Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

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Siebentes Kapitel

Die Steine reden

Was hat denn der arme Mool Roy getan? fragte Amanda, als die Barke nun ihren so lange unterbrochenen Kurs wieder aufnahm und in beschleunigtem Tempo, wie um das Versäumte einzuholen, über das Wasser dahinglitt.

Kala Rama, der im Begriff war, den langen, weißen Musselin wieder um seinen Kopf zu winden, blickte sie überrascht an.

– So haben Sie ihn doch erkannt?

– O ja, Exzellenz! bisweilen war ich im Zweifel, aber zuletzt habe ich ihn sehr wohl erkannt.

Sie reichte dem Minister den ihr anvertrauten Edelstein, den sie bis jetzt krampfhaft in der Hand gehalten hatte. Anstatt ihn aber in seinen jetzt fertig umgewickelten Turban zu stecken, beugte Kala Rama sich vor und befestigte ihn in dem braunen Spitzenschleier, den Amanda über den Kopf geworfen hatte. Er erging sich in Lob darüber, wie der Stein erst jetzt seinen rechten Platz gefunden zu haben scheine, und rief den Professor als Zeugen an.

Dieser hatte bis jetzt mit den Augen die sich entfernende Polizeibarke verfolgt und die lichtergeschmückte Stadt betrachtet, die erst jetzt, als die Barke um die Ecke bog und aus der Bucht in den See hinaussteuerte, seinem Blick entzogen wurde. Er vertiefte sich in den Gedanken, welche hübsche kleine Episode dies Erlebnis in seinen bald zu schreibenden »Erinnerungen an Indien« bilden würde, eine fast novellistische Erholung von ernsten Materien, als da war sein gestriges im Bazar geführtes, tief-gründliches, religiös-philosophisches Gespräch mit dem Kaufmann Mool Roy. Diese durch Kontrast wirksame Zusammenstellung kam ihm äußerst glücklich, sogar fast genial vor, und er war nur mit halber Seele dabei, als ihn der Minister aus seinen Gedankentiefen herausrief, damit er den Effekt des gelben Diamanten am Kopfe seiner Tochter bewundere.

»Merkwürdig!« dachte der Gelehrte, während er etwas Zustimmendes murmelte, ein wenig ärgerlich darüber, daß ihm ein, wie ihm schien, sehr fein gesponnener Gedankenfaden durch diese Unterbrechung zerrissen wurde: – »merkwürdig! in einigen Stücken, z. B. wenn es sich um Edelsteine handelt, sind doch diese Inder, selbst ihre hervorragendsten Männer, noch wie die Kinder!«

Wiederum wollte es Amanda scheinen, als ob Kala Rama durch den Stein ihre Gedanken ablenken wollte; und wiederum war ihr menschliches Interesse zu stark, als daß ihm dies gelingen könnte.

– Was hat denn der arme Mool Roy getan, daß man ihn so mit Hunden hetzt? fragte sie, sobald eine passende Pause entstand.

– Wen? rief ihr Vater – Mool Roy? aber doch nicht mein ehrwürdiger Freund aus dem Bazar?

Kala Rama nickte, mit einem gutmütig ironischen Lächeln. Er hatte längst die Gewohnheit des Professors bemerkt, jeden Menschen, mit dem er einmal einige Worte gewechselt hatte, »Freund« zu nennen. Sie hatte den liebenswürdigen Grund, daß Karl Eichstädt seine eigene freundliche Gesinnung durch ein sehr naives » tat tvam asi«Tat tvam asi (das bist du) »das große Wort« der Inder, die wesentliche Identität aller Lebewesen aussprechend. ohne weiteres bei jedem anderen voraussetzte. Bei der traurigen Beschaffenheit dieser Welt mußten sich nun dabei bisweilen solche Mißklänge ergeben wie hier mit »Freund Mool Roy«. Das drolligste dabei war aber dies, daß jene Beschaffenheit der ihn umgebenden Welt dem Gelehrten theoretisch so wohl bekannt war, daß er auf der Stelle den schönsten Vortrag darüber hätte halten können, gespickt mit Zitaten »aller der Weisesten aller der Zeiten«.

Deshalb mußte der Minister ein wenig lächeln.

– Ach, Sie haben auch bei ihm gekauft? bemerkte er in einem lässigen Ton, der mit der erregten Frage des Professors gar sehr kontrastierte. – Ja, er hatte die besten Musseline – dieser, den ich mir gerade um den Kopf wickelte, war auch von ihm und kann sich sehen lassen. Er wird mir keinen mehr verkaufen ... Sie wollten wissen, Memsahib, was Mool Roy getan hat? – Thagi hat er betrieben sein ganzes Leben hindurch und heute zum letztenmal.

Amanda erblaßte. Professor Eichstädt fuhr auf, wie von einer Bremse gestochen.

– Mein Gott, Exzellenz! Sie wollen doch nicht sagen, daß der Mann in irgendeiner Verbindung mit jenen Ungeheuern steht, von deren Mordtaten die Zeitungen jetzt so voll sind?

