Kopf des Zickleins mit Reiskörnern bestreut und mit Gangeswasser besprengt werden. Wie dabei das Zicklein ein ängstliches Meckern hören läßt, das in diesem gewölbten, von Säulenkorridors umgebenen, resonanzreichen Raum noch zehnfach erbärmlicher klingt und überall noch spukhaft nachzittert, wenn ein Priester schon ein Schwert hoch erhebt, die krumme Klinge durch die Luft saust, und das losgetrennte Köpfchen des Tieres, ohne den Boden berühren zu dürfen, an der Schnur hängend, in ein Becken hineingeschwenkt wird. Wie der Opferpriester seinen plumpen Fuß auf die heftig zuckenden Glieder setzt, und wie das hervorquellende Blut in das Becken sprudelt und gurgelt und gluckst. Wie das aufgeregte Ohr es überall gurgeln und glucksen hört, als ob der ganze Bau in allen Ecken und Winkeln das Blut tränke, und wie die noch aufgeregtere Phantasie beschwören möchte, daß die teuflische Bronzegöttin ein boshaftes rauhes Lachen – ein Lachen, wie es der alten schwarzen Götzenbronze wohl in der Kehle stecken mochte – verächtlich unterdrückt, als das blutgefüllte Becken mit dem Ziegenkopf zu ihr hingetragen und ein rotes Tuch vorgezogen wird, um die hochheilige sakramentale Handlung – das Beschmieren ihrer Lippen mit dem warmen Blut – dem profanen Blick zu entziehen. Wie man dann hinausstürzt, und wie einem den ganzen Tag übel ist, ja wie einen noch lange ein abergläubischer Schrecken verfolgt, als ob man durch seine Anwesenheit beim Opferdienst sich der scheußlichen Dämonin verschrieben habe, die einem drinnen wirklicher denn die Wirklichkeit vorkam...

Alles dies sah, hörte und fühlte Amanda, wenn sie das spitze rote Kuppeldach erblickte; – und man konnte die Hindustadt nicht mit dem Auge, ja kaum mit der Erinnerung streifen, ohne dies hervortretende Wahrzeichen, dies beredte Symbol der Übermacht des schwarzen Blutes, vor sich zu sehen. Um so lieber blickte sie hinüber nach dem Bau, der zur anderen Seite das Stadtbild beherrschte – die Stammburg Kala Ramas. Es war ein gewaltiges Bauwerk, von monumentaler, einfachster Größe – ein einziger geschlossener Steinblock, höher als er breit war, nach unten austretend, um stämmiger zu stehen, an den vier Ecken sich mit viereckigen turmartigen Vorsprüngen verstärkend, von denen der westliche seinen durchsichtig-violetten Schlagschatten auf die orangeleuchtende Frontmauer warf. Diese Ecktürme überragten nicht die Mauerlinie; nur ein paar nestartig oben angeklebte Erker erhoben ihre Kuppelköpfchen darüber. In der ganzen Fläche nur ein paar unregelmäßig sitzende Fensterschlitze; aber unten war die ganze Front zwischen den Ecktürmen eine offene Arkadenhalle, von welcher nur die Bogen und der obere Teil der Pfeiler die Mauer der Terrasse überragten, die dies trutzige Haus wie eine mächtige, durch einen runden Vorsprung wiederum verstärkte Bastei bis zum Abhang vorschob, dessen Seiten das Mauerwerk größtenteils glatt verkleidete, so daß der ganze Bau sich wie in zwei ungeheueren Stockwerken vom Talgrund erhob.

Die Anhöhe, worauf die Burg stand, schien ebensowohl dem Rajaberg wie dem Stadtgebiet zu gehören, und in der Tat vereinigte sich die alte Stadtmauer am Rande der Schlucht mit der Terrasse, während die Befestigungsmauern, die an dieser Seite von den zinnengekrönten Höhen des Berges in Zickzacklinien die schroffe Leite hinunterstiegen, erst an der Rückseite der Burg aufhörten.

Trutzig und wehrhaft vom Mauerkranz bis zum Sockel, in jedem Stein das Heim eines Kriegergeschlechtes – so stand die Stammburg des mächtigen Ministers, mitten zwischen Palast und Stadt, da.

