Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

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Achtes Kapitel

Das Manuskript

In den Vorsaal hinaustretend, fand Kala Rama seine Leute und bei ihnen Professor Eichstädt, der sich's nicht wollte nehmen lassen, selbst den Minister in sein Zimmer zu führen.

Die ziemlich lange Wartezeit füllte der Professor durch ein Gespräch mit Kala Ramas Sekretär aus, einem jungen intelligenten Inder, den er freilich nicht so befestigt in der orthodoxen Vedanta-Philosophie fand, wie er es hätte wünschen können. Der Professor bestrebte sich eifrig, dem jungen Manne die Überlegenheit des ehrwürdigen Çankara über alle seine Widersacher darzutun und ihm einzuschärfen, den so wichtigen Unterschied zwischen der exoterischen und der esoterischen Betrachtungsweise – oder wie Çankara es nennt, aparâ vidyâ und parâ vidyâ, der niederen und der höheren Wissenschaft – ja nicht aus den Augen zu verlieren, sondern überall an der letzteren in ihrer ungetrübten Wahrheit festzuhalten und die buchstäbliche Schriftauffassung solcher Stellen, die von einem persönlichen Gott sprechen, den »langsamen Geistern« – wie Çankara sie nennt – zu überlassen.

Der junge Brahmane lauschte seinen beredten Worten mit höflichster Andacht in Miene und Haltung, während er sich mit Entsetzen überlegte, wie viele Waschungen er unternehmen und wie viele Sprüche er hersagen müsse, um nach diesen Berührungen seitens eines Çudra seine Kastenreinheit wiederzugewinnen. Denn in seinem Eifer ergriff der Indologe mehrmals die kleine braune Hand des Hindu, um sie zwischen seinen großen roten mit väterlicher Zärtlichkeit zu drücken.

Der Angst des solchermaßen gefährdeten jungen Brahmanen und der begeisterten Beredsamkeit des deutschen Gelehrten machte das Erscheinen des Ministers ein Ende. Er winkte den Sekretär an sich heran, zeigte ihm den Romal und setzte ihn durch ein paar bündige Sätze vollkommen in die Situation hinein – so vollkommen in der Tat, daß ein grauer Schatten über die helle Bronzefarbe seines Gesichtes fiel: daß die Thags in der Nähe der Stadt am hellen Tag sich gezeigt hatten, war eine Neuigkeit, die seine Kniee unter ihm schlottern ließ. Indessen anwortete er verneinend auf die ziemlich scharfe Frage Kala Ramas, ob ihm etwas fehle, und nahm mit gespanntester Aufmerksamkeit die Befehle entgegen. Er solle sofort mit dem Romal zum Polizeimeister gehen. Einige auserlesene Leute und – als wichtigstes Mitglied der Expedition – der beste Spürhund aus dem Jagdkoppel des Raja müßten so schnell wie möglich aufbrechen, um an Ort und Stelle die Spur aufzunehmen. Kala Rama zeigte ihm, wie der Rand der Schärpe an einer Stelle etwas zerrissen war – offenbar von den Aloedornen. An diesen müßten also noch einige Fäden hängen, so daß man den Hund mit der Schnauze auf die Fährte setzen könne.

– Nach menschlicher Berechnung, fügte Kala Rama hinzu, ist dann das Schicksal des Besitzers des Romals besiegelt: und es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß Kali einen Diener beschützen will, der sein heiliges Tuch im Stich gelassen hat. Die Leute mit dem Hunde müssen ihn aufjagen, wenn sie ihm auch bis in den Himalaya zu folgen haben. Du aber kehrst sofort zurück und stattest mir Bericht ab. Schicke mir das Boot her, denn ich will auf dem Wasserwege nach Hause zurückkehren, um die Abendkühle zu genießen.

Damit verabschiedete er den Sekretär und wandte sich an Professor Eichstädt mit einer Entschuldigung, weil er ihn wegen dringender Regierungsgeschäfte habe warten lassen, und mit der freundlichen Bitte, ihn nunmehr in sein gelehrtes Asyl geleiten zu wollen.

