Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Compson Grice Michael, oder vielmehr Fleur telephonierte, denn Michael war nicht zu Hause, klang seine Stimme gepreßt.
«Kann ich ihm irgend etwas bestellen, Mr. Grice?»
«Im Auftrag Ihres Mannes sollte ich mich über Deserts Pläne orientieren. Soeben war Desert bei mir und ließ durchblicken, er wolle wieder ins Ausland; aber – eh – sein Aussehn gefiel mir nicht und seine Hand fühlte sich fiebrig an.»
«Er hatte Malaria.»
«Ach so! Da fällt mir übrigens ein, ich sende Ihnen ein Buch jenes Franzosen aus Kanada, es wird Ihnen bestimmt gefallen.»
«Besten Dank, Mr. Grice. Wenn Michael nach Hause kommt, bestell ich ihm Ihre Botschaft.»
Fleur stand nachdenklich da. Sollte sie es Dinny sagen? Ohne Michael wollte sie es nicht und er hatte jetzt so viel im Parlament zu tun, daß er vielleicht nicht zum Dinner heimkam. Einen so auf die Folter zu spannen, das sah Wilfrid ähnlich! Immer wieder hatte sie das Gefühl, sie kenne ihn besser, als Dinny und Michael ihn kannten. Die beiden waren fest überzeugt, er habe im Grund ein goldenes Herz. Nun, sie, die er einst so leidenschaftlich geliebt, hielt dieses Gold für Blech. ‹Gewiß darum›, dachte sie ziemlich bitter, ‹weil ich niedriger denke als die beiden.› Die Menschen schätzten doch die andern stets nach ihrem eignen Werte ein. Und es fiel ihr schwer, einen Mann hoch einzuschätzen, dessen Geliebte sie nicht geworden und der darum in die weite Welt geflohen war. Michael hatte ja immer Sympathien für die absonderlichsten Leute; aber Dinny – Dinny war ihr wirklich ein Rätsel.
Sie wandte sich wieder den Briefen zu, die sie eben geschrieben, ungemein wichtige Briefe, denn sie sollten die vornehmsten Leute und hellsten Köpfe für den Empfang einiger hochgeborner indischer Damen zusammentrommeln, die zu den politischen Verhandlungen herübergekommen waren. Sie hatte ihre Arbeit fast beendet, als Michael sie telephonisch fragte, ob Compson Grice eine Botschaft hinterlassen habe. Sie teilte ihm alles mit und fragte dann:
«Kommst du zum Dinner zurück? … Bravo! Ich habe geradezu Angst vor dem Essen zu zweit mit Dinny; sie gibt sich so unerhört heiter, mir gruselt dabei. Sie mag andere nicht quälen und so weiter, natürlich; aber wenn sie ihre Gefühle offener zeigte, würde sie uns viel weniger Sorge machen … Onkel Conway! … Komisch, die ganze Familie wünscht jetzt offenbar genau das Gegenteil von früher. Vermutlich, weil alle sehn, wie sie leidet … Ja, sie fuhr mit Kit zum ‹runden Teich› im Kensington-Park, ließ dort Kits Boot schwimmen; Dandy und das Boot sandten sie im Wagen zurück und gingen zu Fuß nach Haus … Einverstanden, lieber Junge. Acht Uhr; sei möglichst pünktlich … Ah, Kit und Dinny sind schon hier. Leb wohl!»
Kit kam ins Zimmer. Sein Gesicht war sonngebräunt, seine Augen leuchteten so blau wie sein Sweater, die kurzen Hosen waren dunkelblau; die Strümpfe ließen die Knie frei, er trug wasserdichte braune Schuhe; sein blonder Kopf war unbedeckt.
«Tante Dinny hat sich hingelegt. Sie mußte sich ins Gras setzen. Sie sagt, es wird ihr bald gut sein. Glaubst du, daß sie Masern kriegt? Mutti, ich hab doch schon Masern gehabt, wenn sie insoliert wird, kann ich sie trotzdem besuchen. Wir sahen einen Mann, der hat sie so erschreckt.»
«Was für einen Mann?»
«Er kam uns nicht in die Nähe, ein großer Mann; er trug den Hut in der Hand, und als er uns sah, lief er auf und davon.»
«Wieso weißt du, daß er euch sah?»
«Oh, weil er so rannte wie Kinder auf einem Roller.»
«War das im Park?»
«Ja.»
«In welchem?»
«Im Green-Park.»
«War er schlank und im Gesicht braun?»
«Ja; kennst du ihn auch, Mutti?»
«Wieso ‹auch›, Kit? Kannte ihn Tante Dinny?»