In seiner majestätischen Einsamkeit, mit der vornehmen Ruhe seiner geraden Linien hatte das Gebäude ihr bis jetzt immer von seinem Besitzer, dem edlen Kala Rama, dem Gönner ihres Vaters, gesprochen. Von heute ab würde aber der heroische Name des großen Feldherrn Mahimsasa wie mit Drommetenklang von allen vier Ecktürmen zu ihr herüberklingen, wenn sie nachmittags träumend dort oben im Gartenkiosk saß. Sie würde das liebliche Kind Amara dort wohnen lassen. In jener mächtigen Arkade hatte ihre vogelartige kleine Stimme den Widerhall geweckt und das Herz des großen Helden erheitert; aus jenem hochschwebenden Schwalbennest-Erker hatte sie weit übers Land hinausgespäht, ob nicht in der tiefen Einsattelung der ockerfarbigen Hügelkette das Banner ihres Ohms wehen und die Lanzenspitzen seiner Begleiter aufblitzen würden – bis sie es eines Tages wirklich taten, und sie hinuntereilte, um Blumen zu pflücken und zusammenzubinden zu einen Kranz für sein geliebtes Haupt.

– Das phantasierst du dir alles recht hübsch aus, mein Kind, sagte Professor Eichstädt – aber eine solche Lokalisierung dürfte doch aus dem Grund nicht erlaubt sein, weil dieser Bau unmöglich ein so hohes Alter haben kann.

– Und warum denn nicht? ist er doch so fest gebaut, daß er wohl Tausende von Jahren stehen kann.

Sie blickte den Minister an in der Hoffnung, Unterstützung bei ihm zu finden. Kala Rama aber schüttelte lächelnd den Kopf: – – Sie mögen darin recht haben, Mem Amanda Sahib! Das Gefüge scheint der Zeit trotzen zu können, wie das der Pyramiden. Tatsächlich hat aber Ihr Vater recht, und ich kann ihm mein Zeugnis nicht versagen, daß dies Haus erst aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts stammt. Es wurde von demselben Ahnherrn gebaut, der durch den Verrat des Großmoguls ums Leben kam, und zu dessen Andenken unsere Familie seitdem mit der linken Hand grüßt.

Amanda mußte sich dieser Autorität beugen. Aber sie meinte, jener Vorfahr Kala Ramas habe gewiß sein Haus an derselben Stelle errichtet, wo die Familie von jeher ansässig gewesen war: denn es stünde gerade am rechten Ort, zwischen Rajapalast und Stadt, wie der Minister zwischen Fürst und Volk. Dort habe gewiß auch schon Mahimsasas Haus gestanden, und könnte es nicht ebenso ausgesehen haben und durch Tradition nachgeahmt worden sein? Arkadenhallen und Erker habe man in Indien seit unvordenklichen Zeiten gehabt. Und so müsse es ihr denn auch erlaubt sein, es sich so vorzustellen und in dieser neuen Burg nur eine Wiedergeburt der ursprünglichen zu sehen.

– Dagegen wird gewiß niemand etwas einwenden können, sagte Kala Rama, und mich dünkt, Memsahib, Sie haben dort einen sehr glücklichen Ausdruck erwählt, um ihre Befugnis zu erhärten, die Dinge der Vorzeit im richtigen Licht zu erträumen. Jetzt freilich haust oben in jenem Erker kein lieblicheres Wesen als Memsahibs alleruntertänigster Diener. Denn abends ist er mein liebster Aufenthalt; – ich kann da, wenn ich mich von meinen Büchern abwende, weit über die dunkle Welt hinausblicken, und zur anderen Seite direkt auf das flache Dach meines Hauses hinaustreten, wo diese Erdenwelt nicht zu existieren scheint und nichts als der sternenfunkelnde Himmelsraum um mich ist.

– O wie beneidenswert! – ein erhabener Aufenthalt! murmelte der Professor.

– Dann ist es Ihre Lampe, Exzellenz, die mir von drüben so oft wie ein Stern zugewinkt hat! Von jetzt ab wird das Licht mir noch traulicher leuchten.

– Wie, Memsahib? auch nachts suchen Sie diesen entfernten Punkt auf? aber doch nicht allein?

– Nicht ganz allein, Exzellenz; mit meinem Garuda. Denn bevor mir Herr Steel den guten Mungos schenkte, hätte ich für mein Leben mich nicht im Dunkel so weit gewagt, dazu habe ich gar zu große Angst vor Kobras.

Und sie erging sich im Lob des treuen und tapferen Tierchens, das auch jetzt von der einen Seite des Weges zur anderen, und manchmal ein Stückchen ins Gras hinein, vor ihnen hin und her schnoberte, in unermüdlichem Nachkommen seiner polizeilichen Pflichten.

