Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

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Fünftes Kapitel

Index Providentiae

Arthur trat eilig von der Veranda herein, warf seinen Hut auf einen Stuhl und eine große Ledertasche auf den Tisch und fuhr sich mit den Fingern durch sein kurzes, blondes Haar.

– Aha, die Post. Deshalb deine Erregung, lachte Edmund. Mann! wann willst du denn dieses Heimwehfieber endlich einmal aus dem Blute hinaustreiben? Das taugt nicht für uns.

Sein Ton unterstrich das letzte Wort; sein bedeutungsvoller Blick wurde von seinem Vetter kaum erwidert.

Mittlerweile hatte Edmund die Tasche geöffnet und den Inhalt auf den Tisch herausgewälzt.

– Nein, mein armer Junge, kein Brief für dich. Hier ist »Edinburgh Review«, bedeutend zahmer, seitdem Byron ihnen den Kopf wusch. Nimm hin, mein Junge, das klingt immer ein wenig nach »Auld lang syne«.»Auld lang syne«, »Längst vergangene Tage«. – Lied von Robert Burns. Hier, Herr Professor, ein Brief und zwei Drucksachen für Sie und hier eine großmächtige Briefschaft für mich. Aha, Ministerialsiegel!

Edmund brach das Siegel und riß mehrere Papiere und einen Brief aus dem großen Umschlag heraus.

– Onkel Archibald natürlich. Was hat nur der alte gichtische Gentleman mir zu sagen?

Der Professor war in seinen Brief, Arthur in die Revue zu sehr vertieft, um das Stutzen zu bemerken, das sich auf Edmunds Gesicht zeigte, bevor er noch die erste Seite durchflogen hatte, um dann einem immer spöttischer werdenden Lächeln zu weichen, das nun in lautes Lachen überging, als er den Brief auf den Tisch warf, ohne von der dritten zur vierten Seite umzublättern.

– Nun könnt Ihr mich in der Tat beglückwünschen, meine Freunde! Erblicket in mir ein lang verkanntes politisches Genie, das endlich von seinem intelligenten Vaterland entdeckt wird. Begrüßet den designierten Gesandten für Afghanistan!

Arthur ließ seine Revue fallen und starrte den Vetter mit offenem Munde an.

– Sie gehen nach Afghanistan, rief der Professor. – »Und was wird denn hier aus mir werden?« fuhr es ihm durch den Kopf. – »Freilich wird ja mein Freund, der Minister Kala Rama, der mich herberufen hat, auch für meinen weiteren Aufenthalt sorgen; bin ich doch noch lange nicht mit den Inschriften fertig – aber wo kann ich und besonders Amanda hier ein so bequemes Heim finden wie bei Sir Edmund? Und mit ihm geht jedenfalls auch sein Sekretär, dieser junge Schotte, der offenbar sein Herz an meine Tochter verloren hat, ein trefflicher, zuverlässiger junger Mann, wie mir scheint, der mir als Schwiegersohn sehr erwünscht wäre. Gott weiß, wann man ihn dann wieder sieht und was daraus wird?«

– Beruhigen Sie sich, mein lieber Professor, sagte Edmund, alles bleibt hier beim alten. Ich gehe nicht nach Afghanistan; die Ehre muß ich aber doch schätzen.

– Gewiß, gewiß, es ist eine große Ehre, mit einer solchen Mission betraut zu werden. Aber warum wollen Sie sie denn ausschlagen? Ich denke, es müßte für Sie höchst interessant sein.

Professor Eichstädt, der sich nicht wenig schämte, bei seiner eigennützigen Bestürzung ertappt zu sein, schien jetzt seinen Wirt zur Annahme überreden zu wollen, und Edmund erging sich schon in heftigen Ergüssen über die nichtswürdige krämerhafte Politik seines Vaterlandes: als er plötzlich von Arthur unterbrochen wurde, der den Brief genommen hatte und ihn nun seinem oratorischen Vetter umgedreht hinhielt, mit zitterndem Zeigefinger auf die letzte Seite zeigend:

– Was ist das hier, Edmund?

Edmunds Augen öffneten sich doppelt so weit und starrten Arthur verständnislos an, während er den Brief dem Professor überreichte.

Außer sich vor Begierde zu erfahren, was wohl die beiden Herren so aus der Fassung brachte, entriß Professor Eichstädt den Brief der willenlosen Hand seines Wirtes.

Die letzte Seite enthielt nur ein paar Zeilen und darunter die großmächtige, mit lassoartigem Schnörkel versehene Unterschrift: Archibald Pembroke. Aber quer über die ganze Seite, Leeres und Beschriebenes mit festen Zügen überschreitend, standen, anscheinend mit einem Blaustift geschrieben, die zwei Worte: Index Providentiae.

– Kann jemand das begreifen? rief Edmund. Wie ist dies hineingekommen? Beide Siegel ungebrochen, das des Ministeriums und das meines Onkels!

– Ihr Onkel hat sich einen Scherz erlaubt, vermutete der Professor.

– O, da kennen Sie Mylord schlecht.

– Oder sein Sekretär oder irgendeiner in seinem Bureau.

– Sie kennen ihn schlecht, sage ich. Sehen Sie doch hier, wie vorsichtig er seinen Schnörkel bis ganz herunter geführt hat, damit nicht Raum übrig bleibe, wo ein anderer etwas schreiben könnte. Nie hätte er den Brief versiegelt, ohne zuerst nachzusehen; nie hätte er ihn einem andern zum Versiegeln gegeben.