– O, meine Behauptung geht etwas weiter, als das – –

– Unmöglich, Exzellenz! hier muß irgendein unseliges Mißverständnis obwalten! Mool Roy, einer der reichsten Männer der Stadt, wie man mir sagt!

– Das war er unstreitig. Aber ich müßte mich sehr irren, wenn sein Reichtum nicht weniger von seinen eigenen Waren als von denen anderer herrührt, und bei seinen Geschäftsreisen, deren Häufigkeit mir oft verdächtig war, mögen die Mondscheinnächte die ausgiebigsten gewesen sein.

– Ich kann's nicht glauben, Exzellenz! protestierte der Professor. Es muß ein Irrtum, eine Verwechselung der Person sein. Noch gestern war ich mit Amanda und der Ayah im Bazar, um für das morgige Fest einige Einkäufe zu machen. Mool Roy hat uns mit Sorbet bewirtet, und ich hatte ein langes Gespräch mit ihm über die tiefsten Fragen der indischen Philosophie. Wenn ich auch bedauern muß, daß Mool Roy, wie leider so viele moderne Inder, von der hohen idealistischen Anschauung eines ankara abgefallen war und die populäre theistische Auffassung teilte, wie er denn auch in der Seelenwanderungslehre ziemlich grobe Volksvorstellungen hegte, so zeigte er sich doch als ein hochgebildeter und sogar gelehrter, ja als ein tiefreligiöser, ein vedakundiger Mann –

– Ohne Zweifel tat er das, mein lieber Professor Sahib, und ich kann Sie nur beglückwünschen, daß Sie noch zu rechter Zeit ein so tiefsinniges Gespräch mit einem so hervorragenden Thag führen konnten. Das wird ihnen gewiß zeitlebens eine interessante Erinnerung bleiben.

Professor Eichstädt sank mit einem Seufzer in sich zusammen. Die Worte seines indischen Freundes waren zu bestimmt, um einen Zweifel bestehen zu lassen, und sie ließen ihm die Tragweite der vorherigen Bemerkung des Ministers aufdämmern: das Hinduland des durchsickernden schwarzen Blutes sei ihm ein verschlossenes Buch. Anstatt der schönen schriftstellerischen Verbindung, die er zwischen seinem gestrigen Gespräch mit Mool Roy und seinem jetzigen nächtlichen Erlebnis herzustellen im Begriff stand, sah er eine ganz reelle von recht verfänglicher Art, die durchaus nicht zu benutzen war. Die Kontrastwirkung fiel für seinen Zweck entschieden zu drastisch aus!

Und der gute Professor gab sich schweigend dem Kummer hin, der einen Autor ergreift, wenn einer seiner feinsten Einfälle von brutalen Begebenheiten überholt und außer Kurs gesetzt wird.

In ganz andersartige Gedanken war Amanda versunken.

Der Zusammenhang zwischen dem gefährlichen Abenteuer Edmunds im Gebirge und diesem Erlebnis war ihr keinen Augenblick zweifelhaft. Sie hatte freilich dem Bericht des Sekretärs nicht folgen können, aber schon durch seine Handbewegungen, die mehrmals lebhaft in der Richtung des Gebirges gezeigt hatten, war es ihr klar geworden, daß man dort oben durch die Hilfe des Hundes die Spur des Thags, der seinen Romal verlor, gesucht und auch gefunden hatte – vermutlich mittelst dieser seltenen Beute. Mit dem Scheusal, das ihren Geliebten meuchlings hatte erdrosseln wollen und wahrscheinlich Dutzende von Mordtaten auf seinem Gewissen hatte, empfand sie kein Mitleid. Und doch konnten ihre Gedanken nicht umhin, sich fortwährend mit ihm zu beschäftigen. Der Ausdruck Kala Ramas: «Sieg der Mutter Kali? durch diesen Diener nimmermehr« und sein ruhiger Satz: «Der wird mir keinen Musselin mehr verkaufen«, gaben das Schicksal des gefangenen Thags deutlich genug an.

Amanda kannte jetzt Indien hinlänglich, um sich sagen zu können, daß man kurzen Prozeß machen würde. Es würde kein Defensor da sein, der in beweglichen Worten den armen Angeklagten als ein Opfer religiöser Zwangsvorstellungen und erblicher Belastung hinstellte. Der Rest seiner diesmaligen Schicksalsbahn bot der Phantasie, die sich mit ihm beschäftigte, wenig Raum.

Es mochte wohl diese gewaltsame Begrenzung der Perspektive sein – vielleicht unterstützt durch die Bemerkung des Vaters, Mool Roy huldige der naiven, volkstümlichen Vorstellung von der Seelenwanderung – die Amanda dazu führte, das allgemeine Schweigen plötzlich durch die Frage zu brechen, ob nun die Buddhisten lehrten, daß ein solcher Mensch nach dem Tode in der Gestalt eines wilden, blutdürstigen Tieres wiedergeboren wird, und – wie sie halb scherzend hinzufügte – ob der gute Garuda (der schlafend in ihrem Schoße lag und beim Nennen seines Namens leise knurrte) etwa in der Gestalt eines tapferen Vaterlandsverteidigers nächstes Mal das Licht der Welt erblicken würde.

