Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

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Drittes Kapitel

Der Webstuhl des Karma

Der Rajapalast war in der unterdessen eingetretenen Dunkelheit fast verschwunden. Nur ein großer eckiger Schatten zeigte, wo jene indische Schlange hauste. Und in diesem Schatten verborgen schien sie noch lauernder, noch giftiger zu sein.

Von der drohend finsteren Zukunft zurückgeschreckt, fingen Amandas Gedanken von selber an, sich der Vergangenheit zuzuwenden. Zuerst der nächsten Vergangenheit. Sie gingen den einzelnen Gliedern nach, die sich zu dieser eisernen Kette der Notwendigkeit zusammengefügt, zu dieser Gegenwart geführt hatten.

Da mußte es ihr nun auffallen, wie sich unter ihnen doch so viel Zufälliges befände, so vieles, was beinahe eine andere Richtung genommen hätte, wodurch sich dann das Ganze völlig anders gestaltet hätte. Ja, wenn nur ein einziges dieser Glieder seine ursprünglich eingeschlagene Richtung beibehalten hätte, dann wäre diese Gegenwart nicht herausgekommen, ja nicht einmal eine, die ihr irgendwie ähnlich sähe.

Ihr Vater hatte sich eigentlich der Philosophie widmen wollen; nur der Umstand, daß sich für einen Sanskritisten viel bessere Universitätsaussichten eröffneten, hatte ihn bestimmt, sich mit seiner ganzen Kraft auf das damals noch so junge Sanskritstudium zu werfen, mit dem er bisher nur wegen dessen neuen philosophischen Inhaltes geliebäugelt hatte.

Sir Edmund war im Begriff sich nach Amerika zu begeben, als eine Ansicht von Benares einen solchen Eindruck auf ihn machte, daß er sich entschloß, anstatt nach den nordamerikanischen Staaten sich nach Indien zu begeben – Kala Rama endlich hatte schon ein Schreiben an einen englischen Professor aufgesetzt, als eine Zeitschrift mit einer Abhandlung von Professor Eichstädt ihm in die Hände kam und irgend etwas in diesem Aufsatz ihm so sehr gefiel, daß er sich entschloß, lieber diesen deutschen Gelehrten für sein Vorhaben zu werben.

Aber wie? hatte nicht Schillers Wallenstein doch recht mit seinem: »Es gibt keinen Zufall«?

Wenn aber keine einzige von diesen anscheinend gleichgültig schwankenden Einzelheiten zufällig diesen Weg genommen hätte, wenn alle einander suchten und fanden, um gemeinsam einem einzigen Ziele zuzustreben, um zusammen ein einheitliches Muster zu weben; – welches war dann dieses Ziel? Welchen Sinn hatte das Muster, an welchem auch sie mitwob und in welches sie verwoben wurde? War es die gütige Vorsehung Gottes, die alles dies zum besten lenkte, wie sie in der Schule gelernt hatte? oder war es, wie dies alte Land der Weisheit lehrte und vor den Zeiten europäischen Denkens schon gelehrt hatte, das Karma, ein ewiges Moralgesetz, das alles leitete? War alles dies lediglich die unaufhaltsame Selbstbewegung unserer eigenen Taten?

Ihr Vater meinte zwar, daß er um des Brotes willen Indologe geworden sei; aber vielleicht war dies nur ein Vorwand für seine Vernunft gewesen, und er hatte in Wirklichkeit das Sanskrit gewählt, weil ein geheimer innerer Trieb ihn zu dieser Sprache hinzog – etwa, weil er sie einst gesprochen habe?