« Ich glaub schon; sie rief ‹Oh›, ganz so wie ich, und fuhr dann mit der Hand da her. Und dann sah sie ihm nach; und dann setzte sie sich ins Gras. Ich fächelte ihr mit ihrem Schal Luft zu. Ich hab Tante Dinny heb. Hat sie einen Mann?»
«Nein.»
Als Kit in sein Zimmer gegangen war, ließ sich Fleur die Sache durch den Kopf gehn. Dinny mußte doch gewußt haben, daß Kit alles erzählen würde. Fleur entschloß sich, nur eine Botschaft und etwas Riechsalz hinaufzuschicken.
Dinny ließ ihr sagen: ‹Bis zum Abendessen werd ich wieder ganz munter sein.›
Vor der Mahlzeit aber kam eine zweite Botschaft, daß sie sich noch immer ziemlich schwach fühlte; sie möchte am liebsten zu Bett gehn und sich gründlich ausschlafen.
So saßen Michael und Fleur allein bei Tisch.
«Natürlich war es Wilfrid.»
Michael nickte.
«Wenn er nur schon fort wäre! Das Ganze ist so gräßlich! Entsinnst du dich der Stelle bei Turgenjew, wie Litwinow dem Rauch des Zuges nachsieht, der sich über den Feldern kräuselt und langsam zerfließt?»
«Nein. Warum?»
«Dinnys Tränen zerfließen auch so im Rauch.»
«Ja», erwiderte Fleur mit zusammengepreßten Lippen. «Aber das Feuer brennt bald nieder.»
«Und was läßt es zurück?»
«So ziemlich die alte.»
Michael faßte seine Tischgenossin scharf ins Auge. Sie betrachtete den Bissen Fisch an ihrer Gabel. Mit hartem Lächeln, das nicht von ihren Lippen wich, führte sie ihn zum Mund und begann zu kauen, als würge sie entschlossen ihre eigene Erfahrung hinunter. ‹So ziemlich die alte.› Sie freilich war so hübsch geblieben wie zuvor, nur etwas stärker geworden, als wollte sie, der Mode entsprechend, wieder mehr die weibliche Note betonen. Er wandte den Blick von ihr, denn es wurmte ihn noch immer, wenn ihm jene Geschichte vor vier Jahren in den Sinn kam, von der er so wenig gewußt, so viel vermutet und kein Wort gesprochen hatte. Rauch! Brannte jede menschliche Leidenschaft nieder und zog wie blauer Dunst über die Felder, der einen Augenblick die Sonne verdunkelt, Halme und Bäume verschleiert, dann zerfließt und dem klaren, nüchternen Tage weicht? War dann nicht alles wieder wie zuvor? Nicht ganz! Denn Rauch war verbrannte Materie, und wo Feuer gewütet hatte, war alles verwandelt. Dinny würde nie mehr so sein, wie er sie von Kind auf gekannt, sie wurde jetzt zweifellos anders, vielleicht härter, herber, noch feinfühliger, noch zarter oder müder. Er sagte:
«Um neun Uhr muß ich wieder im Parlament sein, bei der Rede des Kanzlers. Warum man bei seiner Rede dabei sein muß, weiß ich nicht, aber man ist eben dabei.»
«Warum man überhaupt bei diesen Reden dabei sein muß, wird immer ein Geheimnis bleiben. Hast du je erlebt, daß irgendein Abgeordneter durch seine Rede jemanden umgestimmt hätte?»
«Nein», erwiderte Michael mit mattem Lächeln, «aber der Mensch hofft, solang er lebt. Tag für Tag sitzen wir dort und schwatzen über irgendeine gottverlaßne Maßnahme, danach wird abgestimmt mit genau demselben Resultat, als hätten wir sofort nach den beiden ersten Reden abgestimmt. Und so geht's schon seit Jahrhunderten.»
«Wie die Alten sungen!» meinte Fleur. «Kit glaubt, Dinny bekommt Masern. Er hat sich auch erkundigt, ob sie einen Gatten hat … Coaker, den Kaffee, bitte. Mr. Mont muß fort.»