– Das nicht gerade, Memsahib, antwortete Kala Rama mit einem ernsten Lächeln. – Aber nicht nur die Buddhisten, sondern alle Inder haben zu allen Zeiten fest geglaubt, daß der Tod für jedes Wesen nur den Übergang in ein neues Dasein bedeutet, und daß die Art dieses Daseins ganz und gar durch sein bisheriges Verhalten bedingt ist; daß wir alle das sind, was wir zu sein verdienen, und daß jedes Wesen auf dem Platze steht, auf den es sich selber gestellt hat.

– Wie die uralte Brihadaranyakam-Upanishad das so unvergleichlich sagt, – fiel der Professor ein: – »Je nachdem er handelt, je nachdem er wandelt, danach wird er geboren, wer Gutes tat, wird als Guter geboren, wer Böses tat, wird als Böser geboren – je nachdem seine Einsicht ist, danach tut er das Werk, je nachdem er das Werk tat, danach ergehet es ihm.'' Und wie überaus anschaulich ist auch das Bild von der Raupe: »Wie eine Raupe, nachdem sie zur Spitze des Blattes gelangt ist, einen andern Anfang ergreift und sich selbst dazu hinüberzieht: so auch die Seele, nachdem sie den Leib abgeschüttelt und zeitweilig das Nichtwissen losgelassen hat, ergreift sie einen anderen Anfang und zieht sich selbst dazu hinüber.«

Das plötzliche Auftauchen des indischen Grundgedankens hatte auf heilsame Weise den Indologen aus seinen mißmutigen Autorgedanken aufgeweckt. Mit wahrer Begeisterung stürzte er sich in einen Vortrag über Metempsychose. Von den Indern ging er zu den Pythagoräern und Platonikern, von diesen zu den Thrakern, von dort zu den Druiden; machte einen flüchtigen Besuch in der nordischen Edda; sprang hinüber zu den Negern Neu-Guineas, und kam über Polynesien nach Indien zurück. Dort streifte er die zweifelhaften Spuren in Rigveda, durchstürmte den Urwald der Brahmanas, vertiefte sich in Çankaras subtiler Distinktion zwischen esoterischer und esoterischer Lehre und balancierte auf den Messerschneiden buddhistischer Scholastik. Da aber auf diesem Gebiete sein Vortrag in eine Diskussion mit Kala Rama ausartete, flog er plötzlich nach Deutschland zurück, wo er keine Unterbrechung zu fürchten brauchte. Denn wenn dieser treffliche Gelehrte einen menschlichen Fehler hatte, so war es der, daß er gern sich selbst reden hörte, und er hatte sich während dieser abenteuerlichen Fahrt so stumm verhalten müssen, daß es ihm gewiß zu gönnen war, wenn er sich jetzt revanchierte und seiner Passion als Vortragshalter ein wenig frönte.

– Was mir nun hier ganz besonders auffällt, ist der Umstand, daß es keineswegs phantastische Gemüter, von der Art Jean Pauls, sind, bei denen wir diesen die Phantasie zweifelsohne lebhaft anregenden Gedanken tiefe Wurzeln schlagen sehen. Im Gegenteil: es sind vorzugsweise die besonnensten, ja recht eigentlich kritischen Geister. So hat unser prächtiger Lessing seine »Erziehung des Menschengeschlechts« ganz wesentlich auf ihm aufgebaut. Und der scharfe, nüchterne Lichtenberg erklärt uns, er könne die Vorstellung nicht aus seinem Kopfe verjagen, daß er schon einmal früher auf der Welt gewesen, was er dann, sehr richtig, mit seiner idealistischen Grundanschauung zusammenführt. Und wenn auch der Erzkritiker, unser großer Kant, bei seiner fast übertriebenen Vorsicht allem Dogmatischen gegenüber, diesen Gedanken nicht in seinen Lehrbegriff aufnimmt, so setzt er ihn doch gewissermaßen immer voraus. Denn der, und der allein von allen uns bekannten Gedanken über die Fortdauer nach dem Tode, entspricht seiner Unterscheidung zwischen einem intelligiblen und einem empirischen Charakter; da doch nicht einzusehen ist, warum so ein überzeitlicher, intelligibler Charakter nur gerade einmal in Erscheinung treten sollte, während ihm ja die Erscheinungsbedingungen immer offen stehen müssen. –

Das Boot glitt schnell entlang des mächtigen Palastberges, dessen rote Felsenwände nur wenige Faden zur Rechten dem See so schroff entstiegen, daß Amanda sich wunderte, ob wohl Mool Roy hier irgendwo eine Landungsstelle gefunden hätte, – und dessen Schlagschatten den unregelmäßigen, zinnengekrönten Rand des Gipfels auf die blanke Fläche wie auf eine metallene Tafel zeichnete. Daß der Berg den Mond dem Blick verbarg, ließ den tropischen Sternenhimmel nur um so prachtvoller erglänzen, zumal vor den ebenso kurzsichtigen wie begeisterten Augen des Professors. Wenn auch eine Unmenge kleiner Sterne ihnen unsichtbar blieb, so prangten die anderen um so üppiger und entwickelten sich zu wahren Feuerrädern – als ob eine schwarzblaue Wiese über und über mit silbernen und goldenen Flockenkugeln verblühten Löwenzahns bedeckt wäre.