Sie mußte an die Platonische Lehre denken, daß alles Lernen Erinnern sei. Ihr Vater hatte ihr oft diesen Satz in seiner ganzen Bedeutung entwickelt. Sie wußte auch, daß er eine Lieblingsidee Shelleys war. Wie gegenwärtig war ihr der Abend auf dem Ganges geblieben, wo Edmund ihnen die Geschichte von seinem extravaganten Dichterfreund und dem Bambino erzählte. Sie hatten einen ganzen Tag Platon zusammen gelesen – das heißt, Shelley hatte aus Platon übersetzt, denn das bißchen Griechisch, das Edmund gekonnt, war längst verdunstet – und gingen gegen Abend aus, um die herrliche Luft am Lung Arno zu genießen. Als sie über eine der Marmorbrücken kamen, stand eine arme Frau dort mit einem kleinen Jungen auf dem Arm. Shelley nahm ihr plötzlich das Kind ab und hielt es vor sich hin, zum größten Schrecken der Mutter, die wohl befürchten mochte, der seltsame Inglese mit dem bloßen, von wilden Haaren umflatterten Kopf sei ein Verrückter, der ihr Kind in den Fluß werfen wolle, weshalb sie es krampfhaft an seinem Hemdchen festhielt. »Will Ihr Bambino uns etwas von der Präexistenz sagen, Signora?« fragte Shelley. »Er kann nicht sprechen, Signor«, antwortete sie. «,O, das glaubt er vielleicht, aber er könnte schon.« »Er ist nur ein paar Wochen alt, Signor«, meinte die Mutter entschuldigend. »Eben deshalb! Er kann noch nicht das Sprechen vergessen haben. Es ist undenkbar!« antwortete der Poet und gab ihr das Kind zurück. Und mit komischer Entrüstung rief er aus, während er mit seinen langen Schritten vorwärts eilte: »Es ist zum Verzweifeln, wie verstockt diese Säuglinge sind! Und doch ist es gewiß, daß er vor wenigen Wochen vieles wußte, das wir in unseren Lebtagen nicht erfahren und am allerliebsten wissen möchten.«

So war sie denn mit dieser Idee so vertraut, daß sie manchmal mit ihr spielte. Eines Abends war über Shakespeare viel gesprochen worden, und sie hatte zuletzt geäußert, man könne sich, zumal in diesem Lande, seine erstaunliche Mannigfaltigkeit so erklären, daß er ein Wesen sei, das schon die verschiedensten Menschenleben hinter sich habe, so daß er sich nur zu besinnen brauche, um aus eigenster Erfahrung zu wissen, wie ein Krieger, ein Kaufmann, ein Clown, eine Desdemona und ein Falstaff, ein Prospero und ein Caliban dachte und handelte. Jetzt dachte sie – und sie mußte bei diesem Gedanken lächeln: – »Vielleicht hat der Vater einst die Felseninschriften eingehauen, die er nun mit solcher Sicherheit dechiffriert.«

Und noch eine andere Seite bei dieser Wahl ihres Vaters fiel ihr auf. Vielleicht hätte er es doch vorgezogen, frei im weiten Gebiete der Philosophie umherzuschweifen, wenn er ein von den Anforderungen des bürgerlichen Lebens unabhängiger Mann gewesen wäre. Er war aber fast ohne Vermögen, und er war verliebt, ja er war sogar heimlich verlobt, und zwar mit einem Mädchen aus adeliger Familie, die ebenso stolz wie wenig begütert war und große Hoffnung auf eine reiche Partie für die einzige, sehr hübsche Tochter setzte. Er mußte sich also baldmöglichst eine Stellung erkämpfen. Auf dem Wege der Indologie waren ihm die wärmsten Empfehlungen August Wilhelm von Schlegels gesichert, dessen Kollegien er in Bonn besucht hatte und der sich lebhaft für ihn interessierte. Dies gab den Ausschlag. Mit seinem eisernen Fleiß, der von einer robusten Gesundheit getragen wurde, vollbrachte er Wunder: in ein paar Jahren hatte er seine Professur und sein Mädchen. Wenn es nun aber im Leben eines Mannes etwas gibt, das nicht äußerlich und zufällig ist, so ist es die heftige Liebe zu einer bestimmten Frau. – Und in dieser Liebe lag schon ihr eigenes Dasein mit seinen individuellen Merkmalen, mit ganz bestimmten Fähigkeiten, Anlagen und Beschränkungen vollkommen beschlossen!

