Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

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Neuntes Kapitel

Die schwimmende Lackshmilampe

Arthur schickte ihm keinen Blick nach. Achselzuckend warf er sich auf einen umgefallenen Baumstamm nieder. Er hatte getan, was ihm seine Pflicht gebot, hatte den Vetter so eindringlich gewarnt, wie es ihm möglich war, seine ganze Beredsamkeit aufgeboten – soweit war sein Gewissen frei. Hätte er ihn jetzt noch halten können, er würde es nicht tun.

Nein, er war froh, daß es seiner wohlgemeinten Warnung nicht gelungen war, den Vetter zurückzuhalten. Edmund eilte zum Hinduweib, möge sie ihn festhalten! Seine letzten Worte hatten Arthur gar zu drohend an das Unbehagen erinnert, womit die überraschend warme Anerkennung, die der Vetter heute den Reizen Amandas zollte, ihn erfüllt hatte.

Auch war dies Unbehagen, diese vage Furcht vor einer Nebenbuhlerschaft seines Vetters keineswegs von heute. Diese Furcht war nur in der letzten Zeit während ihres hiesigen Aufenthalts eingeschläfert worden, war aber während der langen Flußreise, ja schon in Kalkutta sehr rege gewesen, obwohl Edmund wenig oder nichts tat, um sie zu rechtfertigen.

Der redliche junge Schotte wußte ja sehr wohl, daß ein Mann vom Schlage Edmunds etwas Bestrickendes für eine junge Mädchenphantasie haben kann – vielleicht haben muß. Immerhin, wäre er der Neigung Amandas sicher gewesen, dann hätten alle Don Juan-Eigenschaften seines Vetters ihn wenig heiß gemacht. Das aber war es ja eben: er war keineswegs sicher, das Herz der Geliebten gewonnen zu haben, vielmehr befand er sich in dem schwebenden Zustand, wo ein Jüngling in einem Moment durch das Lächeln seiner Dame in den Himmel gehoben, im nächsten durch einen kalten Blick in die Hölle gestürzt wird. In einem solchen Zustand wirkt die Gegenwart eines frauengefährlichen Mannes wie das Summen einer Wespe um eine offene Wunde. Der gepeinigte Liebhaber wird dann oft eine keimende Leidenschaft des Mädchens für den andern wittern, wo sie in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist. In der Tat hatte Arthur oft in Amandas Wesen diese und jene Kleinigkeit bemerkt, die er als Anzeichen eines sehr lebhaften, geheimen Interesses für Edmund auffaßte – hatte aber dabei immer gehofft, daß es eben nur seine Furcht sei, die es so deutete.

So hatte er es denn mit wahrem Jubel begrüßt, als der Vetter sich kopfüber in dieses Liebesabenteuer mit der Rani stürzte. Wenn das ihn weiter mit sich riß und ihn in gefährlichere Wasser entführte, als jemand von ihnen von Anfang an geahnt hatte, so konnte er das von seinem jetzigen Standpunkt aus nicht mehr bedauern. Denn für den Fall, daß das Herz Amandas wirklich ein wenig für den Abenteurer schlug, mußte eben dies Abenteuer ihr doch die Augen öffnen! Morgen trat Edmunds überdreistes Unternehmen aus der Verborgenheit heraus. Mochte es nun gelingen oder nicht – es würde aber nicht gelingen! –: jedenfalls brachte es auch seine Liebessache zur Krisis auf eine für ihn vorteilhafte Weise. Denn seine eigene Teilnahme an diesem fluchwürdigen Verbrechen – das war es jetzt mehr denn je in seinen eigenen Augen und würde es nicht weniger in denen Amandas sein – diese Teilnahme getraute er sich entschuldigen zu können, weil er doch nur aus Liebe für sie mitgegangen war.

Aber das stand bei ihm fest: die ihm zugeteilte aktive Rolle als schützender Gefangennehmer Kala Ramas wollte er weit von sich weisen, und morgen abend würde er keinen Augenblick von der Seite Amandas weichen. Sie war es, zu deren Schutz er berufen sei!