Arthur nickte und sagte mit seltsamem Nachdruck:

– Nein, nein, Herr Professor, der dies schrieb, hat nicht gescherzt.

– Ah, rief Edmund erregt und nahm Arthur am Arm: Du weißt, wer es ist?

– Wer? Nein.

– Was weißt du denn? Hast du jemals vorher solche Schrift gesehen? Schrift in geschlossenen Briefen?

Arthur nickte.

Der Professor sprang auf.

– Aber lieber junger Freund – – –

– Nun, was ist es also, Arthur?

– Was es ist? Es ist Raggi-Yog.

Es kam wie aus der Pistole geschossen, mürrisch, fast trotzig von dem jungen Mann, der sich nun so in die Enge getrieben sah.

Der Ausdruck war dem Professor und Edmund wohl bekannt als die moderne indische Bezeichnung für okkulte Kräfte höchster Ordnung.

Edmund lachte laut auf, ohne daß dies Lachen doch ganz natürlich klang. Es hatte einen Ton des Gewollten, wie wenn jemand sich durch erheuchelte Heiterkeit gegen etwas wehrt, was ihm sonst zu ernst oder gar unheimlich sein würde.

– Sagte ich es Ihnen nicht, Professor? Sie haben in Kalkutta den guten Arthur etwas verrückt gemacht, so daß er bereit ist, auf alle Yogiwunder zu schwören.

– Aber Herr Steel, wandte sich Professor Eichstädt jetzt fast bittend an Arthur: – Sie können doch nicht ernstlich meinen, daß jemand in einen versiegelten Brief etwas hineinschreiben kann.

»Hineinschreiben« habe ich nicht gesagt.

– Nun, wie Sie es zu nennen belieben, wir wollen nicht um Worte streiten. Aber ich bitte Sie, dies geht denn doch über die Hutschnur! Ich gebe ja zu, daß man hier von den Yogis Dinge ausgeführt sieht, die sich wie Wunder und Zaubereien ausnehmen. Dabei wollen wir aber doch nicht vergessen, daß diese Dinge von den alten Indern selbst nicht als wirkliche Vorgänge, sondern als Augenverblendung aufgefaßt wurden. Dies geht unzweifelhaft hervor aus einer sehr interessanten Stelle in den Brahmasutras, wo Çankara die nur scheinbare Realität des individuellen Selbstes und andererseits dessen Verschiedenheit von dem einzig realen, höchsten göttlichen Selbst außerordentlich fein dadurch illustriert, daß er etwa sagt: – der Zauberer, der an einem in die Luft hingeworfenen Faden in die Höhe zu klimmen scheint, ist auf dieselbe Weise verschieden von dem Zauberer, der in Wirklichkeit auf der Erde stehen bleibt. Also, mein lieber Freund, in Wirklichkeit ist kein Faden und kein Kletterer da, sondern wirklich ist nur der Zauberer, der ruhig mitten im Kreise steht und bei den Zuhörern die Halluzination hervorbringt, als ob er an einem Faden in die Höhe klimme. Ebenso, meint Çankara – und Sie werden die Feinheit dieses Vergleichs bewundern –, existiert in Wirklichkeit nur das Brahman, die Gottheit, in ewiger Ruhe; und nur durch das Nichtwissen, das heißt durch das sinnliche Bewußtsein, scheint es, als ob eine Menge wandernder, gleichsam an Fäden emporklimmender, individueller Seelen da wären. Das ist nun also die Erklärung der größten aller indischen Autoritäten. Nach ihr müssen wir also annehmen, daß der kleine Mangobaum, den der Yogi gestern hier auf der Veranda vor unseren Augen aus dem Topf emporwachsen ließ, in Wirklichkeit gar nicht da war – –

– Ach, der Mangobaum! unterbrach ihn Arthur ungeduldig, der gehört ja nur zum niedrigsten Hatha-Yog.Hatha-Yog (so Sīlācāra), okkulte Kräfte niederen Ranges (»Zauber«). – Der diese Worte geschrieben oder vielmehr, chemisch gesprochen, sie aufs Papier gesprochen, sie aufs Papier gefällt hat, der hat Kenntnis von Naturkräften, die unsere Gelehrten nicht ahnen, weil er die höchsten Prinzipien seiner Natur – vor allem den Buddhi – zur Entwicklung gebracht hat – – –

– Ach, mit Ihren Prinzipien, das ist ja – – –

– Um Gotteswillen, rief Edmund, fangen Sie nur nicht von den sieben Prinzipien an!

– Gewiß nicht, gewiß nicht, beruhigte der Professor seinen launenhaften Wirt. – Ich wollte Ihnen nur sagen, Herr Steel, diese ganze Lehre von den sieben Prinzipien, von der Sie mir noch gestern vorschwärmten, ist ja nichts anderes als ein grobes Mißverständnis von der berühmten Anandavalli in Taittiriya-Upanishad, wo nämlich ein sehr geistreicher Versuch gemacht wird, den Kern des Menschen und der Natur, den Atman, aus allen Hüllen herauszuschälen. In dieser Stelle nämlich –

– O, ich kenne sehr wohl die Anandavalli, Herr Professor, gewiß ist sie die älteste Belegstelle von der Prinzipienlehre.

– Ja, nur gänzlich mißverstanden. Eine grobe Entstellung! Wenn dort von dem aus Nahrungssaft bestehenden Selbst das aus Lebenshauch bestehende getrennt wird, so heißt das doch – – –

Hier wurde aber der eifrige Indologe durch den eintretenden Sirdar unterbrochen, der den Besuch des Ministers Kala Rama anmeldete.


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