Dann war Edmunds anscheinend zufälliger Entschluß da, nach Indien anstatt nach Amerika zu gehen. Hatte er aber nicht selber angedeutet, daß der Anblick eines Benaresbildes in einem Prachtwerk gewiß nicht diese Wirkung auf ihn hätte ausüben können, wenn er nicht das Blut einer Hinduprinzessin in seinen Adern gehabt hätte? Dies lautete nun freilich rationell genug; kein noch so hart gesottener Empiriker und Naturwissenschaftler könnte etwas dagegen haben. Aber war dies nicht vielleicht nur die äußere Hülle? Könnte auch hier nicht ein innerer Zusammenhang wirken, den man kaum zu ahnen vermochte? War er vielleicht das Kind jener Begum und eines abenteuernden Engländers, weil sein innerstes Wesen, der Niederschlag früherer Taten, gerade solche Bedingungen für seine Verkörperung brauchte, gerade diese Mischung vom Morgen- und Abendland: die träumerische, zigeunerhaft schweifende Phantastik, gepaart mit der zähen und doch heftigen Energie des Westens, Sachsentum mit starkem keltischen Einschlag? denn schon das » Tre« seines Namens gemahnte ja daran, daß er zu den Cornwall-Männern gehöre.

Und nun Kala Rama, der ihren Vater zu jenen Felseninschriften hingerufen hatte!

Bei Kala Rama fing für sie überhaupt das Mysterium erst recht an. Wie wunderbar war die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Vorfahren des Altertums, Mahimsasa! So zwar, daß sogar die Worte, die Amanda nach der ersten Begegnung mit ihm ihrem Vater gegenüber gebraucht hatte, sich bei dem alten Chronisten fanden: Mahimsasa sehe eher wie ein Sannyasin, denn wie ein Feldherr aus. Freilich würde auch hier der Naturforscher mit seiner Erklärung schnell bereit sein – mit einer, die nicht die ihrige war. Vor ihrem bohrenden Blick schienen in der Person Kala Ramas die Wurzeln der gegenwärtigen Dinge bis in die graue Vorzeit hinabzureichen. Und waren etwa in jenen Tiefen die Lebensfasern des Indologen mit denen des Inders verflochten? Hatte vielleicht irgendein Ausdruck, eine stilistische Wendung – von denen, wo »der Mann im Stil ist« – in jenem Aufsatze bei dem indischen Minister dunkle Erinnerungen, träumende Sympathien wachgerufen, die ihn für den deutschen Gelehrten anstatt für den näher liegenden Engländer entschieden?

Als Amanda sich diese dreiste Frage stellte, besann sie sich darauf, daß jener Aufsatz nicht von ohngefähr in die Hände des Ministers gekommen sei. Er war ihm übergeben worden, und zwar von einem Freunde, den Kala Rama seinen Guru, seinen geistigen Führer nannte. – Wer mochte wohl diese jedenfalls sehr hervorragende Persönlichkeit sein, die hier so entscheidend eingegriffen hatte? Welche neue, geheimnisvolle Beziehungen konnten sich nicht hier verbergen!

Wie dem nun auch sei, wie auch alle Faktoren sich zusammengefunden haben mochten: – sie wirkten und woben unaufhaltsam.

Was wirkten, was woben sie?

Amanda blickte wie fragend in die Nacht hinaus.

Auch die Schattenmasse des Palastes hatte sich jetzt im Dunkel aufgelöst; sie verriet sich nur dadurch, daß drüben keine Sterne zu sehen waren.

Amanda versuchte noch, ein durchschnittenes Sternenbild ergänzend zu erkennen – da war es plötzlich helles Tageslicht. Sie befand sich draußen vor der Hindustadt, wo sie öfters die Weberinnen an ihrer Arbeit beobachtet hatte. Gerade vor ihr streckte sich der primitive Webstuhl, eine lange Reihe von schief in die Erde gepflanzten Tigergrasstengeln, zwischen welchen die Kette des Gewebes sich ein- und ausschlängelte. Auf jeder Seite ging ein Hinduweib hin und zurück, – ihre Rockfalten flatterten seitwärts, ihre Schleier bauschten sich, während die schön geformten Arme, blank wie Bronze, die auf langen Stöcken befestigten Schifflein durch die Kette führten; dazu sangen sie ein wildes, melancholisches Lied. – Es war die Ballade von Juggurt; und in ihr Singen mischte sich bisweilen das gedämpfte Gebrüll einer der höckerigen Büffelkühe, die ringsum auf der mit Backsteinbröckeln bestreuten Erde ihr sparsames Futter suchten. Das war alles, wie sie es so oft gesehen; – nur pflegten die Frauen nicht bei ihrer Arbeit zu singen, sondern zu schwatzen. Eben wollte sie versuchen, ob sie hinlänglich Hindustani zusammenbringen könnte, um die Weberinnen zu fragen, ob Juggurt wohl noch immer ein Räuber sei, der Rajabräute entführe: da waren beide Weiber plötzlich verschwunden.