Amanda versäumte nicht, seine heutige Heldentat zu rühmen und erzählte auch von dem kleinen Schlangenstein – dieser unansehnlichen Alltagsausgabe des berühmten Edelsteins Kala Ramas den der Sieger aus der toten Kobra herausgeschüttelt hatte, wobei sie denn auch das nächtliche Abenteuer Arthurs nicht unerwähnt ließ.

Kala Rama nickte mit freundlichem Lächeln.

– Ja, Mem Amanda Sahib, auch ich habe ein paar Mal das beobachtet. Es sieht wirklich aus, als bete die Kobra den Stein an. Und doch sucht das Vieh dabei nur sein Futter. Das Steinchen – es ist eine besondere Art Kiesel – phosphoresziert und verbreitet einen schwachen Schein, wie das weibliche Glühwürmchen, die Käfer werden dadurch angezogen und die Kobra schnappt sie.

– Dachte ich mir's doch, rief der Professor vergnügt, daß eine befriedigende Erklärung dieses sonderbaren Phänomens schon bekannt sein müsse!

– So? mich befriedigt sie gar nicht, schmollte Amanda. Es war so hübsch, sich zu denken, daß einige besonders hoch entwickelte Kobras einen kleinen Fetisch mit sich herumführten und nachts ihre Andacht davor hielten. Meine übertriebene Angst vor diesen Tieren kommt mir etwas weniger ungereimt vor, wenn ich mir einreden darf, diese meine Erbfeinde seien geistig so hoch entwickelt, daß sie eine Art Religion haben. Betet so eine weise, böse Kobra die Mutter Kali an, auf daß ihre Haube sich recht giftgeschwollen aufblähen möge – dann darf es mir schon eher erlaubt sein, mich ein wenig unsinnig zu fürchten.

– Nun, ich denke, es müßte dich schon getröstet haben zu hören, daß der wagehalsige Sir Trevelyan an derselben Angst leidet.

– Sir Trevelyan? fragte Kala Rama und blieb vor Überraschung stehen, seine beiden Begleiter mit großen Augen anblickend.

– Ja, denken Sie sich, Exzellenz, antwortete Amanda, Mr. Steel erzählte uns heute, sein Vetter könne sich nicht dazu überwinden, die Künste eines Schlangenzähmers zu sehen – trotz aller Aufbietung seiner Willenskraft mußte er es aufgeben. »Das ist stärker als ich«, sagte er.

– Seltsam – höchst seltsam! murmelte Kala Rama.

Nur zu gerne hätte Amanda gefragt, welche Gedanken sich der greise Inder wohl über das scheinbar zufällige Zusammentreffen mache, das auch ihr Gemüt als ein bedeutungsvolles Rätsel tiefinnigen Zusammenhanges beunruhigte. Aber sie wagte es nicht, das Schweigen zu stören, das Kala Rama im Weiterschreiten beobachtete. Sie wagte es nicht, obwohl gerade dies Schweigen sie in ihrer Ahnung bestärkte, daß an diesem unscheinbaren Punkt sich etwas für sie sehr Wichtiges verberge.

Wenige Schritte brachten sie nun zum Ziel: dem Gartenhafen am Fuße des kleinen kiosktragenden Vorgebirges.

Kala Rama blieb stehen, bevor sie noch die Landungsstufen erreicht hatten, und das vorherige freundliche Lächeln belebte wieder Augen und Lippen.

– Es tut mir sehr leid, meine liebe Memsahib, Ihnen mit meiner nüchternen Erklärung eine Enttäuschung bereitet zu haben. Aber wenn wir etwas tiefer blicken, wird der Unterschied vielleicht nicht so groß, wie es zuerst den Anschein haben mag. Denn was, meinen Sie, sucht der Mensch am meisten bei seinem Fetisch, seinem Götzen, seinem Heiligenbild, ja selbst bei seinem Herrgott im täglichen Gebet? – glauben Sie mir, weitaus die meisten suchen hauptsächlich, was die Kobras bei ihrem Stein suchen und finden: ihr Futter.