Etwas beruhigt und noch mehr gehoben durch solche Betrachtungen sprang der Sohn des «Landes des Gebirges und der See« auf, und, die Waldwiese mit schnellen Schritten durchmessend, sang er laut vor sich hin, und zwar – wie sein Vetter richtig vorausgesagt hatte – schrecklich falsch:

Confound their politics!
Frustrate their knavish tricks!
God save the queen!

Wobei » the queen« weder die durch Edmund gefährdete Königin des kleinen Hindustaates noch jene zukünftige Beherrscherin seines Vaterlandes, für die er sich soeben in die Schanze geschlagen, bedeutete, sondern die Königin seines Herzens, deren Schutz er sich jetzt, unter Lossagung von allen politischen Intrigen begeistert widmete.

Der Vollmond stand jetzt goldig strahlend über den Baumkronen. Unwillkürlich schlug Arthur die Richtung nach dem See ein, war aber gar zu sehr von Hoffnungsträumen umflattert, um darauf zu achten, wo und wohin er ging.

Plötzlich befand er sich unmittelbar vor den Ruinen.

Er trat hinein, wo die Säulen am dichtesten standen und auch hier und dort eine Mauerecke sich erhob. Aus einer solchen, die von tiefem Schatten bedeckt war, vernahm er einen ihm vertrauten, schnobernden Laut. Ein Mungos. Natürlich, gerade an solchen Orten nisten ja die Schlangen gern. Aber wie? Das Tierchen kroch aus der dunklen Ecke auf den vom Mondschein hell beschienenen Marmorboden heraus; ein goldener Streifen, der wie ein Gurt sich mitten um seinen Leib spannte, gab ihm eine täuschende Ähnlichkeit mit Garuda. Aber gewiß war es Garuda! Das Tierchen winselte vor Freude des Wiedererkennens, hüpfte auf ihn zu und ging mit erhobenem Schwanze um ihn herum, das Fell an seinen Beinen wie eine Hauskatze reibend.

Arthurs Herz pochte, wie das eines Jünglings soll und muß, wenn er in einer wundervollen Mondnacht, in den romantischsten Umgebungen allein wandelnd, plötzlich entdeckt: Sie ist da! Daß es ihm sehr schwierig fallen dürfte, eine annehmbare Erklärung seiner Anwesenheit hier zu erfinden und keinen Verdacht zu erregen, wo Verdacht gefährlich war; daß es ihm in seiner Rolle als Verschworener nur gezieme, sofort nach dem Boot zurückzuschleichen und dort mit den vier schwarzen Priesterhunden zu kuschen, bis ihr Herr und Meister von seiner Schäferstunde zurückkehrte: solche Gedanken konnten nicht in einem Kopfe aufkommen, wo das große Gehirn nur für ein »Zu ihr« und das kleine nur für die entsprechende Bewegungsdirektion Raum hatte.

Die Richtung zeigte schon Garuda.

Als er, dem rastlosen Tiere folgend, zwischen die Säulen auf einige breite Stufen hinaustrat, gewahrte er kaum hundert Schritt von sich entfernt den Kuppelbau, den er schon im Vorüberfahren bemerkt hatte, und vernahm von dort Stimmen, darunter auch jene einzige. Jetzt sah er sie selbst um die Ecke kommen: eine männliche Gestalt, die väterliche, folgte ihr; dann eine weißgekleidete, ein Inder, gewiß Kala Rama.

Einen Augenblick später war er an ihrer Seite.

– Ei, Herr Steel! ... Welche Überraschung! ... Wo kommen Sie denn her?

– O, ich wollte mir diese Ruinen ansehen. Man muß sie, um die volle Stimmung zu bekommen, im Mondschein sehen, denke ich. Gestern abend konnte ich nicht, wie Sie wissen, morgen ist das Fest, und länger wollte ich es nicht gerne aufschieben.