– Wie kann man, rief er aus, unter diesem indischen Sternenhimmel von unserem Kant sprechen, ohne zu wünschen, daß es ihm vergönnt gewesen wäre, sich an diesem unvergleichlichen Anblick zu erbauen. Wiewohl das so sehr viel blassere Firmament, das sich über Königsberg wölbt, genügt hat, um ihn zu jenem berühmten Ausspruch in der »Kritik der praktischen Vernunft« zu begeistern – du weißt, liebe Amanda, jene Stelle, die ich dir schon öfters vorgesagt habe: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: – der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« Und zwar – so können wir, von unserem Standpunkt aus, ergänzend hinzufügen – gehören diese beiden Dinge zusammen wie Äußeres und Inneres, so zwar, daß die mechanische Gesetzmäßigkeit der physischen Welt, die sich im Sternenhimmel dem Blick so imposant offenbart, im letzten Grunde doch mit dem moralischen Gesetz identisch sein muß: wie, umgekehrt, ihr Inder das mystische Walten dieses Moralgesetzes nicht gleich den Europäern juristisch deutet, als die Verfügung eines göttlichen Richters, sondern es uns naturalistisch, als ein blind und doch hellseherisch sich vollstreckendes Naturgesetz verbildlicht. Unter dem »heiligen Namen« Adrastea, »die Unentrinnbare« kennt Plotin dieselbe ordnende Gerechtigkeit, die ihr Inder noch schärfer und treffender als »das Karma«, als die Tat schlechthin, bezeichnet. Nicht zufälliger und willkürlicher wahrlich nehmen Sie, mein verehrungswürdiger Freund, Ihre hohe Stellung als Lenker eines edlen Volkes ein, als jener so überaus hell leuchtende Stern gerade an diesem Ort und nicht östlicher oder westlicher steht – ich meine den dort, der so schillernd funkelt – gewiß ein Planet – vermutlich Brihaspati, wie ihr Inder ihn nennt, oder Jupiter, wie wir ihn getauft haben.

– Ganz richtig, nickte Kala Rama, von dem Eure Astronomen uns lehren, daß er von acht Monden begleitet wird. Ich muß immer daran denken, wie strahlend seine Nächte sein müssen, wenn ich auf meinem Dache hin und her gehe und ihn dort oben leuchten sehe.

– Eine sehr einschlägige Bemerkung, Exzellenz, denn sie erinnert mich an ein durchaus zu unserem Thema gehöriges Wort Kants: »Wer weiß, laufen nicht jene Trabanten um den Jupiter, um uns dereinst zu leuchten.« Da haben wir in der Tat bei ihm die Seelenwanderung. Denn ob die Wiedergeburt auf diesem Planeten oder auf einem anderen stattfindet, ist ja etwas Nebensächliches, und auch bei Euch Indern sind die Stätten der Wiedergeburt über viele Himmelssphären verteilt, die eine strahlender als die andere, was ganz der Kantischen Anschauung entspricht. Denn er ist der Meinung, die er mit triftigen Gründen stützt, daß die Planeten, je weiter sie von der Sonne entfernt sind, aus um so leichterer Materie bestehen müssen, und schließt daraus, daß die auf den ferneren Planeten lebenden Wesen weniger vom Körperlichen beschwert sein werden und ihre geistigen Fähigkeiten um so freier entwickeln können. So würden wir zu immer größerer Vollkommenheit steigen. Aber selbst eine solche wahrhaft grandiose Ansicht vermag diesen tiefen Geist doch nicht völlig zu befriedigen. Und so wendet er sich denn auch schließlich von ihr ab, und, diese ganze Erscheinungswelt gleichsam durchbrechend, eröffnet er uns einen Blick auf ein gänzlich anders geartetes, raum- und zeitloses Dasein, das uns, unserem innersten Wesen nach, zukommt.

– Samsara – und Nirvana, sagte Kala Rama.

– Ganz recht, verehrtester Freund. Es ist in der Tat eine vollkommene Parallele.

– Wir kommen auf das zurück, mein lieber Professor, worüber wir vorhin uns einigten, daß das Licht des Ostens und des Westens im Begriffe sind, sich zu begegnen. Was Sie mir da sagen, scheint mir um so bemerkenswerter zu sein, als es wohl kaum anzunehmen ist, daß unsere indische Lehre auf diesen Philosophen, der so wenig zur englischen Bedeutung seines Namens zu passen scheint, irgendeinen Einfluß hat ausüben können.Die englische Bedeutung seines Namens: Cant = Heuchelei, besonders hochkirchliche. Das Wortspiel ist um so berechtigter, als einige meinen, die ursprüngliche Form des wahrscheinlich schottischen Namens sei Cant.