Als Michael ihr einen Kuß gegeben und gegangen war, begab sich Fleur zu den Kindern hinauf. Catherine hatte den gesündesten Schlaf. Es war ein Vergnügen, das hübsche Kind zu betrachten. Ihr Haar würde später wohl Fleurs eigenem gleichen, und von den Augen wußte man noch nicht, würden sie grau oder haselnußbraun werden – hoffentlich eisgrün. Eine der kleinen Fäuste preßte sie an die Wange und atmete leise wie eine Blume. Fleur nickte dem Kindermädchen zu und öffnete die Tür zum zweiten Zimmer. Kit zu wecken war gefährlich. Er würde Keks verlangen, wahrscheinlich auch Milch, mit ihr noch plaudern oder sich vorlesen lassen wollen. Doch das leise Knarren der Tür weckte ihn nicht. Seinen blonden Kopf hatte er energisch ins Kissen gewühlt, unter dem der Lauf einer Pistole hervorsah. Es war heiß, er hatte die Decke fortgestrampelt, so daß beim matten Schein der Nachtlampe seine Gestalt im blauen Pyjama bis an die Knie zu sehn war. Seine sonngebräunte Haut sah gesund aus; er hatte ein Forsyte-Kinn. Fleur trat nah zum Bett und blieb stehn. Entzückend war er, wie er so schlafend dalag, scheinbar fest entschlossen, mit den Gebilden seiner immer lebhafter arbeitenden Phantasie den Kampf aufzunehmen. Mit den Fingerspitzen ergriff sie die Decke und breitete sie sacht über ihn; dann trat sie, die Hände an den Hüften, vom Bett zurück und zog eine Braue hoch. Jetzt war er im schönsten Alter, noch zwei Jahre lang, bis er zur Schule ging. Noch wußte er nichts vom Sexuellen. Alle waren gütig zu ihm, alles Erleben ein Abenteuer aus seinen Büchern. Bücher! Michaels alte Bücher, ihre eigenen und die wenigen, die man seither für Kinder geschaffen. Ja, er verlebte jetzt die herrlichsten Tage! Rasch glitt ihr Blick durch den dämmrigen Raum. Flinte und Säbel lagen auf einem Stuhl bereit. Man setzte sich für Abrüstung ein und bewaffnete die Kinder bis an die Zähne! Seine andern Spielsachen, meist technische, befanden sich gewiß im Schulzimmer. Nein, dort auf dem Fensterbrett stand das Boot, das er mit Dinny erprobt hatte, noch mit gehißten Segeln. Und auf einem Kissen in der Ecke lag Dandy, der silbergraue Hund, er hatte Fleur wohl bemerkt, schien aber zu bequem, um aufzustehn. Er wedelte nur leise mit dem seidigen Schwanz zum Gruß. Um diesen wundervollen Frieden nicht zu stören, warf sie beiden eine Kußhand zu und schlich zur Tür hinaus. Sie sah nach Catherines Wimpern, nickte dem Kindermädchen wieder zu und verließ den Raum. Auf Zehenspitzen ging sie die Treppe hinab und kam zu Dinnys Zimmer, das über ihrem eignen lag. War es nicht herzlos, so vorbeizugehn? Sollte sie nicht für einen Augenblick hineinschaun und fragen, ob sie etwas brauche? Sie trat auf die Tür zu. Erst halb zehn! Dinny schlief gewiß noch nicht. Wahrscheinlich konnte sie heut überhaupt nicht schlafen. Entsetzlicher Gedanke, daß sie still und unglücklich da drin lag! Vielleicht war es ihr ein Trost, ein wenig zu plaudern, eine Ablenkung! Fleur hob die Hand, um zu klopfen, da vernahm sie einen Laut, erstickt zwar, doch nicht zu verkennen – wie wenn jemand in die Kissen schluchzt. Fleur stand wie versteinert da. Seit fast vier Jahren, als sie selbst so geweint, hatte sie diesen Laut nicht mehr gehört! Mit aller Macht kam die Erinnerung zurück, sie fühlte sich fast krank – ein gräßlicher, aber heiliger Laut. Nicht um alles in der Welt ginge sie jetzt hinein! Die Hände an die Ohren gepreßt, schlich sie zur Treppe zurück und eilte hinab. Um diesem peinigenden Laut zu entrinnen, nahm sie zum Radio Zuflucht. Man sang den zweiten Akt von ‹Madame Butterfly›. Sofort drehte sie ab und nahm wieder an ihrem Schreibtisch Platz. Hastig schrieb sie eine Art Formel nieder: ‹Es wäre ein großes Vergnügen, wenn – und so weiter – Sie sich zum Empfang dieser reizenden indischen Damen einfinden wollten, die – und so weiter – Ihre und so weiter – Fleur Mont.› Ein ums andre Mal schrieb sie es hin, und dabei klang ihr fortwährend jenes Schluchzen im Ohr! Schwül war es heut nacht! Sie schob den Vorhang zurück und stieß das Fenster weiter auf, um die Luft von draußen hereinzulassen. Wie feindselig war doch das Leben! Voll stummer Drohungen und kleiner Ärgernisse. Ging man auf das Leben zu und packte das Biest an den Hörnern, dann ließ es sich vielleicht für den Augenblick bändigen; doch bald holte es zu einem tückischen Stoß aus. Halb elf! Was hatten die heute nur so lang im Parlament zu schwatzen? Über irgendeine Steuer von einem halben oder ganzen Groschen! Sie schloß das Fenster, zog den Vorhang wieder zu, machte die Briefe frei und sah sich nicht einmal im Zimmer um, ehe sie es verließ und hinaufging. Da – plötzlich – eine Erinnerung – Wilfrids Antlitz draußen, ganz nah dem Fenster, in der Nacht, da er vor ihr in den Orient floh! War er am Ende jetzt wieder da? Schlich er zum zweiten Mal in seinem abenteuerlichen Leben wie ein Gespenst vor diese Fenster, suchte heut nicht sie, sondern Dinny? Fleur drehte das Licht ab, tastete sich zu den Vorhängen, zog sie ganz wenig auseinander und lugte hinaus. Nichts als das blasse Licht der Straßenlampen.