Niemand plagte ihn mit unwillkommenen Fragen, aber er fühlte zwei Paar Augen mit etwas wie Verdacht auf sich ruhen, während der gute Professor Eichstädt ihm scherzend und neckisch genug vorhielt, daß unser »lieber junger Freund« anfing, ausschweifend zu werden: die eine Nacht nach Schlangen gefahndet, die nächste unter Ruinen geschwärmt, während die dritte schon vergeben war – ei, ei! – Er hatte seine eigene Hypothese über den Grund, der gerade heute Nacht den jungen Schotten nach der Ruinenstätte geführt hatte und war auch mit diesem Grund keineswegs unzufrieden. Man war selber auch mal jung. Ich kenne das. Immer wo sie war.

Arthur fühlte, daß er stark errötete und sehr verlegen war, und so beeilte er sich, ein lebhaftes Interesse für das altertümliche Architekturwerk zu bekunden. Ein zylindrischer Bau erhob sich auf drei ziemlich hohen Stufen und trug die fast halbkugelförmige Kuppel. Das Ganze hatte eine Höhe von etwa dreißig Fuß. Ein Tierfries, von einem Wellen- und Laubornament eingeschlossen, umlief – jetzt durch große Lücken unterbrochen – den unteren Teil des Zylinders, der auch oben unter der Kuppel reich ornamentiert gewesen war, wie einzelne noch sitzengebliebene Bruchstücke zeigten. In mittlerer Hohe wies seine Fläche mehrere Nischen auf, von denen die eine, gerade in der Mitte – nach der viereckigen Stufenbasis gerechnet – bedeutend größer als die anderen war. Sie befand sich den Palaststufen gerade gegenüber.

– Diese große Nische, lieber junger Freund, begann der Professor, hat, wie Seine Exzellenz uns soeben erzählte, ein schönes sitzendes Buddhabild aus Bronze enthalten, während die anderen, kleineren, Bildnisse buddhistischer Heiliger beherbergt haben. Wie jammerschade, daß von allen diesen Bildwerken keines mehr übrig ist! denn was wir hier von Skulpturen sehen, gibt uns eine hohe Vorstellung von dem Können des Meisters. Unbegreiflich, daß sogar das Hauptbild, die Buddhastatue, so spurlos verschwinden konnte!

– Das werden wir Ihren Freunden, den Brahmanen, zu verdanken haben, sagte Kala Rama. Aber ewig bedauerlich ist es, denn es soll in der Tat ein Meisterwerk gewesen sein und muß sich in der Nische besonders herrlich ausgenommen haben. Der Buddha war dargestellt, wie er unter dem Bobaum saß, dessen silberne Äste und smaragdenes Laub den Hintergrund ausfüllte, während Blumen, aus Edelsteinen hergestellt, den Boden bedeckten, welchen er mit den Fingern der linken Hand berührte.

Amanda nickte schweigend und starrte vor sich hin, als ob das ganze Bildwerk vor ihr aufstiege. In der Tat meinte sie sich zu erinnern, daß jenes Bild in der Stupanische, das sie erwähnt hatte, genau dieser Beschreibung entspräche, wiewohl sie sich keineswegs sicher fühlte, daß ihre Phantasie ihr nicht hierbei einen Streich spielte.

– Das muß ja aber wahrhaft wunderbar gewesen sein! rief Professor Eichstädt aus. Und welch herrliche Zeit für den Künstler, da er ein so reiches Kunstwerk hier aufstellen durfte.

– Gewiß eine schöne und stolze Zeit, sagte Kala Rama, aber auch eine sehr beschäftigte Zeit. Denn nicht nur hatte er damals noch den Palast Ajatasattus unter Arbeit, sondern im Haine der Nonnen ließ ihn gleichzeitig der Fürst eine neue Vihara bauen, eine schöne Versammlungshalle, die zwar nur aus Holz errichtet war, aber reich mit Schnitzwerk geziert. Jene Gruppe von Mangobäumen dort soll ein Überrest des heiligen Haines sein, so daß seine Arbeitsstellen nahe genug aneinander waren. Er besuchte sie täglich, überall ein Auge habend, und bei diesen Besichtigungen war Amara seine stete Begleiterin. So kam es, daß der Prinz Ajatasattu reichlich Gelegenheit hatte, sie zu sehen und zu bewundern, und bald in Liebe für sie erglühte.