– Das dürfen wir sicher annehmen, Exzellenz. Denn zur Zeit Kantens wußten wir in Europa so gut wie nichts von Indien; höchstens einige fratzenhafte Züge, aber nichts von seiner wahren Physiognomie war damals zu uns gedrungen. Das sind eben Intuitionen aus den Tiefen des menschlichen Geistes, die sich von selber an den verschiedensten Orten und zu den verschiedensten Zeiten den Weg brechen ...

Amanda hatte mit einiger Enttäuschung bemerkt, wie das Gespräch immer mehr in weite Weltfernen, ja in überweltliche Fernen und Weiten schweifte, und so das ursprüngliche Thema, das sie so lebhaft interessierte, aus seinem Gesichtskreis zu verlieren drohte. So benutzte sie denn eine bald eintretende Pause, um die Bemerkung einzuschieben, daß bei allen verschiedenen Formen der Wiedergeburtslehre, so viel Anziehendes, ja Überzeugendes wenigstens die tieferen von ihnen auch haben mochten, dennoch das eine sie immer unbefriedigt ließe, daß so gar keine Erinnerung aus dem einen Leben in das folgende übergehen und die verschiedenen Existenzen des einen Wesens verbinden sollte.

– Ja, glaube nur nicht, liebes Kind, antwortete der Vater, daß du der erste bist, der diese Einwendung erhebt. Vielmehr hat vielleicht keiner sie nicht erhoben. Und doch wäre derjenige, der sie nicht erhöbe, vielleicht der Weiseste. Denn nicht nur wissen wir nicht, ob es für die Lebensaufgabe des Menschen förderlich wäre, wenn er eine solche Erinnerung mitbrächte; sondern ich denke sogar, es gehört keine übergroße Besonnenheit dazu, um einzusehen, daß es im großen und ganzen eine hemmende Wirkung auf unsere Willensfreiheit ausüben und uns die Frische und Unmittelbarkeit, die zu einem tüchtigen leben gehört, nehmen müßte.

– Das mag wohl sein. Aber es will mir immer nicht als dasselbe Wesen vorkommen, wenn keine Erinnerung eine Brücke zum Vorhergehenden schlägt.

– Liebe Amanda, über diese Frage der Identität haben wir ja schon gehandelt, sagte der Professor mit einer leisen Ungeduld in seiner Stimme; denn er liebte es nicht, wenn ein Gespräch Buchtungen machte und auf schon Erledigtes zurückkam. – »Es ist ein falsches Extrem zu sagen, daß es ein Anderer sei; es ist ein ebenso falsches Extrem zu sagen, es sei derselbe,« so antwortete Buddha, als ihm jemand eine diesbezügliche Frage stellte.

Amanda schüttelte den Kopf, als ob sie sich dadurch wenig befriedigt fühlte.

– Nun, sagte Kala Rama lächelnd, wir wollen gern Ihrer Tochter zugeben, daß diese Frage nach der persönlichen Identität eine mehr als schwierige ist. Und das kann uns wohl auch kaum wundern, wenn wir bedenken, wie schwierig es schon innerhalb des einzelnen Lebens ist, zu bestimmen, worauf denn eigentlich die Identität der Persönlichkeit beruht. Sie ist uns so selbstverständlich, daß eine Frage danach dem Unbefangenen ganz überflüssig erscheint. Je eifriger man sie aber zu beantworten versucht, um so schwieriger wird es. Unser Körper verändert sich fortwährend, unser Geist nicht weniger. In welchem Sinn ist der Greis derselbe wie das Kind? Sie wollen sich nun freilich an der Erinnerung halten, Memsahib, wie an einer festen Schnur, an der alles angereiht ist. Aber wie unendlich viele Einzelheiten ihres Lebens gibt es nicht, die Ihnen völlig entschwunden sind; und doch würden Sie nicht in Abrede stellen, daß Sie selber sie erlebt haben.

– Nicht – wenn Sie mich daran erinnerten, Exzellenz, antwortete Amanda, indem sie den Kopf etwas schräg neigte und den Minister mit einem neckischen Lächeln anblickte.

Die beiden Männer lachten leise, vergnügt über die schlagfertige Parade des Mädchens.

– Das hast du nun zwar recht schlau geantwortet, liebe Amanda, sagte der Vater, aber so sollst du uns denn doch nicht davonschlüpfen. Denn gesetzt, es würde durch ein paar ganz zuverlässige Zeugen festgestellt, du hättest irgend etwas getan, das dir völlig aus der Erinnerung geschwunden wäre, so müßtest du doch anerkennen, daß du es selber gewesen wärest.

– Das müßte ich wohl.