Das Zimmer, in das der Indologe und Kala Rama am Ende des Korridors eintraten, lag nach der entgegengesetzten Himmelsrichtung. Es war dunkler und weniger heiß als das Gartenzimmer, aber auch luftloser; und die Luft, die da war, hatte sich längst mit Gelehrtenstaub völlig gesättigt. Bücher aller Art standen und lagen nicht nur auf den Regalen, sondern so ziemlich überall, wo etwas stehen und liegen konnte. Kaum aufgeschnittene Broschüren, die nach Druckerschwärze, und eingebundene Bücher, die nach Leim rochen, alte stockfleckige Folianten, schimmelige Pergamente – offenbar Aktenstücke aus der Mogulperiode – und große Kartonrollen mit sorgfältig gezeichneten Abbildungen von Felseninschriften, alle hauchten sie je ihren charakteristischen Beitrag zur Bibliothekatmosphäre aus. Aber zwei Noten entschiedener orientalischer Natur hoben sich pikant in dieser Duftsymphonie hervor: der mumienartige Geruch der Palmblattmanuskripte und der beklemmende, süßliche Duft des Sandelholzes, das bald in Kästchen verarbeitet allerlei Dokumente umschloß, bald als einfache Bretterstücke jenen Palmblattschriften anstatt des Einbandes dienten. Der ruhende Orgelpunkt, ein Residuum alten Tabakqualmes, war allerdings unzweifelhaft okzidentalischer Klangfarbe; und in der Tat bezeugten einige langröhrige Pfeifen mit Porzellanköpfen, die in den Ecken lehnten, daß Professor Eichstädt noch immer seinen Studentengewohnheiten frönte, wie denn auch ein kostbar ausgestatteter Nargileh – alias hubble-bubble – der offenbar nur als Zimmerschmuck auf einem Seitentische stand, bekundete, daß diese unter dem indischen Himmel entschieden stilgerechtere Form des Tabakgenusses dem Indologen nicht mundete.

Als sie hineintraten, schien das Zimmer leer zu sein. Die beiden Anwesenden boten sich nicht dem ersten Blicke dar. In einer Ecke, wo einmal eine Schlange oder eine Ratte sich aufgehalten haben mochte, schnupperte Garuda herum. Mutmaßlich konnte seine Herrin nicht fern sein. Sie lag in der Tat auf einer niedrigen Bambusbank, kopfüber in einen Folianten gestürzt. Dies Werk, das sie mit einem Eifer studierte, der jedem Scholar Ehre gemacht hätte, war das verachtetste in der ganzen Bibliothek, der Tschandala im Reiche der Bücher, also das Hindostani-Lexikon. Freilich war der Zweck, den Amanda mit diesem Studium verfolgte, kein wissenschaftlicher. Sie hatte aus dem Gespräch zwischen Chandra Singh und seinem Vertrauten drei oder vier Wörter herausgehört und hoffte, wenn sie ihre Bedeutung feststellen könnte, dadurch vielleicht einer sehr wichtigen Sache auf die Spur zu kommen. Aber ihre Bemühungen waren bis jetzt vergebens gewesen und mußten es auch bleiben. Konnte sie doch nicht ahnen, daß sie diese Wörter in einem noch verächtlicheren Lexikon hätte suchen müssen: in dem des Ramassi, der Geheimsprache der Thags, das allerdings noch nicht aus der Bibliothek des Ministers in die des Professors hinübergewandert war.

Das Hereintreten des Vaters vermochte noch nicht das Mädchen in ihrer Untersuchung zu stören; als sie aber hörte, wie er Entschuldigungen hervorstammelte, weil Exzellenz das Zimmer in einer so schrecklichen Unordnung vorfände, fuhr sie erschrocken in die Höhe.

Eilig strich sie sich einige Haare, die sich aus der sorgfältigen Frisur gelockert hatten, aus dem Gesicht, glättete, so gut es ging, die nicht vorschriftsmäßigen Falten, welche das Kleid sich angeeignet hatte, und starrte mit hilfloser Reue auf einen verdächtigen Schatten vorne an der weißen seidenen Bluse. Denn sie war im vollkommensten dress, angezogen für den bevorstehenden Besuch bei der Rani. Freilich war sie in mehr als guter Zeit fertig; aber sie hatte die Stunde ausnützen wollen, wo Edmund, wie sie von ihrem Mädchen hörte, einen Besuch vom Minister hatte, und sie ihn also doch nicht sprechen konnte. Da sie jedenfalls ihre beabsichtigte Warnung vor der Fahrt nach dem Palast an ihn richten wollte, mochte sie nicht durch die leidige Operation des Angekleidet-werdens sich verhindert sehen, einen vielleicht einzig sich darbietenden günstigen Moment im Fluge zu erhaschen. Allerdings war nun das zarte Kleid nicht gerade für intime Beschäftigung im Studierzimmer des Vaters geeignet, und die Körperstellung, in der sie sich während der letzten Viertelstunde befunden hatte, war weder im Stil mit ihrem äußeren Menschen, noch war sie demselben förderlich gewesen. Aber derartige scharfe Konflikte zwischen Ausstaffierung und Betragen kamen bei Amandas Temperament nicht gerade selten vor, wiewohl sie sich regelmäßig, wenn sie sich dessen bewußt wurde (was nicht immer geschah) »furchtbar« darüber schämte. Hier hatte sie nun doppelten Grund dazu: – daß auch gerade ein orientalischer Minister sie so antreffen müsse!