– Und die Fürstin liebte er auch noch? fragte Amanda.

– Er liebte sie, wenn auch auf andere Weise, antwortete Kala Rama. Jedenfalls erlitt sein Verhältnis zu ihr keine Veränderung. Wenn nun dies Verhältnis schon an sich ein Verbrechen war, so schien es noch weniger entschuldbar dadurch zu werden, daß er der Fürstin nicht einmal treu blieb, sondern sich schon nach kurzer Zeit in eine andere verliebte. Und doch: wäre er nicht besser gewesen, als er schien, dann wäre er in diesen zweiten Fehler nicht verfallen, so sonderbar und widersprechend auch diese Behauptung klingen mag.

– O, ich glaube wohl zu verstehen, wie Sie das meinen, Exzellenz, sagte Amanda. Unter all dem Milden und Finsteren wohnte in der Tiefe seines Wesens gleichsam eine andere, lichtere und reinere Seele, und diese war es, mit der er Amara liebte.

– Sie haben recht, Memsahib, das ist genau was ich meine, antwortete Kala Rama. Was sollen wir nun aber sagen, wenn wir erfahren, daß auch Amara sein Gefühl erwiderte, und daß in kurzer Zeit eine heftige Liebe zu dem Prinzen in ihr entbrannte. Müssen wir auf ähnliche Weise schließen, daß unter der lichten Seele ihres Wesens eine trübe und wilde wohnte, die sich durch das Furchtbare im Wesen des Prinzen angezogen fühlte?

– Das wollen wir nicht hoffen, sagte Professor Eichstädt, und das scheint mir mit dem Bilde, das Sie uns von Amara gegeben haben, wenig zu stimmen.

– Und was meint denn unser weiblicher Berater? fragte Kala Rama mit einem prüfenden Blick, der Amanda vor Verlegenheit erröten ließ. Ich sollte denken, daß Sie, Mem Amanda Sahib, am besten imstande wären, uns hierüber Aufschluß zu geben, indem Sie sich an die Stelle jener Amara versetzen und gleichsam ihre Seelenschwingungen miterleben.

– Ich glaube, versetzte Amanda nach kurzem Zögern, daß es in jedem von uns zwei solche Seelen gibt, und daß das wilde und stürmische Element in Ajatasattus Natur gar wohl einen verhängnisvollen berauschenden Anziehungszauber üben könnte auf ein junges Mädchen, den Sproß eines Kriegergeschlechtes und das Kind eines Künstlers, in der es bei aller Zartheit wohl auch eine abenteuerliche Ader gegeben hat, und die gewiß nicht zu jener Menge gehörte, »die ihre Segel nie dem Sturme hißten«.» die ihre Segel usw.«, Shelley (Adonais). Es sind ja auch Kräfte, die sowohl in den Dienst des Guten wie des Bösen gestellt werden können, und gewiß wird Amara sie auf die günstigste Weise gedeutet haben – günstiger als sie verdienten. Aber sollte die Hauptsache doch nicht die sein, daß die Blindheit der Liebe, über die ja viel geklagt wird, zugleich hellseherisch macht, und daß Amara dadurch jenes den anderen verborgene Lichtelement im Herzen Ajatasattus gewahr wurde? Und wenn das der Fall war, müßte sie dann nicht sich selber das Gelübde ablegen, es von der Knechtschaft zu erlösen und zur Herrschaft zu bringen? –

Kala Rama nickte ihr freundlichen Beifall zu, bevor er aber etwas sagen konnte, kam ihm Arthur zuvor. Der junge Mann hatte, als Amanda diesem psychologischen Problem gegenübergestellt wurde, sie mit erwartungsvoller und ängstlicher Spannung beobachtet, die nicht wenig dazu beitrug, ihre Verlegenheit zu steigern; und sein Gesicht verfinsterte sich zusehends, während sie ihre Meinung aussprach.