– Ihre Tochter fühlt sich überführt, nicht überzeugt, – und damit ist uns wenig geholfen, Professor Sahib. Ich denke vielmehr, wir müssen auf ihre Forderung eingehen. Sie meinten, Memsahib, mit Ihrem sehr hübschen Scherz: – die erlebte Einzelheit eines Lebens mag der Erinnerung entschwunden sein, so muß sie doch imstande sein, wieder belebt und in die Erinnerung eingefügt zu werden, ansonst die Identität keine Bedeutung habe. Wer sagt uns nun aber, daß dies nicht auch der Fall ist mit einem ganzen, scheinbar vergessenen Lebenslauf? Die Geburt hat uns die Erinnerung daran genommen – sehr zum Vorteil unseres irdischen Wandels, wie Ihr Vater so richtig bemerkte. Warum sollte nicht der Tod uns jene Erinnerung wiedergeben?

– Ein vortrefflicher Gedanke! rief Professor Eichstädt. Das wäre eben jenes »zeitweilige Loslassen des Nichtwissens«, von dem die Upanishad sprach, des Nichtwissens, nämlich dieses empirischen, durch Sinnenwerkzeuge bedingten Erkennens, an dessen Stelle dann ein höheres Bewußtsein treten würde – etwa wie wenn einer aus einem Traum erwachend, sich auf sein eigentliches Leben besinnt, dabei sich nun aber auch anderer, vorhergehender Träume erinnert. Das wäre dann wohl auch jenes »Unerwartete und Unverhoffte«, von dem der alte dunkle Heraklit sagt, daß es den Menschen nach dem Tode erwarte.

– Es freut mich, daß Sie diesen Gedanken nicht als phantastisch abweisen, sagte Kala Rama – als Inder geziemt es mir aber, nicht bei ihm stehen zu bleiben und nicht unerwähnt zu lassen, daß wir Inder, bei denen diese Wiedergeburtslehre tiefer als bei allen anderen eingewurzelt war, tiefer in der Tat als irgendeine andere Vorstellung, und die wir doch auch vielleicht deshalb über Erfahrungen auf diesem geheimnisvollen Gebiete verfügen, die anderen verborgen blieben, daß wir, sage ich, zu allen Zeiten überzeugt waren, daß einzelne hochstehende Menschen, die ihre höchsten geistigen Kräfte völlig zur Entwicklung gebracht haben – daß besonders der Heilige die Fähigkeit hat, sich schon in diesem Leben eines vorhergehenden oder mehrerer vorhergehender Lebensläufe zu erinnern.

– Sind Sie, verzeihen Sie mir die Frage, Exzellenz! sind Sie selber je solchen Männern begegnet?

Amanda bereute sofort, diese Frage gestellt zu haben, die sie freilich schlechterdings nicht zu unterdrücken vermochte; denn Kala Rama zögerte, bevor er sie beantwortete.

Einen solchen Mann kenne ich, Memsahib.

»Das ist sein Guru, der mit mir sprach und den er vor dem dritten Schakalschrei in den Ruinen treffen soll,« dachte Amanda.

Auch Professor Eichstädt dachte an diesen geheimnisvollen Grüßenden: – wenn das nur nicht irgendein Schwindler von einem Yogi ist, der den guten Kala Rama zum besten hat!

– Aber wir werden besser tun, von solchen immerhin seltenen Ausnahmefällen abzusehen, hub Kala Rama wieder an – und wir können es um so mehr tun, als wir uns nicht lange umzusehen brauchen, um auch im gewöhnlichen Leben dunkle Erinnerungen an ein vorhergehendes zu entdecken. Oder sollte nur unsere indische Poesie imstande sein, in der plötzlich auflodernden Liebe zwischen einem Jüngling und einem Mädchen, die sich kaum noch kennen und die von dann ab einander alles sind, ein ahnendes Wiedererkennen zu sehen? Und führt von diesem heroischen Höhepunkt nicht eine Stufenleiter zu allen unseren Sympathien und Antipathien hinab? Sollten wir aber dann etwas anderes in den unwiderstehlichen, individuellen Trieben und Fähigkeiten, vor allem in denen des Genies, erblicken? Aber ich möchte noch weiter gehen und behaupten, daß vielleicht jeder Mensch, wenn er nur recht aufmerksam in sein Inneres blicken wollte, dort viele kleine Eigenarten und Sonderlichkeiten, viele nur ihm eigene und immer wiederkehrende, bis in die erste Kindheit zurückzuverfolgende Regungen, ja sogar auch bestimmte Erinnerungsbilder finden würde, die alle unmöglich ihren Ursprung in dem gegenwärtigen Leben haben können.

– Ich glaube doch, entgegnete der Professor, daß Sie, mein hochverehrter Freund, mit dieser Behauptung etwas zu weit gehen – wenigstens in dem letzten Punkt, wenn Sie sogar von bestimmten Erinnerungsbildern sprechen, die sich nicht auf Eindrücke diesseits der Geburt zurückführen ließen. Denn ich muß gestehen, daß ich bei mir derartige Spuren eines vorhergegangenen Erdenwallens nicht finden kann.

– Nicht? wirklich nicht? fragte Kala Rama mit einem feinen Lächeln. – Sehen Sie nur recht genau hin.