– Nur zu wahr, Exzellenz! rief der Professor. Mit wie viel ängstlicherer Innigkeit wird von den meisten das Gebet »Unser täglich Brot gib uns heute« gebetet, denn das erhabnere, so recht religiöse »Geheiligt sei dein Name!«

– Und fügen wir hinzu, hochverehrter Professor Sahib, das kann in diesem Leben, in dieser Welt auch nicht anders sein. So wollen wir denn auch nicht zu viel von den armen Menschen verlangen, und von den armen Kobras auch nicht, Memsahib, zumal wir schließlich doch nicht wissen, ob sich bei ihnen angesichts des helfenden Leuchtsteines nicht dunkle Gefühle rühren, die für sie ebenso viel bedeuten mögen, wie die Regungen im Gemüte eines Wilden, der seinen Fetisch um Jagdglück bittet. – Und nun – –

Er trat an die Stufen hin, und mit tiefer orientalischer Verbeugung auf die anlegende Barke zeigend, sprach er:

– Darf ich nun, meine liebwerten Gäste, die mir wie mein Vater und meine Mutter sind, ersuchen, ihre unschätzbaren Persönlichkeiten, die Fackel der Wissenschaft und die Zierde des weiblichen Geschlechtes, diesem geringen, erbärmlichen Fahrzeug ihres diensteifrigsten Sklaven anvertrauen zu wollen.

Der Humor Kala Ramas, wenn er auf diese Weise seinen europäischen Freunden gegenüber den üblichen orientalischen Schwulst leise travestierte, hatte einen eigentümlichen, herzlichen Charakter. Er wußte es, sie durch Blicke und Stimmklang verstehen zu lassen, daß er sich gerne seines Vorrechtes als Orientale bediene, um in scheinbar übertriebenen Formen gerade das Richtige zu sagen. Hielt er doch in vollem Ernst das liebliche Mädchen für die Zierde ihres Geschlechtes und nicht weniger den Vater für eine Fackel der Wissenschaft, und war er doch bereit, ihnen mit allen seinen Kräften, die nicht gering waren, zu dienen.

Die Barke des Ministers konnte allerdings nur vom Standpunkt morgenländischer zeremonieller Selbsterniedrigung als ein erbärmliches Fahrzeug betrachtet werden. Eher nahm sie sich in europäischen Augen etwas schwerfällig aus und erinnerte Vater und Tochter an ihre Budgera auf dem Ganges. Sie streckte einen langen, spitz zulaufenden Vordersteven, gleich dem Schnabel eines ungeheuren Wasservogels, über die Wasserfläche hin, während der Achtersteven sich breit und kräftig in die Höhe erhob. Hier stand, regungslos wie eine Statue, die Stange des großen Steuerruders in den Händen, ein mittelgroßer, schön gebauter Inder, dessen nackte Glieder wie Bronze in den Mondstrahlen glänzten. Ein großer weißer Turban und ein gleichfarbiges Lendentuch bildeten auch für die sechs Ruderer die ebenso kleidsame wie praktische Livree – denn den bloßen Kopf dem Mondlicht auszusetzen, hielten sie für den unfehlbaren Weg zur Geisteskrankheit. Sie standen paarweise im vorderen Teil der Barke, jeder ein kurzes und breites, schaufelförmiges Ruder in beiden Händen haltend, zum Abfahren bereit.

Der mit gestickten Kissen und persischen Teppichen üppig ausgestattete Sitzplatz befand sich in der Mitte des Fahrzeuges, doch etwas zurück, ziemlich wie in einer venezianischen Gondel. Kala Rama nötigte seine beiden Gäste, sich auf den Ehrenplatz zu setzen, einen sofaartigen Sitz, der die Breite der Barke einnahm und den Rücken an den Hintersteven lehnte, und von dem aus man des angenehmsten und freiesten Blickes während der Fahrt genoß. Selbst aber «nahm er einen niederen Stuhl und setzte sich seitwärts nieder« – wie Professor Eichstädt sich mit einer häufigen Wendung der buddhistischen Sutras sagte; denn er war nicht unempfänglich dafür, von einem indischen Magnaten als ein »Erhabener« behandelt zu werden.

Nicht ganz so leicht wie das Unterbringen der Passagiere war das der Plaids und Decken, die das fürsorgliche Dienstmädchen hinuntergetragen hatte, mit vollstem Beifall Kala Ramas, da man nie wisse, wie lange man wegbleiben würde, und gegen Morgen sehr wohl eine ziemliche Kühle auf dem Wasser eintreten könne. Sie hatte die Arme voll, denn tapfer hatte Bärbele sich gegen jeden Beistand der von ihr verachteten, wimmelnden indischen Dienerschaft gewehrt, und sie war auch jetzt nicht gesonnen, die kostbaren, von ihr selbst eingekauften und aus Heidelberg bis hierher mitgebrachten Sachen der Behandlung brauner, eingeborener Hände zu überlassen. Vergebens streckten sich diese ihr entgegen; vergebens ertönte ein sechsstimmiger Chorus: – »Gib her, Ayah, gib her, Ayah!« Nur um so fester schlossen sich die starken Arme der derben Schwäbin um die teure Last, nur um so energischer schüttelte sich ihr runder Kopf mit den harten, blanken Apfelwangen:

– Ja, ayaht mich, so viel ihr wollt, ihr nackten Heiden! euch die schönen Decken geben, – damit ihr sie recht vollspritzt, was? Ihr braunen Affen – plätschern sie mit ihren Schaufeln im Wasser herum – schönes Rudern das!