– Ich kenne ja nicht die Personen, von denen hier die Rede ist, sagte er mit etwas belegter Stimme; nach dem Wenigen aber, das ich habe andeuten hören, glaube ich, daß das Mädchen sich in einen gefährlichen Irrtum verstrickte. Und wenn sie sich selber ein solches Gelübde ablegte, möchte ich allerdings mit der weltklugen Königin in Hamlet sagen: »Die Dame, dünkt es mich, verspricht zu viel.«

– Sagen Sie das nicht so sicher, Sahib! antwortete Kala Rama. Die Weltklugheit kommt oft zu kurz, wenn sie entscheiden will, was Glaube, Liebe und Begeisterung vermögen oder nicht vermögen. Jedenfalls wollen wir uns gern mit der Doppel-Erklärung Mem Amanda Sahibs zufrieden geben, die mir auch in der Tat das Richtige zu treffen scheint. Jetzt dürfte es aber Zeit sein, daß wir uns auch den Palast des Prinzen ansehen, von dem sich freilich nicht so viel hat erhalten können wie von diesem einfachen und geschlossenen Bau.

Sie gingen nach dem Palast hinüber, dessen Frontseite, wie Kala Rama ihnen zeigte, gerade nach der Stupa gerichtet war – obwohl freilich das wirkliche Verhältnis das umgekehrte war; denn als Fürst Narada sah, daß sein Bruder seinen Palast hier aufführte, wählte er für die Stupa, deren Errichtung er schon längst im Sinne hatte, gerade diesen Platz, in der Hoffnung, daß der Anblick dieses herrlichen Buddhabildes auf das Gemüt seines Halbbruders mildernd und erbauend einwirken würde. Zugleich aber sollte auch dieses kleine Heiligtum auf den Eintritt in den heiligen Hain der Nonnen vorbereiten und eine kleine Andachtsstation vor demselben bilden.

Die wenigen Räume des Palastes, die man noch unterscheiden konnte, waren bald durchwandelt. In dem zweiten, einer größeren Halle, von welcher noch eine ganze Säulenreihe aufrecht stand, machte Kala Rama sie auf die Spuren eines niedrigen Podiums aufmerksam, das für die Bajaderentänze bestimmt war, wenn der Prinz vornehme Gäste unterhielt; was allerdings, wie er hinzufügte, nur einmal geschah.

Nun standen sie wieder auf dem kleinen Landungsplatz, wo die Gondel des Ministers etwas seitwärts an den Säulen angebunden lag.

– In jener Zeit, sagte Kala Rama, ging das Wasser freilich nicht bis hierher, sondern ein jedenfalls nicht sehr breites Stück Garten erstreckte sich nach dem Seeufer hin.

– Ich denke, es muß malerischer so sein, meinte Arthur.

Es war in der Tat ein prächtiger Anblick.

Links der Palastberg, steil aus dem See emporragend, auf dessen Fläche er seinen Schatten legte, landeinwärts terrassenförmig abfallend. Gerade über seinem zinnengeschmückten Gipfel der Vollmond, dessen im Wasser zu ihren Füßen schwimmendes Bild wie ein großes Auge blinzte und sich manchmal beim starken Blinzen zerteilte, wobei dann der goldige flackernde Widerschein den verstümmelten Göttern und Nymphen, die aus Säulennischen hervorlugten oder von den Kapitälen herunter lächelten, ein seltsames Leben verlieh. Hinter ihnen und zu beiden Seiten die von solchen Bildwerken belebten, stämmigen, tief kannelierten und gurtförmig eingeschnittenen Säulen – einige im Wasser stehend, viele abgebrochen, andere ihre trägerförmigen Kapitäle in die leere Luft emporhebend; hier ein paar durch das Gebälk verbunden, dort eine kleine Gruppe, die drei Viertel einer niedrigen Kuppel trug; in dieser – wie eine Feder am Helm – ein großer Busch, auf dem Gebälk hohes Gras, um die Säulenschäfte Lianen, niederwallende Schleier von Stengeln, Blättern und seltsamen Blumen.