Unwillig ließ sie den Vorhang fallen und schritt hinauf. Vor ihrem hohen Spiegel blieb sie einen Augenblick lauschend stehn, dann aber vermied sie es ängstlich, weiter zu horchen. Ja, so war das Leben! Vor allem Peinlichen schloß man Aug und Ohr – wenn man es fertig brachte. Und wer konnte das tadeln? Noch blieb ja genug, dem man nicht entrinnen konnte, wenn man auch Aug und Ohr noch so fest schloß. Sie ging eben zu Bett, als Michael heimkam. Sie erzählte ihm von dem Schluchzen, da blieb auch er lauschend stehn; aber durch die festgezimmerte Decke drang kein Laut. Er ging in seinen Ankleideraum, kehrte bald darauf zurück, in einem blauen Schlafrock mit gesticktem Kragen und Manschetten, einem Geschenk Fleurs, und begann auf- und abzuwandern.
«Geh schlafen», sagte Fleur, «da nützt ja doch nichts.»
Im Bett sprachen sie noch miteinander, dann schlief Michael ein. Fleur lag wach. Vom Parlamentsturm schlug es zwölf. Die Geräusche der Stadt drangen gedämpft ins Zimmer, aber im Haus war es ganz still. Nur hin und wieder krachte leise ein Brett des Parkettbodens, das sich wieder zurechtbog, befreit von der Last der Schritte während des Tags. Tiefe Stille, nur Michaels leises Atemholen und das Raunen ihrer eigenen Gedanken. Vom Zimmer droben kein Laut. Sie begann Reisepläne für die Parlamentsferien zu schmieden. Schottland und Cornwall kamen in Frage; sie selbst wollte für mindestens einen Monat an die Riviera. Ganz sonnverbrannt mußte sie zurückkommen, noch nie war sie ordentlich braun gewesen! Bei Mademoiselle und Nanny waren die Kinder gut aufgehoben. Was war das? Das Schließen einer Tür. Ganz deutlich das Knarren der Treppe! Sie berührte Michael.
«Ja?»
«Horch!»
Wieder das leise Knarren.
«Über uns war es zuerst», flüsterte Fleur, «sieh doch nach.»
Er stieg aus dem Bett, zog sich Schlafrock und Pantoffeln an, öffnete leise die Tür und sah hinaus. Auf dem Treppenabsatz stand niemand, aber in der Halle regte sich etwas! Er glitt die Treppe hinab.
An der Haustür sah er eine dunkle Gestalt und fragte sanft:
«Bist du es, Dinny?»
«Ja.»
Michael trat näher. Dinnys Gestalt wich von der Haustür zurück, er fand sie bei dem Kleidersarkophag sitzen. Er nahm nur aus, daß sie die Hand hob, um Kopf und Gesicht mit ihrem Schal zu bergen.
«Kann ich dir etwas besorgen?»
«Nein. Ich wollte bloß frische Luft schöpfen.»
Michael unterließ es, das Licht anzudrehn. Er trat im Dunkel auf sie zu und streichelte ihren Arm.
«Ich dachte, ihr würdet mich nicht hören», sagte Dinny. «Nun hab ich euch doch gestört, verzeih.»
Durfte er von ihrem Kummer sprechen? Würde sie ihn hassen oder ihm dankbar sein?
«Macht nichts, meine Liebe, wenn es dir nur gut tut», sagte er.
«Zu dumm von mir! Ich geh hinauf.»
Michael legte den Arm um sie; er fühlte, sie war noch in den Kleidern. Plötzlich wurde ihr Körper schlaff, lehnte sich an ihn, die Hand hielt noch immer den Schal, der Gesicht und Kopf verhüllte. Er wiegte sie ganz sanft – hin und her. Ihr Körper glitt nach vorn, bis ihr Kopf an seiner Schulter ruhte. Michael regte sich nicht mehr, atmete kaum noch. Mochte sie hier ausruhn, solang sie nur wollte!