Bärbele war freilich eine waschechte Binnenländerin, aber sie hatte unterwegs sowohl Bremer Seeleute wie englische Orlogsmatrosen rudern sehen und bildete sich was darauf ein, daß man ihr in diesem Kapitel kein X für ein U mache: »Schönes Rudern! wie die Jungen in einer Kufe auf dem Dorfteich umherschaukeln.«

Und die ehrliche, aber dicke Haut gab sich nicht zufrieden, bevor sie nicht eigenhändig die Sachen in den Hintersteven außerhalb des Bereiches eines Wassertropfens weggestaut hatte, zum großen Ärger des Professors, der zu diesem Zweck aufstehen mußte, wodurch der feierliche Moment seines erhabenen Thronens mit dem seitwärts sitzenden Minister zu seinen Füßen erheblichen Abbruch erlitt.

Als nun das Fahrzeug von dannen glitt, hätte freilich Bärbele gerechterweise zugeben müssen, daß diese sechs nackten Heiden mit ihren Schaufeln die Barke ganz wacker vorwärts zu bringen wußten. Aber die getreue Magd hatte Anderes und Wichtigeres im Kopf. Die Arme über den Busen gekreuzt, schaute sie mißbilligend und besorgt ihrer abfahrenden Herrschaft nach. Daß ein junges unwissendes Blut wie Amanda, die – von den garstigen Kobras abgesehen – keine Furcht zu kennen schien, sich der Obhut lauter brauner Hindus anvertraute, war nicht zum Verwundern. Aber so ein graues Haupt wie das des Herrn Professors hätte auch klüger sein können, und wäre es auch gewesen, wenn es nicht ewig und immer über die alten Bücher gebückt wäre, sondern sich umsähe, was rings in der Welt vorginge. Daß der alte, anständig gekleidete indische Herr, den sie »Minister« nannten, so ziemlich wie ein Christenmensch aussähe, war nicht zu leugnen; aber Mohr bleibt halt Mohr und Indianer Indianer – denn so bezeichnete die Schwäbin ebenso hartnäckig wie sprachlich korrekt die Eingeborenen Indiens, wiewohl es sie anfangs etwas irre gemacht hatte, daß die Indianer nach allem, was sie gehört und gelegentlich sogar gelesen hatte, Rothäute waren, während diese Menschen zweifelsohne braun, ja oft fast schwarz waren. Sie zog aber aus diesem Konflikt zwischen Erlerntem und Geschautem lediglich den Schluß, daß man sich auf Historienbücher nicht verlassen könne, und daß halt Probieren über Studieren gehe.

Als ob es Amanda ahnte, daß ihre gute Magd einer Aufmunterung sehr bedürftig war, winkte sie in diesem Augenblick mit ihrem Taschentuch. Bärbele war nicht saumselig, den Gruß zu erwidern; aber aufgemuntert sah sie dabei nicht aus. Vielmehr rannen dicke Tränen ihr die Wangen hinunter: – wer verbürge ihr denn, daß sie ihr geliebtes Fräulein und ihren guten Herrn auf dieser Erde wiedersehen würde?

Bärbele konnte keine englischen Zeitungen lesen; – sie dankte ihrem Gott, ihrem Heiland und allen Heiligen, daß sie diese fremdländische Sprache nicht kenne. Aber die Luft selbst war in diesen Tagen in ganz Indien schwirrend voll von dem furchtbaren Namen der Thags. Überall in Britisch-Indien wurden die Leichen ihrer Opfer hekatombenweise aufgehängt. So war denn auch Hinlängliches in diesen schwäbischen Kopf eingedrungen, um seiner Besitzerin eine nicht ganz grundlose Abneigung gegen Mondscheinfahrten zu Land und zu Wasser in der Gesellschaft dieser Indianer einzugeben.

Wie wäre ihr aber erst zumute gewesen, wenn sie geahnt hätte, daß ein echter Thag ihr selber, Barbara Schwitzgäbele aus Echterdingen, noch gestern im Bazar die Musseline ausgemessen hatte, und daß ihr geliebtes Fräulein Amanda, noch bevor die Barke ihr aus dem Auge entschwand, mit demselben mörderischen Diener Kalis in Berührung kommen sollte?


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