Weiter links, auf der Wiese außerhalb der Ruinenhalle, als Rest alter Waldherrlichkeit, ein paar mächtige Banyanbäume, deren dunkle Kronenmassen, wie auf hundert Stelzen sich immer weiter hervorwagend, sich nach allen Seiten ausbreiteten, während neue Luftwurzeln überall wie Schlangen hinunterbaumelten. Rechts eine Gruppe Magnolien – welche wie Bittsuchende unzählige weiße Hände nach dem See ausstreckten, oder wie Opferbringende rote, weißgefütterte Porzellantassen neigten. Dann die durch das Tal wie ein dunkler Fluß niederwallenden Dschangeln und hier und da eine schräge Palme, gleich einem langen neugierigen Straußhals. Endlich, darüber hinaus, dämmerndleuchtende Gebirgsformen, die wie aus Perlmutter gebaut sich anhäuften, bis sie sich auflösten in demselben Silberglanz, der auch die mattleuchtende Fläche des Sees in sich sog.

Die linde Luft war schwer gesättigt vom süßen Duft der Magnolien und von dem bittern Mandelgeruch der zahllosen Lotusrosen, die auf dem Wasser im Vordergrund schwammen oder sich darüber erhoben, aber auch labend durchtränkt von der Frische, die einer großen Süßwasserfläche entströmt. Ab und zu wurde die tiefe Stille durch den melancholischen Schrei einer Nachteule unterbrochen, und von weit, weit her ertönte bisweilen das heisere Bellen eines Panthers.

– Nein sieh, rief Amanda und zeigte nach links, wo hinter den bis an das Wasser herabhängenden Zweigen eines blühenden Gebüsches ein kleines Licht sich langsam vorwärts bewegte, bis es schließlich ganz in den See hinausglitt.

– Ach, das ist ja ein Irrlicht, meinte der Professor. Ich habe noch nie ein solches gesehen, aber ich habe mir sie freilich in lebhafter Bewegung gedacht, hüpfend und spielend wie die unartigen Irrlichter in Goethes Märchen, die sogar dem Fährmann den Kahn umzuwerfen drohen. Aber in diesem Land der stillen Medition scheinen sie sich ganz beruhigt zu haben.

– Es ist kein Irrlicht, Vater, es ist ein schwimmendes Lämpchen – eine Lackshmilampe.

Der kurzsichtige Professor, der nur eine unmittelbar auf dem Wasser schwimmende Flamme gewahrte, schüttelte ungläubig den Kopf.

– Nein, da geht wohl deine Phantasie mit dir durch, liebe Amanda. Und das wäre wohl auch eine gar zu große Gunst des Zufalls, uns gerade heute das zu zeigen.

– O, Ihre Tochter hat schon recht, sagte Kala Rama. Das ist in der Tat ein solches Lämpchen, das irgendein Mädchen der Lackshmi opfert.

– Nun, das muß ich sagen, rief Professor Eichstädt, nicht nur die Szenerie jener wundervollen Sage wird uns heute Abend gezeigt, sondern auch diese uralte, märchenhafte Sitte selbst. – Das ist eben auch nur in Indien möglich, wo nicht nur alles wiederkehrt, sondern auch alles sich erhält.

– Aber wo bleibt nur das Mädchen? fragte Kala Rama, – denn eigentlich müßte sie ja schon, dem Lämpchen folgend, draußen stehen und in die Hände klatschen vor Freude, weil die Göttin ihr Opfer annimmt und ihr Gebet gewiß erfüllen wird.

– O nein, nein, Exzellenz, wandte der Professor ein, das ist ja weit besser so! sonst wäre es nicht eine so vollständige Illustration: denn auch Mahamaya kam ja nicht so weit, sondern vergaß ihres Lichtschiffleins und blieb drinnen im Dunkeln – und zwar nicht ganz allein.

Dies mochte wohl von den Lippen des ehrbaren Professors als eine etwas verfängliche Bemerkung anmuten. Aber es ist zu berücksichtigen, daß die Begebenheit, worauf er hindeutete, vor mehr als zwei Jahrtausenden sich zugetragen hatte, in welchem Fall das Patina der Säkel alle Nacktheiten schonend überdeckt; so zwar, daß es sogar manchmal den Anschein hat, als ob solche altertümlichen Liebschaften nur den dezenten Endzweck hätten, daß ein Professor Eichstädt und seine Kollegen sie in der Fülle der Zeit kritisieren, edieren, kommentieren und annotieren können.

