Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

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Drittes Buch

Die Lüftung des Schleiers

Schmuckblatt

Methinks we must have sinn'd in some old world
Byron

Erstes Kapitel

Im Gartenkiosk

Amanda saß in dem kleinen Gartenkiosk. Neben ihr, auf einem eingelegten Tischchen, stand der elfenbeinerne Schrein – geöffnet; die Manuskriptblätter waren in ihrer Hand.

Sie war spät erwacht und hatte keine körperliche Müdigkeit verspürt, wohl aber eine unheimliche Unruhe und Angst. Vor allem aber war es ihr, als ob es für sie das Leben gälte, alles von jener Amara und von dem Schicksal Ajatasattus zu erfahren. Zu ihrem größten Leidwesen fand sie, daß ihr der Vater zuvorgekommen war und selbst in Kala Ramas Manuskript las. Gewiß hätte er es ihr gerne überlassen, wenn sie ihn darum gebeten hätte, aber sie schämte sich – oder war es ein anderes Gefühl, das sie daran hinderte, sich das atemlose Interesse an jenen Vorgängen in längst vergangener, fast sagenhafter Zeit anmerken zu lassen? Sie fühlte nur, daß sie nicht imstande war, selbst mit ihrem Vater davon zu sprechen, und so mußte sie sich gedulden, indem sie sich damit tröstete, daß die Zeit, die Professor Eichstädt der leichteren Lektüre einräumte, eine äußerst beschränkte war.

Es schien nun freilich zu ihrer wachsenden Enttäuschung, daß der Professor bei dieser Sache eine Ausnahme machte. Als sie aber endlich – wie sie wohl zum zehntenmal in das Studierzimmer hineinguckte – den Gelehrtenkopf zwischen Palmblättern und Wörterbüchern vergraben sah, schnappte sie mit räuberischer Geschwindigkeit den elfenbeinernen Schrein und eilte damit nach diesem Zufluchtsort, den sie sich schon ausgewählt hatte, weil Bärbele noch immer im Begriff war, das Zimmer der Siebenschläferin in die sauberste Ordnung zu bringen.

Sie stand sich gut bei diesem Tausch. In dem kleinen, nach allen Seiten offenen Kiosk, der fast über den See hinaushing, war es an diesem ausnahmsweise nicht drückend heißen Tag frischer als sonst wo. Eine leise, kühle Brise atmete aus einer sonst fast immer verschlossenen Gegend der Windrose und hatte freies Spiel an dieser hervorstehenden Ecke des Gartens, wo der Hügel schroff nach dem See abfiel. Sie kräuselte sogar die Wasserfläche, kleine Wellen plätscherten mit monotonem, wohltuendem Klang am Ufer, und der Widerschein ihrer Sonnenblinke durchzog wie ein unaufhörlicher Schwarm von aufwärts flatternden, kristallenen Flämmchen den vom Dämmerlicht erfüllten kleinen Raum, während an den fortwährend bewegten Bambus-Vorhängen die kleinen Rohrstücke mit zartem Rasseln aneinander schlugen.

Mit dem leisen Anschlag der Wellen mischte sich das ununterbrochene Blätterlispeln der Pipalbäume, die den Kiosk in ihren leichten Schleierschatten hüllten – dies Säuseln, von welchem der buddhistische Mensch so gern seine Meditation begleiten läßt. Denn der Pipal, »der religiöse Feigenbaum« ist jener »Bobaum«, unter dem einst der Buddha die Erlösung errang, und sein rastloses Säuseln symbolisiert dem Mönch den Strom des Werdens, aus dem der Meister emportauchte und aus dem er selber emportauchen soll. So mag wohl der ruhelose Lärm des Samsara in das Nirvana hinübertönen und gleichsam seine Ruhe vertiefen. Der Tochter des gelehrtesten Indologen war dieser Umstand natürlich kein Geheimnis, und sie liebte darum nur umso mehr diesen an sich schon lieblichen Laut, der auch ihre Träume so oft begleitet hatte. Aber einen Ton ganz anderer Stimmungsart brachte eine Cinnamum-Taube hinein, die oben am Rande der niedrigen Kuppel wie ein kleiner brauner Klumpen saß und das ihr eigentümliche zärtliche Girren ertönen ließ, dem sie ihren englischen Namen verdankt: » Do-you-love-too«.

Amanda hatte ein paar Stunden früher als gewöhnlich ihren Lieblingsplatz aufgesucht. Die Stadt war noch ziemlich still; nur ein undeutliches Summen, gleich dem eines Bienenkorbes drang von dort herüber. Auf den Ghats bewegten sich nur wenige farbige Punkte. Der Turmschatten auf der Frontmauer von Kala Ramas Haus war noch ganz schmal, auch war er nicht so violett und die Mauer nicht so orangegoldig wie sonst. Auch das andere Wahrzeichen der Stadt mutete das Mädchen anders denn gewöhnlich an: blutiger und prächtiger schien ihr die hohe Kuppelgruppe des Kalitempels herüber zu grüßen; und in der Tat hatte man auch zum gestrigen Fest die Lackfarbe der Kuppeln aufgefrischt und verblichene Sternchen neu vergoldet.

Aber nur einen flüchtigen Blick warf Amanda nach der Stadt hinüber, denn sie hatte kaum noch anderthalb Stunden übrig, bis es Zeit war, sich für das Fest des Raja anzuziehen. Immer wieder hatte Bärbele ihr eingeschärft, wie wichtig es sei, daß diese Operation mit der rechten Andacht vollzogen würde, und daß man vor allem nicht zu spät damit anfangen möge.

So durchblätterte sie denn mit fieberhaftem Eifer den Teil des Manuskriptes, der das gestern Erzählte enthielt. Ja, hier war es – das Blatt zitterte in ihrer Hand: – Amara schwang sich in die leere Nische hinauf – der Prinz und der schreckliche Schwarze umschritten die Stupa, um sich zu vergewissern, daß niemand dort sei – sie begegneten sich zu den Füßen des in der Nische sitzenden Mädchens, das sie ohne weiteres für ein buddhistisches Heiligenbild hielten. – Nun kommt es! – – –

Und während draußen die heiligen Bobäume das geheimnisvolle Säuseln ihres ewig zitternden Laubes ertönen ließen, jenes Säuseln, das dereinst das Auftauchen der Heilswahrheiten im Gemüte des Buddha begleitet hatte; und während das Täubchen oben in der Wölbung von Zeit zu Zeit seine zärtliche Frage girrte: do you love toodo you love too: – vertiefte Amanda sich in das Schicksal Amaras.


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