Aber die Kette des Webstuhles spannte sich noch vor ihr aus, zu beiden Seiten, oben und unten, sie erfüllte den ganzen Raum und schien an den Sternen befestigt zu sein – denn es war wieder Nacht, aber erleuchtet von den Farben des Musters in diesem unendlichen, lebendigen Gewebe. Und Amanda war selbst mitten drin, – war einer von den unzähligen Einschlagsfäden, die durch keine Hand geleitet und gezogen zu werden brauchten, denn sie waren beweglich und beseelt wie Schlangen, und wie von einem untrüglichen Instinkt geführt, suchte und fand jeder seinen Weg, um immer an der rechten Stelle im Muster zu sein. Aber Amanda steckte nicht nur als selbstwirkender Faden im Gewebe; sie befand sich gleichzeitig außerhalb desselben (obwohl es überall war): sie stand ihm gegenüber als schauendes Auge, überblickte das Muster und sah die nahen und fernen Bilder. Hier Amanda in der Sturzwelle auf dem Deck der Brigg, vom Arm Edmunds umfaßt; die Gesellschaft auf der Budgera vor Benares; Amanda und der Vater, der Vorlesung Kala Ramas lauschend; Amanda in der Cenana und die singende Rani: – dort: die kleine Amara in den Armen des heimkehrenden Mahimsasa; Amara als junges Mädchen vor einem herrlichen Kuppelbau, von hohen Bäumen umgeben, sitzend; und noch andere gar seltsame Amarabilder.

Und in dieser Zwiespaltung ihres Wesens in ein wirkendes und ein schauendes Teil – der Faden, der sie selber war – der durch die eine Bilderreihe sich ziehend emsig weiter am Muster wirkte, zugleich weit hinten in jene andere Bilderreihe verflochten war. Auch erkannte sie die anderen Fäden, die neben ihr herliefen und mit ihr zusammen wirkten: den grauen Faden, ihren Vater; den roten, Edmund; den schwarzen, die Rani; den silbernen, Kala Rama; den blauen, Arthur. Eben wollte sie den letzten fragen, woher er denn eigentlich käme, da in der anderen Bilderreihe doch kein blauer Faden verwoben sei, als ihre Aufmerksamkeit von einem prächtigen goldenen Faden in Anspruch genommen wurde, der ihren Weg kreuzte, als ob er allen Fäden eine neue, für das Muster entscheidende Richtung geben wollte. Goldig glänzte es ja auch überall dort hinten in der anderen Bilderreihe, und sie freute sich des reicheren Glanzes, der sich jetzt im Gewebe verbreitete, als dieser güldene Meisterfaden sich mit dem silbernen verschlang, und ihr eigener weißer den von ihnen vorgezeichneten dreisten Schwung mitmachen durfte.

Je eifriger sie aber im Gewebe mitwirkte, um das Neue, Ungeahnte hervorzubringen, um so mehr strengte sie sich an, um als Schauende das Entstehende zu erblicken.

Und sie sah, wie in der Mitte des ungeheuren Teppichs, durch Zusammenwirken aller Fäden, ein Menschenantlitz entstand und immer deutlicher wurde. Es war ein männliches Gesicht, aus dessen Zügen jene mit unaussprechlicher Milde gepaarte erhabene Ruhe leuchtete, die den besten Buddhabildern allein eignet, während der dunkle, geklüftete Bart dem Bilde zugleich etwas vom Christustypus verlieh, als ob Osten und Westen sich vereinigt hätten, um ein Idealbild heiliger Übermenschlichkeit zu schaffen.

Die Augenlider waren gesenkt, wie auf den Bildern des in innere Schauung versenkten Buddha. Allmählich aber lüfteten sie sich oder schienen vielmehr durchleuchtet zu werden von dem Blick, dessen geheimnisvolle Macht Amanda so innerlich empfand, daß nunmehr mit einem Male ihre traumhafte Zwiespaltung aufgehoben war, als ob ihr Wesen sich gewaltsam einigen müßte, um diese Einwirkung auszuhalten.

Sie sah wieder den Fensterrahmen, die Sträucher und Bäume des Gartens, die Sterne über ihren Wipfeln.

Aber das Gesicht war noch immer da.


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