– Gewiß – ich will mich der inneren Selbstschau hingeben.

– Aber bitte, scherzte Kala Rama, mit untergeschlagenen Beinen zu sitzen, und das regelmäßige Atemholen nicht zu vergessen!

– O, es soll alles nach alter Yogivorschrift geschehen: «Einen lautlosen Ort wählend, dazu des Sitzens rechte Art, die Glieder wie die Schildkröte einziehend, langsam den Leib mit Hauch bis zur Herzgegend anfüllend und langsam den Hauch wieder ausatmend, soll er die ›schneidhafte‹ Fixierung ausüben.«

– So umständliche Vorbereitungen brauche ich nicht zu machen, sagte Amanda. Die Worte Eurer Exzellenz weckten bei mir gerade ein Erinnerungsbild, an das ich lange nicht gedacht habe. Es reicht bis in meine früheste Kinderzett zurück, ja mir ist in der Tat, als wäre ich nie ohne es gewesen. Seine Entstehung habe ich mir aber nie erklären können. Bisweilen habe ich mir gedacht, ich müsse das wohl geträumt haben. Dann bleibt es aber ebenso unerklärlich, wie eine solche Phantasie in den Traum eines Kindes hineinkäme.

– Und davon hast du mir nie etwas erzählt! Oder sollte ich das vergessen haben?

– O nein, Vater! ich habe dir gewiß nichts davon erzählt, ich sprach ja mit niemand davon. Denn obwohl es so lange zurück, wie ich mich erinnern kann, immer als etwas wirklich Erlebtes vor mir stand, so hatte es doch zugleich etwas seltsam Traumhaftes oder vielmehr Unwirkliches an sich.

– Na, da machst du mich wirklich begierig.

Kala Rama sagte nichts, beugte sich aber ein wenig vor und betrachtete sie mit einer ernsten Aufmerksamkeit, die deutlich genug zeigte, daß er wenigstens ebenso erwartungsvoll war wie ihr Vater.

Amanda errötete. Die beiden Gedankenstriche ihrer Augenbrauen rückten sich näher, und ihre Stirn runzelte sich. Offenbar kostete es sie eine nicht ganz geringe Anstrengung, die am nebligen Erinnerungshorizonte stehende Vision zu bannen und sogar beschreibende Worte dafür zu finden.

– Ich stehe – oder vielleicht sitze ich – das weiß ich nicht recht vor einem eigentümlichen Kuppelbau ... nicht so sehr groß, scheint es mir, aber wunderschön. Der untere Teil ist von Stein – es führen auch einige Stufen hinan – und in diesem Teil befindet sich eine Nische mit einer goldigen, sitzenden Figur, aber anders sitzend als ich sonst jemand hatte sitzen sehen. Jetzt würde ich sagen, es sei ein Brahma- oder Buddhabild. Die Kuppel ist ganz von Gold und glänzt wie eine Sonne, denn das Sonnenlicht flutet vom tiefblauen Himmel herab – ich weiß, daß ich immer, wenn ich daran dachte, mich gewundert habe, ob Sonnenlicht wirklich so stark sein könne; jetzt weiß ich's freilich. Es ist ein offener Platz, aber hohe Bäume stehen hinter dem Bau. Kein Wipfel rührt sich, alles ist still, lautlos und so feierlich, so seltsam erwartungsvoll, scheint mir – aber das kann ich nun erst recht nicht beschreiben.

– Und das ist alles? fragte der Vater.

– Ja, – das ist alles.

– Und vielleicht genug, meinte Kala Rama mit bedächtigem Kopfnicken.

– Nur, fügte Amanda schüchtern hinzu – ein Etwas, das sich nicht in Worte fassen läßt, am wenigsten von mir – wie ein Farbenton – etwas, das es für sich stellt unter allen anderen Vorstellungen, ganz abgesehen davon, daß ich es ja nie mit diesen meinen Augen gesehen haben kann.

– Außer im Traum! fiel der Vater ein. Ich möchte doch hier deiner Traumhypothese beipflichten. Du bist ja als klein immer in meinem Studierzimmer herumgekrochen und mußtest dein Näschen in alle Bücher stecken, die dalagen. Da kannst du gar wohl in einem der illustrierten Werke, die ich oft von den Bibliotheken hatte, die Abbildung einer buddhistischen Stupa gesehen haben, denn ein solcher Bau scheint es mir zu sein; und dieser Eindruck hat sich dann in einem Traum zum lebendigen Erlebnis gestaltet.

Die Erklärung klang wahrscheinlich genug, schien aber weder Amanda noch Kala Rama zu befriedigen.

Sie schwiegen beide.