Ihr Gesicht, das schon durch die Stellung und das erregte Suchen nicht gerade eine gleichmäßige orientalische Blässe angenommen hatte, glühte doppelt von den aufsteigenden Blutwellen der Verlegenheit, als sie sich vor diesem Minister tief verneigte, mit dem Bewußtsein, daß er, der – wie sie aus den Worten ihres Vaters entnommen – ein Bewunderer der Rani war, sie jetzt ganz besonders »schrecklich« finden müsse. Das schien indessen nicht der Fall zu sein, oder er müßte sich als völliger alter Hofmann sehr gut verstellen können – so gut in der Tat, daß man darauf hätte schwören mögen, der greise Inder fände die Germanenjungfrau in diesem Zustand tiefster Verwirrung besonders liebreizend. Wenn Kala Rama auch immer Amanda mit ausgesprochenem Wohlwollen, ja mit Zärtlichkeit begegnete, so war sein Wesen doch von einer eigenen Herzlichkeit geprägt, als er nun ihre Hände zwischen den seinen drückte und bezeugte, wie froh er darüber sei, daß sie offenbar das indische Klima so gut vertrüge; worauf er huldreich den Gelehrten wegen der Unordnung des Studierzimmers beruhigte: der Professor Sahib möge ihn hier doch nicht als den Minister, sondern als den Scholar betrachten.

– Ei, was ist denn das für ein herrliches Stück? fragte Amanda, die jetzt einen kunstvoll geschnitzten, elfenbeinernen Schrein entdeckte, den Kala Ramas Diener mitten auf den Tisch gestellt hatte.

– Ja, das glaub' ich, daß du danach fragst, rief der Vater seelenvergnügt. Und doch ist dies Wunderwerk nur eine Hülle für etwas viel Kostbareres: denke dir, Seine Exzellenz hat mir ein Manuskript geschenkt, das eine uralte Sage aus der Familienchronik seines Hauses enthält.

– Wenn Ihnen nur das Manuskript keine Enttäuschung bereitet, mein lieber Professor Sahib, sagte Kala Rama mit dem ihm eigentümlichen launigen Lächeln, indem er dem Indologen den kleinen Schlüssel überreichte.

Mit einer vor Erregung zitternden Hand öffnete Professor Eichstädt den Schrein. Das Manuskript, das er herausnahm, war freilich nicht, wie er erwartet hatte, ein Palmblattstoß: es war auf starkem englischem Postpapier, mit geduldiger Hand – jeder Buchstabe wie gestochen – in englischer Sprache geschrieben.

– Aber Exzellenz, das ist ja Ihre eigene Handschrift!

– Ich gestehe meine Schuld! Allerdings habe ich diese alte Familientradition selbst niedergeschrieben und zwar auf Englisch, als eine gute Übung für meine Mußestunden; doch habe ich nichts erfunden, ja kaum einen Zug hinzugefügt, der nicht schon in unseren alten Niederschriften von dieser Tradition sich findet. Nur die Darstellungsart dürfte von dem Geiste der abendländischen Sprache etwas angehaucht worden sein.

– Aber das ist ja noch interessanter! Eine Handschrift, ja ein geistiges Produkt Kala Ramas, wer kann sich eines solchen Besitztums rühmen? Wie soll ich Eurer Exzellenz für eine solche beispiellose Auszeichnung danken? stammelte der Indologe, dem es schwer genug fiel, seine Enttäuschung über dies quid pro quo ganz zu verbergen.

– Durch Nachsicht, mein lieber Professor und meine liebe Memsahib, – der ich sogar zutraue, eine noch strengere Richterin in solchen Sachen zu sein, als der Professor selbst.

Amanda schlug vor dem neckischen Blick ihres Vaters die Augen verschämt nieder.

– Aha, lachte der Indologe, man sollte wahrlich glauben, daß seine Exzellenz zugehört hätte, wie du vorhin die Gedichte Sir Edmunds verrissen hast. Aber wenn ich den Geschmack meiner Tochter recht kenne, werden Exzellenz sich durch Ihre Autorschaft kaum irgendeinen Tadel von den Lippen meiner Amanda zuziehen können.

– Nun, dann wäre ich gar nicht abgeneigt, sofort die Probe zu machen, und Ihnen etwas davon vorzulesen, sagte Kala Rama, indem er sich vorbeugte und den ersten Bogen des Manuskriptes zur Hand nahm.

Freudig bedankten Vater und Tochter sich für das unerwartete Anerbieten und nahmen erwartungsvoll auf der Bank Platz –

Amanda mit etwas mehr als literarischer Erwartung; denn es wollte sie bedünken, als ob Kala Rama nicht etwa einer plötzlich auftauchenden Lust, seine eigene Sache vorzutragen, nachgäbe, sondern vielmehr eine ganz bestimmte Absicht verfolge, die es ihm wünschenswert erscheinen ließ, daß sie beide so bald wie möglich mit dem Inhalt dieses Manuskriptes bekannt würden.

Zurückgelehnt in den Bambussessel fing Kala Rama an, mit seiner klaren, vollen Stimme seine Niederschrift der Schlangensteinsage vorzulesen.


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