Arthur hatte mit starren Augen das schwimmende Lichtboot betrachtet. Hatte er doch über Amanda und die herrliche Mondlandschaft, die er in ihrer Gesellschaft genoß, schon gänzlich vergessen, wie er hierher gekommen war; und diese stille, leuchtende Botschaft erinnerte ihn nur zu lebhaft daran.

Er fühlte den Blick des Mädchens auf sich ruhen – einen Blick, dem er sonst gerne genug begegnete; jetzt aber wandte er sofort wieder den seinen ab von dem ihren, der ihn forschend, ja gedankenlesend durchleuchtete, während er etwas von uralten, poetischen Sitten der Inder murmelte. War es möglich, daß sie etwas ahnte, daß sie das Geheimnis der Lackshmilampe erriete? Wie aber war das denkbar?

Er wußte ja nicht, welchen Schlüssel die Geschichte der Vorzeit in ihre Hand gelegt hatte.

Als er sich wieder getraute, sie anzublicken, erschrak er über ihre Leichenblässe. Sie lehnte sich in matter Stellung an die mächtige Säule, und ein Frösteln überlief ihre Gestalt vom Scheitel bis zum Fuß.

– Mein Gott, Fräulein Eichstädt, was ist Ihnen? Sie erkälten sich gewiß. Es zieht wirklich ein wenig am Wasser jetzt. Lassen Sie mich Ihnen doch einen Shawl holen.

Und er sprang schnell nach dem Boot.

Mit Anstrengung riß Amanda ihren Blick von dem schwimmenden Lämpchen los, das nun ganz still auf dem Wasser lag, die Flamme unbeweglich nach oben und nach unten streckend.

– Sie haben mich sehr neugierig gemacht, Exzellenz, mit dem, was Sie vorher von den drei Reiherrufen sagten. Wäre es sehr vermessen von mir, Sie zu bitten, uns hier an Ort und Stelle etwas davon zu erzählen?

– Wenn ich Ihnen damit einen Gefallen tun kann, antwortete Kala Rama freundlich, will ich herzlich gerne weiter erzählen.

Die Plaids, welche die gute Bärbele so sorgfältig im Hintersteven der Barke in Sicherheit gebracht hatte, wurden geholt, und da es hier keine geeignete Stelle gab, um sich gesellig niederzulassen, kehrte man zur Frontseite des Palastes zurück. Die Stufen, die zum Stupaplatz hinunterführten, bildeten hier eine bequeme Reihe von niederen Bänken. Diese wurden mit den Plaids bedeckt, und alle machten sich's bequem.

Kala Rama setzte sich auf die oberste Stufe und lehnte sich an einen Säulenstumpf. Mit dem ihm eigenen Zartgefühl bat er Arthur, neben sich Platz zu nehmen, damit dieser sich ja nicht als einen nur geduldeten Eindringling fühlen sollte. Der junge Schotte tat das um so lieber, als er auf diese Weise Amanda gerade vor sich hatte. Das volle Mondlicht strömte über sie nieder, seltsam glänzte in ihrem dunklen Haar der große, gelbe Edelstein, den Arthur erst jetzt dort bemerkte und mit einem gewissen Mißbehagen wiedererkannte.

Garuda rollte sich zu ihren Füßen zusammen und schien mit seinen winzigen spitzen Ohren begierig das weitere von jenem furchtbar großen Schlangenstein zu vernehmen.

– Herr Steel hat nun freilich leider nicht den Anfang gehört, bemerkte Amanda.

– Er kommt medias in res, meinte der Professor, wird sich aber wohl leicht zurechtfinden.

– Ich glaube auch, sagte Kala Rama, um so mehr, als alles, was ich Ihnen vorlas, doch eigentlich nur die Einleitung bildete.


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