Man befand sich nicht mehr auf dem See. Das Fahrzeug war um die nördliche Ecke des Palastberges gebogen, wo eine tiefe Bucht sich öffnete, derjenigen, an der die Stadt lag, entsprechend. An zwei Seiten von niedrigen, mit Dschangeln dicht bewachsenen Ufern begrenzt, hatte diese Bucht zur dritten Seite den landeinwärts mählich sich abdachenden Palastberg, wo sich oben die Parkterrassen befanden, auf deren Lage Kala Rama seine Gäste aufmerksam machte. Diese in ganz Indien berühmte Anlage hatte sich ihnen noch nicht geöffnet. Das war dem morgigen Abend vorbehalten, bei welchem die Europäer dies Prachtstück altindischer Gartenkunst unter den günstigsten Auspizien, belebt durch die bunten Scharen eines orientalischen Hoffestes, bewundern sollten.

Am Ende der Bucht, wo der Vorberg sich plötzlich aus den Dschangeln erhob, wie ein Elefant, der in den See hinaustritt, um sein Abendbad zu nehmen, öffnete sich eine allerinnerste Bucht, die von der deltaartigen Ausmündung eines Flusses gebildet zu sein schien. Wo das Netz der Wasseradern glitzerte, erhoben sich aus dem Gebüsch verfallene, überwucherte Mauerwerke; stämmige Säulen ragten in die Luft empor, und eine massive Kuppel ruhte schwer zwischen den durchbrochenen und leichtbewegten Baumkronen.

An einem bequemen Landungsplatze, den einige im Wasser stehende Säulen mit ihrem Marmorboden bildeten, legte die Barke an, und man stieg aus.

Reich ornamentierte, mit Skulpturenschmuck fast überladene Marmorsäulen standen unregelmäßig verteilt oder lagen umgestürzt auf dem getäfelten Boden, als ob in mythischer Urzeit ein Götterpaar sich hier des edlen Brettspiels ergötzt und sich in Unmut davon erhoben hätte.

Kala Rama führte seine Gäste eilig, fast ungeduldig durch diese Palastruine, ohne bemerken zu wollen, daß der Indologe hier eine an der Ecke eines Pfeilers eingenistete »schwellgliedrige« Göttin näher bewundern möchte, dort einem zu seinen Füßen hingestreckten Kapital gern eine genauere Aufmerksamkeit gewidmet hätte, oder diese indirekten Aufforderungen zum beschaulichen Verweilen höchstens mit einem: »Nachher, mein lieber Professor Sahib« beantwortend. Schließlich durchschritt man eine ziemlich gut erhaltene Vorhalle und trat durch ihre äußerste Säulenreihe auf einige breite Stufen hinaus.

Ein offener Platz, von größeren Bäumen unregelmäßig eingehegt, hier und da mit niedrigem Gebüsch bewachsen, breitete sich zu ihren Füßen aus. Etwa hundert Schritt entfernt fesselte ein tempelartiges Gebäude von vornehmer Schlichtheit sofort ihre Aufmerksamkeit. Auf einem niedrigen, viereckigen Stufenpostament erhob sich ein zylindrischer Bau, der in wagerechte, reich ornamentierte Schichten sehr anmutsvoll gegliedert war und von einer herrlich gewölbten Kuppel gekrönt wurde. Wie hell auch der Mondschein war, der sich über dies offenbar sehr altertümliche Kunstdenkmal ergoß, so ließ er doch in diesem Abstand nur geringe Spuren des Verfalls erkennen – am ehesten noch an den Nischen, die den mittleren Teil des Zylinders umgaben; an der vorderen und größten glitzerte zur einen Seite des Schattenrachens der zerbröckelte Bogenrand.

– Entzückend! rief der Indologe. Jetzt verstehe ich wohl, verehrtester Gönner und Freund, warum Sie so durch die Palastruine eilten. Verfallene Säulenhallen gibt's ja hier in Indien zu Tausenden – aber eine solche Stupa! Ja, Amanda, das ist ja der Kuppelbau, den du uns beschriebst – sogar die Nische ist da! freilich leer – aber wie merkwürdig! Ich besinne mich nicht, auf irgendeiner Stupaabbildung eine solche gesehen zu haben. Wirklich eine Perle! wie fein ist die Profilierung, welche Lieblichkeit der Linien! – einzig in seiner Art!

Und von seiner archäologischen Begeisterung getrieben, eilte Professor Eichstädt auf die Stupa zu.

Seine beiden Gefährten folgten ihm nicht sofort.

Festgebannt durch den Anblick stand Amanda noch tief atmend, mit weitgeöffneten Augen da, als ob sie ein Gesicht sähe. Regungslos stand sie da, bis sie endlich, als der Vater sich etwas entfernt hatte, unwillkürlich und halb unbewußt die Hand ausstreckte und Kala Ramas Schulter leise berührte.

Der alte Inder blickte sie schon unverwandt an, mit seinem sanften, verständnisvollen Lächeln.

– Ja, Memsahib! Ihr Vater hat recht. Das ist die Stupa, die Sie uns beschrieben.

Amanda nickte.

Die ahnungsvolle Frage, die sie sich beim Aufbruch zu dieser nächtlichen Fahrt vorgelegt hatte: »Werden mir schon heute diese Steine reden?« war beantwortet.

Die Steine hatten ihr geredet.


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